KAPITEL 5
ERWACHEN

An dem Tag, als Jack London zum ersten Mal starb, kam ohne Vorwarnung der Schnee.

Es war bei einem seiner Spaziergänge. Sie waren nun schon seit fast zwölf Wochen in der Hütte, und es hatte sich eine gewisse Routine entwickelt. Morgens gingen Jim und Merritt jagen, während Jack sich um die Hütte kümmerte. Er kochte, was auch immer sie gefangen hatten, und wenn sie nichts gefangen hatten, bereitete er eine Mahlzeit aus ihrem schwindenden Proviant zu. Dann unterhielten sie sich bei einer Tasse Kaffee, ehe Jack zu seinem täglichen Spaziergang aufbrach. Die beiden fragten ihn selten danach, was er tat oder wohin er ging, und Jack sagte es ihnen auch nie.

Doch unter dieser Routine lag die wachsende Gewissheit verborgen, dass sie alle sterben würden. Ihr Proviant reichte nicht mehr weit, und wenn sie einige Tage lang nichts erlegt hatten, wurden sie immer schwächer. Je schwächer sie wurden, desto weniger konnten sie jagen. Die Kälte setzte ihnen mehr zu. Die Dunkelheit wurde ihnen unheimlich. Wenn Jack seinen Freunden in die Augen sah, erkannte er diese Gewissheit, die wie eine Last über ihnen hing, wenn sie sich unterhielten.

Er kämpfte gegen das Gefühl an, doch die Tatsache, dass er seine Furcht zur Kenntnis nahm, schien seinen Beobachter in der Wildnis näherzubringen. Er suchte nach Spuren im Schnee und horchte nach fernem Heulen. Ein Todesschrei in der großen weißen Stille.

Er war den Hügel hinaufgestiegen. Hoch oben, außer Sichtweite der Hütte, hatte er eine Weile im Schutz eines umgestürzten Baumes verbracht. Er sah über den großen Fluss im Tal hinweg und versuchte, sich eine Welt ganz ohne Menschen vorzustellen. In dieser Umgebung war das gar nicht so schwer. Aber die tiefe Einsamkeit, die er dabei verspürte, beunruhigte ihn mehr, als er erwartet hatte.

Er dachte an Eliza zu Hause und hoffte, dass John sicher zu ihr heimgekehrt war. Er dachte an seine Mutter und fragte sich, ob sie das Haus noch besaß.

Und dann kam der Schneesturm.

Wie ein Raubtier, das seine hilflose Beute jagte, zog der Sturm stumm über der Kuppe des Hügels auf und warf seine weiße Pracht über dem Tal ab. Als die erste Flocke vor Jack hinabschwebte, blickte er auf und erwartete, dort ein kleines Tier zu sehen, das die Äste des schneebedeckten Baumes über ihm schüttelte. Eine weitere Flocke landete ihm auf der Wange, dann auf der Nase, und schon schneite es wie verrückt.

Zuerst machte er sich keine Sorgen. Um zur Hütte zurückzugelangen, musste er nur direkt bergab laufen, er würde sich also kaum verlaufen. Sie hatten an dem Morgen ordentlich gefrühstückt, also war sein Körper warm und damit beschäftigt, das Kaninchenfleisch zu verdauen. Außerdem hatte er ein Gewehr dabei.

Dann sah er den Schatten im Schneegestöber, der knapp außer Sichtweite weiter oben auf dem Hügel von Baum zu Baum huschte.

Er begann, bergab zu laufen. Der Schnee fiel immer dichter, vollkommen still, nicht vom leisesten Lufthauch gestört. Er sah sich um, doch er konnte jetzt schon kaum mehr als ein Dutzend Schritte weit sehen. Er machte sich weiter auf den Weg bergab und sah sich alle paar Schritte um, um sicherzugehen, dass ihm im Schneetreiben nichts nachstellte. Deshalb bemerkte er den Absturz im Hang erst, als es zu spät war. Der Boden verschwand unter seinen Füßen, und er schien einen Moment lang in der Luft zu schweben. Er spürte gar nicht, wie er fiel. Es war, als trüge ihn der Schnee in die Luft. Doch dann schlug er auf dem Boden auf. Der Schnee fing zwar den Aufprall ab, doch es nahm ihm dennoch den Atem, und er knallte mit dem Kopf gegen einen hervorstehenden Stein.

Er blickte zum Rand des Absturzes über ihm auf, während er schon das Bewusstsein verlor, und nahm gerade noch eine graue Gestalt wahr, die sich vorbeugte und auf ihn hinabstarrte.

Als er aufwachte, wusste er, dass er vor Kälte sterben würde.

Jetzt stirbst du doch noch im Schnee, kalt … und fast ganz allein.

Nein! versuchte er zu sagen, doch seine Lippen waren aneinandergefroren.

Er versuchte, sich zu bewegen, doch seine Arme gehorchten seinen Befehlen nicht. Er sah auf seinen Körper hinab, der begraben war. Er blinzelte rasch, um den Schnee aus seinen Augen zu vertreiben. Seine Wimpern waren schwer vor Schnee.

Nein, versuchte er wieder zu sagen. Sein Mund öffnete sich und Eis rieselte ihm in den Rachen. Seine Mutter war bei ihm. Sie kam aus der stillen weißen Ferne, sichtbar, obwohl der Schnee immer noch genauso dick vom Himmel fiel. Sie sah traurig, aber auch vorwurfsvoll aus, und als sie den Mund aufmachte, wusste er, dass sie ihm für alles die Schuld geben würde.

Dann war der Wolf wieder da, der Tod. Er stand zwischen Jack und der Erscheinung seiner Mutter. Er knurrte und wandte sich ab. Dann verschwand er wieder im Schneesturm und ließ ihn alleine zurück.

Frierend.

Sterbend.

Jack spürte, wie sein Herz langsamer wurde, als würde ihm das Blut in den Adern gefrieren, so wie das Wasser des mächtigen Yukon zum eisigen Stillstand gekommen war. Irgendwo hatte er gelesen, das Gehör sei der letzte Sinn, der einem Sterbenden schwinde. Als er die Augen aufmachte sah er gar nichts, als er einatmete roch er nur Leere.

Gerade als sein Gehör zu schwinden begann, hörte er in der Ferne das wehklagende Heulen eines Wolfes.

Jack erwachte wieder aus dem Nichts, aus einer ganz anderen weißen Stille, mit einem mächtigen Keuchen, als wäre er gerade aus einem schrecklichen Traum erwacht. Ein Schmerz umklammerte seine Brust wie die Faust eines Riesen, die ihn zerquetschte, und ließ dann abrupt locker. Er holte ruckartig Luft, und alle seine Sinne sprangen wieder ins Leben zurück. Mit jedem Atemzug füllte sich seine Nase mit dem Geruch nach Blut, das in seinem Rachen gurgelte.

Er verschluckte sich daran, drehte den Kopf zur Seite und würgte und spuckte.

Blut. Der Eisengeschmack und der volle Fleischgeruch waren unverkennbar. Darunter mischte sich noch der Geruch von tierischer Furcht und Tod. Er spürte seine Hände und Füße nicht mehr – er war gelähmt, ein Gefangener in einem gefrorenen Stück Fleisch, zu dem sein Körper geworden war. Doch allmählich spürte er Wärme seine Seite hinunterlaufen und sich über seine Brust ausbreiten. Hier und da sickerte sie schon durch seine Kleidung hindurch.

Zerfleischt, in Stücke gerissen, ohne zumindest die Würde des Erfrierens …

Dampf stieg von seinem Gesicht und seinem Hals auf. Er schaffte es, den Hals zu recken, und obwohl sein Verstand noch benebelt und träge war, weiteten sich seine Augen. Das Blut, das seine Zunge benetzte und seine Nase füllte, das seinen Hals und seine Brust wärmte, war nicht seins. Sein Herz hatte vielleicht aufgehört zu schlagen. Im Hinterkopf war er sich dessen sogar sicher, doch er hatte keine Ahnung, wie lang und auch nicht auf welche Art und Weise die Kälte dazu beigetragen haben könnte, ihn zu konservieren. Doch der Druck auf seiner Brust kam nicht nur vom Schmerz.

Die Kaninchen waren aufgerissen, und ihre dampfenden Eingeweide über Jack verteilt und an seinen Armen und Beinen entlang aufgehäuft. Sie hatten ihr Blut über ihn ergossen und bedeckten ihn nun mit einem Haufen von totem Fleisch. Es waren nicht nur Kaninchen, sondern auch andere Tiere darunter. Ein paar Eulen, drei Marder und sogar ein zerfetzer Berglöwe lagen an seiner linken Seite. Ein Anflug von Angst und Ekel überkam Jack, und seine Sicht vernebelte sich wieder. Die geringe Kraft, die ihm noch blieb, war jetzt erschöpft. Er schloss die Augen und überließ sich wieder der Ohnmacht.

Der Gestank stieg ihm voll in die Nase, der Geschmack in seiner Kehle ließ ihn etwas würgen. Doch übergeben konnte er sich nicht, denn dafür fehlte ihm die Kraft. In der tiefen, ewigen Düsternis des Yukon-Winters betrachtete er die toten Tiere, die auf ihm und um ihn herum lagen. Diejenigen, die von ihm heruntergefallen waren und im Schnee lagen, waren schon steif gefroren, sodass ihr getrocknetes Blut von Eis durchsetzt war. Sie waren durch frische Beute ersetzt worden. Absichtlich. Ihr Leben war geraubt worden, um ihn zu retten, ihr Blut wärmte ihn und – so schrecklich der Gedanke war – ernährte ihn auch.

Wieder überkam ihn die Dunkelheit, doch diesmal wagte er es nicht, die Augen zu schließen. Wenn er sich nicht bewegte, würde er hier sterben. Das war ihm klar. Hier gab es Fleisch, und im Fleisch war Leben. Man hatte ihm noch eine Chance gegeben. An seiner Hüfte am Gürtel hatte er ein Jagdmesser und einen Feuerstein. Steh auf, Jack. Du musst ein Feuer machen, sonst bist du verloren.

In seiner rechten Hand kribbelte ein bisschen Wärme. Obwohl seine Finger taub waren, meinte er, das Gefühl von Fell auf seiner gefrorenen Haut zu spüren. Mit großer Konzentration versuchte er, seine Hand zu heben, und schaffte es ein wenig, obwohl seine Gliedmaßen so schwer wie Blei waren. Doch zum Überleben würde er mehr brauchen als taube Knüppel aus gefrorenen Fäusten. Also versuchte er, die Finger zu bewegen.

Der Schmerz stach ihm wie Feuer in seinen Adern durch die Hand bis zum Ellbogen hinauf. Jack schrie auf, doch der einzige Laut aus seiner Kehle war ein schwaches Röcheln, wie ein Todesrasseln. Dieses Geräusch machte ihm mehr Angst als alles andere. Was für ein Ende war das für einen Mann, der mit seinem Verstand und seinen Fäusten gelebt hatte, der jede Furcht, die sich in seinem Herzen regte, verbannt hatte? Nein, das war kein passendes Ende für ihn. Jack wollte die Wildnis bezwingen und würde sich jetzt nicht von ihr unterkriegen lassen.

Da hörte er etwas. Ein Zweig raschelte ganz in der Nähe. Er wurde starr.

»Hallo?«, hauchte er. »Ist da jemand?«

Es kam keine Antwort, aber er spürte es, diese vertraute Gegenwart des Wolfblicks. Mit einem tiefen Atemzug legte Jack den Kopf wieder zur Seite, und dort war er. Er stand mit erhobenem Kopf rechts von ihm zwischen den Bäumen und hatte irgendein kleines Pelztier im Maul. Blut befleckte die Brust des Wolfs. Seine Augen leuchteten im rauchig-düsteren Winterabend.

Nicht der Tod, sondern das Leben!

Jack konnte kaum atmen. Früher schien der riesige Wolf ihn aus irgendeiner Geisterwelt heraus anzustarren, aus dem wilden Herzen des Yukons. Nun aber kam er zu ihm getrottet, wobei seine Läufe im Schnee Spuren hinterließen. Seine Mutter hatte von einem Geist gesprochen, der seinen Tod bringen würde, doch Jack hätte auf sein eigenes Herz hören sollen. Dieses Tier hatte ihn nicht nur beobachtet, es beschützte ihn auch. Sie hatte ihm oft von Schutzgeistern erzählt. Und das hier könnte seiner sein.

Doch das graue Tier existierte nicht nur als Erscheinung in seinem Hirn. Der Wolf kam nun zu ihm und ließ das kleine tote Beutetier in den Schnee fallen. Dann hielt er es mit der Pfote fest und riss es mit den Zähnen auf. Das Blut bespritzte das winterliche Weiß. Dann schnappte er es schnell wieder und kam vorsichtig näher. Er hatte zu recht keine Angst vor Jack, denn der war so schwach, dass er sich kaum bewegen oder denken konnte. Das Blut strömte aus dem toten Tier. Jack versuchte, sein Gesicht abzuwenden, sein Magen knurrte vor Hunger und drehte sich zugleich vor Ekel um.

Der Wolf knurrte leise und warnend. Jack blieb still liegen und ließ sich das Blut auf die Lippen, die Nase und den Hals ergießen, doch seinen Mund hielt er fest geschlossen. Was auch immer der Wolf vorhatte, er selbst hatte genug davon, sich vom frischen Blut der Opfer wärmen zu lassen.

Wieder knurrte der Wolf und ließ fast schon aufdringlich den kleinen Kadaver direkt auf Jacks Gesicht fallen. Er schnupperte an Jack, als sauge er seinen Atem in sich auf. Er stupste mit der Schnauze gegen seine Wange, knurrte kurz und zog sich zurück. Auf halbem Weg zu den Bäumen blieb er stehen, warf den Kopf in den Nacken und heulte. Das Geräusch berührte Jack tief, wickelte sich um sein Herz und erfüllte ihn mit Trauer und Niedergeschlagenheit und einer ihm bislang völlig unbekannten Sehnsucht. Der Wolf sah ihn wieder an, als wolle er, dass Jack mit ihm durch die schneebedeckten Wälder laufe. Doch Jack konnte nicht laufen. Er konnte nicht einmal stehen.

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In einem plötzlichen Übergang von der Ruhe zur Bewegung schoss der Wolf zwischen den Bäumen davon und heulte wieder, während er im winterlichen Wald verschwand. Jack horchte solange er konnte, und als das Geheul so weit entfernt war, dass es fast nicht mehr zu hören war, fühlte er sich wieder in die Finsternis gleiten. Er hatte aber nicht mehr die Konzentration sich zu fragen, ob diese Finsternis nur Bewusstlosigkeit oder schon der Tod war.

Es flüsterte im Dunklen. Stimmen. Da eine der Stimmen mehr nach Merritt Sloper als nach dem Heiligen Petrus klang, schloss Jack daraus, dass er immer noch am Leben sein musste. Er versuchte, seine Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht. Seine Lippen standen etwas offen, und er spürte eine Eisschicht auf seinem mehrere Wochen alten Bart. Er musste mit der Zunge fühlen, um die Öffnung zu finden, die sein Atem in der Eismaske frei gehalten hatte.

»Er atmet. Ich sagte doch, er atmet noch«, meinte eine der Stimmen.

Jim, dachte Jack. Goodman. Guter Mann. Jim Goodman. Innerlich lächelte er, doch die Muskeln in seinem Gesicht machten nicht mit.

»Er hat bestimmt Frostbeulen«, erwiderte Merritt. »Wenn er es überhaupt überlebt.«

»Der überlebt schon«, entgegnete Jim. »Sieh ihn dir an. Irgendjemand hat ihn am Leben gehalten. Ein Einsiedler oder Indianer vielleicht.«

»Sieh dich um. Siehst du irgendwo Fußspuren?«

»Nur Wolfsspuren. Moment mal … denkst du, ein Wolf hat das gemacht? Diese ganzen Tiere gefangen und das Fleisch hier gelassen? Bei allem Respekt, Merritt, so ein Verhalten wäre für einen Wolf ganz und gar wesensfremd. Das entspricht einfach nicht seiner Natur …«

Ihrem kleinen Zanken zuzuhören, wärmte Jack. Einer von ihnen ging neben ihm in die Knie, und einen Moment später, als er die Stimme hörte, wusste er, dass es Merritt war.

»Natürlich ist da überhaupt nichts dran«, sprach der Große. »Und jetzt hilf mir, Jim. Wir müssen ihn zur Hütte ans Feuer bringen, sonst können ihn nicht mal die Engel im Himmel retten.«

Jack fühlte, wie sein Kopf ein bisschen wackelte, doch es dauerte eine Weile, bis er Merritts Finger in seinem Gesicht spürte. Der Mann hatte seine Hände auf Jacks Wangen gelegt, um sie zu wärmen. Die Wärme der Hände seines Freundes schoss Jack durch die Backen wie Nadelstiche, und etwas Gefühl kehrte zurück.

Er hörte, wie Merritt sich in die Hände pustete, ehe er die Prozedur wiederholte.

»Jim! Mensch, komm schon!«, drängte Merritt.

Doch Jim zögerte noch. »Es sieht aus wie … wie ein Blutbad. Was auch immer über ihn wacht, Engel sind es nicht.«

»Verdammt noch mal, Jim!«, bellte Merritt.

Jack blinzelte, die Eisschicht auf seinen Augenlidern schmolz schon dank Merritts Wärme. Er versuchte, etwas zu sagen. Ihr zankt euch wie zwei alte Hennen, wollte er sagen, aber seine Stimme versagte. Stattdessen brachte er nur ein Stöhnen heraus. Endlich konnte er sie jetzt sehen, auch wenn seine Sicht noch verschwommen war.

»Also gut«, sagte Jim. »Hilf mir, ein paar Äste abzubrechen. Wir werden eine Bahre improvisieren müssen …«

Merritt schnaubte. »Sei nicht albern, der hat schon lang genug hier draußen gelegen.«

Der große Mann kratzte sich das Eis aus seinem kupferroten Bart und zog sich dann wieder die Fäustlinge an. Er bückte sich und begann Jack von dem darunterliegenden Schnee loszueisen, indem er sich mit Händen und Armen unter Jacks festgefrorener, blutsteifer Kleidung entlangarbeitete.

»Merritt. Er hat die Augen auf«, stellte Jim fest.

Merritt erhob sich und blickte mit einem seligen Lächeln auf Jack hinab wie ein gütiger Nikolaus. »Na so was, wirklich. Nur Geduld, Meister London. Bald haben wir Sie wieder richtig aufgewärmt.«

»Sofern man hier draußen von Wärme sprechen kann«, fügte Jim hinzu, doch trotz der Resignation in seiner Stimme war sein Ton keineswegs niedergeschlagen. »Keine Bange, Jack. Du bist nicht allein.«

Nein, dachte Jack, während Merritt ihn aus dem Schnee, Eis und Kadavern hob – die Lebensgaben des Wolfs, die von ihm abfielen. Ganz und gar nicht allein.

Merritt warf sich Jack über die Schulter und stapfte durch den Schnee los. Jeder Schritt versetzte Jack einen Schmerz, als ob seine Knochen aufeinanderknirschten. Sein Verstand vernebelte sich wieder, die Gedanken schossen ihm wie eine erlöschende Kerzenflamme durch den Kopf und gingen aus. Die Stimmen seiner Freunde waren nur noch ein tröstendes Summen, das ihn ins Dunkel begleitete. In der Ferne meinte er ein einsames Heulen zu hören. Doch vielleicht war es auch nur der Wind.

Jack erzählte später immer, dass Merritt und Jim ihm das Leben gerettet hätten – oder, wenn er in poetischer Stimmung war, dass das Feuer ihm das Leben wieder eingehaucht hätte, sodass er sich vorkam wie Prometheus, als der zum ersten Mal Hitze spürte. Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass seine Freunde zu spät gekommen wären, wenn der Wolf ihn nicht mit Blut und Wärme versorgt hätte. Jim und Merritt wussten das ebenso wie er, aber keiner redete gern darüber, auch als viele Tage vergangen waren.

Die beiden Männer waren sehr bemüht um ihren jüngeren Gefährten. Sie wärmten ihn nicht nur am Feuer und wickelten ihn in trockene Kleider und Decken, sie massierten ihm auch die Gliedmaßen, um die Durchblutung wieder anzuregen. Wie durch ein Wunder verlor Jack durch die Frostbeulen nur eine Zehenspitze am linken Fuß, die ihm Merritt mit einem kleinen Gemüsemesser entfernte.

Natürlich hatten sie Fragen, manche davon sprachen sie auch aus – und Jack antwortete so einfach wie möglich, darunter die kurze Geschichte, wie er stürzte und bewusstlos in der Kälte liegen geblieben war – andere Fragen blieben unausgesprochen. Oft tauschten Merritt und Jim Blicke, wenn das Thema aufkam, als würden sie sich beide hüten, sich zu weit vorzuwagen und dann nicht mehr zurückzukönnen.

Als er sich nach etlichen Tagen erholt hatte, ernährt von getrocknetem Rindfleisch, Dosenbohnen sowie einem kleinen Karnickel, das Jim humpelnd und von irgendeinem Raubtier verletzt vor der Hütte gefunden hatte, stellte Jack schließlich die unausweichliche Frage.

»Wie habt ihr mich gefunden?«

Seine Stimme war immer noch tief und rau und seine Zähne schmerzten. Ihm war klar, dass sie alle drei an den ersten Symptomen von Skorbut litten, und immer noch lag der halbe Winter vor ihnen.

Jim lächelte und warf Merritt einen beunruhigten Blick zu. Seine Brille glänzte im Feuerschein. Er konnte sie nur noch drinnen tragen, denn draußen fror ihm das Metallgestell an der Haut fest, und die Gläser wurden spröde. Er wollte die einzige Brille, die ihm blieb, nicht riskieren, nachdem er seine Zweitbrille an Bord der Umatilla auf der Fahrt von San Francisco kaputt gemacht hatte.

Die beiden Männer saßen auf klobigen Holzstühlen im Vorderzimmer der Hütte, nahe genug am Klondike-Ofen, um ihre Gesichter zu wärmen. Merritt leckte sich über die Lippen in einer Weise, die Jack sagte, dass er sich nach einem Schluck Whisky sehnte. Aber sie hatten keinen. Sie schmolzen Schnee, um Wasser zu bekommen, und machten sich alle paar Tage einen Tee oder Kaffee, um sich die kleinen Freuden, die ihnen blieben, genau einzuteilen. Aber Whisky gab es nicht.

»Ich hab ihn fast abgeknallt, Jack«, erzählte Jim mit einem gehetzten Blick in den Augen, die ins Feuer starrten und in seiner Erinnerung irgendetwas ganz anderes sahen. »Wenn meine Büchse nicht festgefroren gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht umgebracht.«

Doch Merritt schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Den nicht.«

Jim erschauderte, setzte sich aber etwas aufrechter hin, und sein Blick wurde streng. Aberglauben schien ihn zu beleidigen. Er sah sich unruhig um, und seine Hände bewegten sich fahrig, als würden sie etwas suchen. Jack wusste, dass er seine Bibel brauchte, doch die lag wohl im anderen Zimmer neben seinem Schlafplatz, wo er sie gerne zur Hand hatte. Nah an seinem Herzen.

»Sei kein Narr. Ein Wolf ist nur ein Wolf«, entgegnete Jim und belastete damit sein sonst so harmonisches Verhältnis zu seinem Freund.

»Der nicht«, antwortete Merritt finster, und Trotz blitzte in seinen Augen auf. Als Jim nichts erwiderte, wandte sich Merrit an Jack. »Er hat da am Waldrand gesessen, halb zwischen den Bäumen versteckt, und diese Hütte angestarrt – mich angestarrt – genauso wie meine Mutter früher an der Haustür gewartet hat, wenn ich zu spät zum Essen gekommen bin. Dieser Wolf wollte, dass wir aufmerksam werden.«

Jim nickte. »Da gebe ich dir jedenfalls recht. Ein Riesenvieh war das.«

»Irgendwann wurde uns klar, dass wir der Sache nachgehen mussten«, fuhr Merritt fort. »Ich hab das Gewehr mitgenommen und bin zu der Stelle, an der er seit Stunden gewartet hatte, doch vom Wolf keine Spur mehr …«

»Tiefer im Wald verschwunden«, unterbrach Jim.

Merritt wandte den Blick ab, als ob es mehr dazu zu erzählen gab.

»Also seid ihr ihm gefolgt?«, fragte Jack. Seine Finger waren steif und taten weh, seine Beine fühlten sich immer noch wie gefrorene Rinderhälften an. Die Kälte war tief in ihn eingedrungen, und er fühlte sich, als ob ihm nie wieder warm werden würde, egal, wie heiß das Feuer auch wäre.

»Wir sind ihm gefolgt«, wiederholte Jim.

»Nichts dergleichen haben wir getan«, grollte Merritt. Er grummelte entnervt und sah Jack an. »Wenn ich sage, vom Wolf war keine Spur, dann meine ich das auch. Nichts. Keine einzige Spur von ihm, als wenn er gar nicht …«

Er ließ den Satz unvollendet.

Jim sah keinen der beiden an. Er begann stattdessen, seine Brille mit seinem Ärmel zu putzen.

»Wie habt ihr mich dann gefunden?«, fragte Jack und näherte sich Zentimeter um Zentimeter dem Ofen, während er die goldgrünen Flecken in Merritts Augen anstarrte.

»Ein Schatten im Wald, sonst nichts«, antwortete der große Mann. »Jim sagte, es war der Wolf, aber ich habe nichts davon gesehen, außer die Augen und den Schatten. Er lief uns voraus, er wartete, wenn wir hinterherhinkten, und führte uns bald schnurstracks zu dir. Als wir das ganze Blut gesehen haben und all die aufgerissenen Hasen und so, waren wir uns sicher, dass du von einem Bären angefallen worden bist.«

Jim stand auf und klopfte sich den Hosenboden ab. »Es hatte geschneit. Die Spuren waren verdeckt. Der Wolf hat uns zu dir geführt.« Er wandte sich ab und ging weg.

Jack und Merritt wechselten Blicke, sprachen aber nicht mehr davon. Keiner wollte darüber reden.

Die Wochen vergingen. Jacks Rettung schien ein Wendepunkt in ihrem Schicksal zu sein. Ihr Proviant ging zwar immer noch rapide zuneige, doch ihre Jagdzüge hatten öfters Erfolg. Und immer, wenn sie einige Tage ohne Frischfleisch auskommen mussten, fand einer von ihnen in der Nähe der Hütte ein verletztes Kaninchen oder Eichhörnchen, das eine Blutspur hinter sich herzog von der Stelle, an der irgendetwas es verletzt hatte.

Sobald sich Jack gut genug fühlte und die Kälte nicht mehr an seinen Knochen zu nagen schien, nahm er seine täglichen Spaziergänge wieder auf. Diesmal ging er jedoch nicht vom Lager weg, um mit seinem Verfolger Kontakt aufzunehmen. Zu seiner großen Verwirrung, und einer Mischung aus Erleichterung und seltsamer Traurigkeit, hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, stark abgenommen, sodass es nur noch am Rande seiner Wahrnehmung existierte. Wenn der Wolf – das Wesen, das er begonnen hatte, als seinen Schutzgeist anzusehen – immer noch bei ihm war, ließ er sich nicht dazu herab, sich zu zeigen oder anders auf sich aufmerksam zu machen. Hin und wieder hörte Jack zwar Geheul, aber er spürte nicht die Aufregung des Wiedererkennens. Das waren ganz normale Wölfe, die genauso wie Jack, Merritt und Jim versuchten, die weiße Stille zu überleben.

An manchen Tagen ging er an die Stelle, an der seine Freunde ihn gefunden hatten – die schneebedeckte Stelle, bei der Jack sich sicher war, dort tatsächlich gestorben zu sein, wenn auch nur für einige Minuten. Doch davon war keine Spur mehr zu sehen. Der Neuschnee hatte schon lange die tiefroten Blutflecken bedeckt, und obwohl er mehrmals versuchte, die toten Kaninchen, Hasen oder Marder auszugraben, indem er mit dem Stiefelabsatz durch den Schnee pflügte, kam niemals auch nur ein Knochen zum Vorschein. Merritt und Jim waren viel zu abergläubisch, um das Fleisch dieser Tiere zu berühren, und daher wusste Jack, dass seine Gefährten die Kadaver nicht entfernt hatten. Doch die Stelle schien unberührt, als wenn sie jemand gereinigt hätte. Wenn die anderen ihn nicht dort gefunden und die toten Tiere mit eigenen Augen gesehen hätten, hätte er denken müssen, dass sein Verstand dem langen Winter zum Opfer gefallen war.

Erst Wochen und Monate nach jenem Tag wurde seine tägliche Routine eher zur sportlichen Betätigung. Er zwang seinen Körper zur Bewegung, um sich fit zu halten, obwohl sie alle durch den schwindenden Proviant schwächer geworden waren. Heute, an dem Tag, den sie für den ersten April hielten, wackelten seine Zähne, durch Skorbut gelockert. Er war froh, dass sie keinen Spiegel hatten. Wenn er genauso ausgezehrt war wie seine Gefährten und sein Zahnfleisch genauso schwarz war wie ihres, wollte er das lieber nicht sehen.

Der Frühling konnte nicht mehr weit sein, doch immer noch herrschte die weiße Stille. Der Schnee und das Eis machten es ihm unmöglich, sich vorzustellen, die Erde könne je wieder erblühen, die Sonne wieder wärmen und der Fluss wieder fließen. Die vergangenen Wochen hatten Besucher an die Hütte gebracht, die vom Rauch angelockt wurden und bereit waren, weite Ausflüge von ihren eigenen Winterlagern zu unternehmen, nun da die Kälte nicht ganz so wehtat und auch ihr Proviant zur Neige ging. Trapper, Goldgräber und sogar Indianer besuchten sie und hofften auf ein wenig von allem, was ihnen ausgegangen war. Jack und seine Gefährten konnten ihnen zwar kaum mehr als eine Tasse dünnen Tee und etwas freundliche Unterhaltung bieten, doch erstaunlicherweise schien das den meisten zu reichen. Es waren Veteranen des Yukons, des Goldfiebers und der Wildnis, die voller Geschichten steckten. Und wenn Jack sie mit seinen Geschichten vom Leben als Austernpirat und Landstreicher unterhielt, teilten sie auch ihre Erfahrungen mit. Diese Geschichten bewahrte er gierig auf wie ein Geizhals seine Groschen, nur um sie später wieder hervorzukramen und zu bestaunen.

Geschichten lagen Jack London im Blut. Abenteuergeschichten ernährten ihn, wenn es anderweitig an Nahrung fehlte. Und nun hatte er selber eine Wahnsinnsgeschichte zu erzählen und wollte nur noch überleben, um die nächste Geschichte zu erleben.

Solche Gedanken spukten ihm durch den Kopf, als er an einem Morgen den nur allzu bekannten Weg zur Hütte zurückmarschierte. Es blieb nun immer länger hell, und jedes Mal, wenn die Sonne schien, fühlte er neue Lebensgeister in sich erwachen. Als er um eine Wegbiegung kam und die Hütte auf der Lichtung sah, hörte er Merritt nach ihm brüllen.

»Jack!«, rief der große Kerl. »Jack! Wo steckst du?«

Die Aufregung in seiner Stimme war ansteckend und nicht zu überhören. Irgendetwas war geschehen, irgendeine gute Neuigkeit. Jack fiel nur eine Sache ein, die Merritt so glücklich machen würde. Jack beschleunigte seinen Schritt und stapfte so schnell er konnte den Weg hinauf.

»Merritt?«, rief er, als er zwischen den Bäumen hervor auf die Lichtung stürmte. Er sah sich um und wunderte sich, dass niemand zu sehen war. »Merritt, was ist denn?«

Dann ging die Tür auf und Jim Goodman trat heraus. Er war in einen der Pelzmäntel gehüllt, die sie den Winter über genäht hatten.

»Was brüllt er denn so?«, fragte Jim, als Jack auf ihn zugeeilt kam.

»Keine Ahnung. Ich habe Merritt gehört, aber …«

»Ich bin hier drüben!«, rief Merritt. Beide blickten sich um und sahen ihn um die Ecke geschlendert kommen. Der Winter war für sie alle hart gewesen, doch Merritt war trotz Gewichtsverlust immer noch ein kräftiger, imposanter Mann. Er grinste sie gut gelaunt an. »Lasst uns den letzten guten Kaffee kochen«, schlug Merritt vor. »Wir haben was zu feiern.«

Jack packte Merritt an der Schulter. »Der Fluss?«

Seit Wochen gingen sie täglich abwechselnd zum Fluss, warteten und beteten.

Merritt nickte. »Das Eis bricht auf. Ihr solltet es hören. Es klingt, als ob der ganze Planet auseinanderbricht. Es bewegt sich auch schon, hier und da verschieben sich die Schollen.«

Jack jauchzte laut auf und nahm ihn in die Arme, dann drehte er sich wieder zur Hütte. »Packt eure Sachen, meine Herren! Wir fahren nach Dawson!«

Doch Jim stand immer noch in der Tür der Hütte. Er hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Jack dachte zuerst, ihm sei etwas Schreckliches passiert, irgendein Wahn oder eine Krankheit. Dann hörte er seine sanften, zitternden Atemzüge und das Gebet, das er mit bebender Stimme sprach.

»Ist schon gut, Jim«, sagte Jack und legte ihm ganz fest die Hand auf die Schulter. »Jetzt wird alles gut. Wir haben es geschafft.«

Erst jetzt hob Jim die Augen und sah seine Freunde an. Zuerst lächelte er, dann lachte er, und augenblicklich lachten und jubelten alle drei vor Begeisterung.

Merritt klopfte Jack auf die Schulter. »Also los, Junge. Setz den Kaffee auf. Den haben wir uns verdient!«

Jack tat, wie ihm gesagt worden war, und störte sich auch nicht daran, von Merritt »Junge« genannt zu werden. Noch nie hatte eine Tasse Kaffee so gut geschmeckt.

Die folgenden Tage waren mit die längsten, die Jack je erlebt hatte. Während der Schnee schmolz und die Sonne ihr Gesicht zeigte, erfüllte ihn ein Gefühl der Wiedergeburt – des Wiedererwachens des Lebens, der Bestimmung. Die Welt um ihn herum schien aus dem Schlaf geweckt worden zu sein. Mit dem Rückzug des Winters schwand auch die Aura der Mystik, die das Land bedeckt hatte. Merritts und Jims widersprüchlicher Aberglauben schien sich wie Nebel zu lichten.

Schmelzwasser tropfte von den Bäumen, das wie Diamanten funkelte, wenn die Morgensonne die Landschaft beschien. Die Tage wurden immer länger, und Jack verbrachte den Großteil eines jeden Tages unten am Fluss.

Er stand in sicherer Entfernung vom Ufer weg und hütete sich vor dem Tumult, den die Frühjahrsschmelze verursachte. Als spränge das große Uhrwerk der Welt wieder an, floss der Yukon immer schneller unter dem Eis. Risse bildeten sich, Schollen verschoben sich, und am dritten Tag seiner Uferwache schien sich der ganze Fluss anzuheben und stromabwärts loszustarten.

»Es ist wunderschön«, flüsterte Jim Goodman.

Jack hatte ihn nicht kommen hören. Er war so verzaubert, dass er den Blick nicht losreißen konnte. Das Eis buckelte und barst in Stücke, die einzelnen Teile stießen zusammen und drängelten sich, stetig vorwärtsströmend. Der Fluss ächzte, als ob die Erde sich selbst auseinanderreißen würde.

»Ja, das ist es.«

Über eine Stunde standen die beiden da, dann kam Merritt auch noch hinzu. Alle drei bestaunten überwältigt das Spektakel. Dampf stieg von den schmelzenden Eisbergen auf. Das Toben des Flusses war so gewaltig, dass riesige, weißblau leuchtende Eisklumpen aus dem Wasser aufs verschneite Ufer geschleudert wurden, die dann wieder ins Wasser glitten, als der Schnee unter ihnen schmolz.

Jack erblickte eine dunkle Masse zwischen dem Eis. Er hob die Hand, um seine Augen vor den blendenden Sonnenstrahlen auf dem Eis zu schützen, und starrte sie an. Da erkannte er, was es war: der zerbrochene, zerborstene Rumpf eines kleinen Bootes. Eine hoffnungsvolle Gruppe Goldgräber, die hinter ihnen gewesen war und wohl genau wie sie vom Wintereinbruch erwischt worden war. Doch sie hatten es nicht rechtzeitig geschafft, das Boot aus dem Wasser zu hieven, ehe der zufrierende Fluss es zermalmt hatte.

Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und versuchte zu erkennen, was die zweite Masse neben der ersten im Wasser war. Riesige Eisschollen und andere Dinge trieben den Fluss entlang, darum hielt er das steife, durchnässte Etwas zuerst für einen entwurzelten Baum. Doch dann erkannte er bleiche Finger, einen marmorweißen Arm und begriff, dass die Insassen dieses Bootes es nicht mehr vom Eis geschafft hatten. Der Winter hatte sie solange konserviert, doch nun lieferte der Frühling sie dem Fluss aus.

Jack sah Merritt und Jim an. Sie lächelten und versuchten, sich trotz dem Rauschen des Flusses und Knirschen des Eises zu unterhalten. Seine Freunde hatten den Leichnam nicht bemerkt, und er brachte es nicht übers Herz, sie darauf hinzuweisen. Schließlich war der Frühling gekommen. Für sie zumindest, wenn auch nicht für jeden.

»Kommt, Freunde!«, rief er. »Wir packen unsere Sachen. In ein paar Tagen lassen wir die Yukonschönheit ins Wasser. Auf nach Dawson!«

Meilenweit vor ihnen sahen sie schon flussabwärts die Rauchschwaden aus den Kaminen von Dawson aufsteigen. Jim schöpfte das Wasser aus dem lecken Boot, während Merritt versuchte, ihre Ausrüstung vor der Nässe zu bewahren. Am wichtigsten war ihnen, die Pelzmäntel trocken zu halten, die sie sich über den Winter genäht hatten. Falls sie nass würden, würden die Felle stinken und außerdem entsetzlich schwer werden. Sie hätten sie vielleicht anziehen sollen, aber nun, da es Frühling war, reichten ihre dicken Mäntel und Mützen.

Jack hielt das Steuerruder fest in der Hand, doch die Riemen waren verstaut. Bei der starken Strömung, mit der der tosende Yukon vorantrieb, von der Schneeschmelze angeschwollen, war das Rudern überflüssig geworden. Der Fluss trug sie mit sich wie auf der Kuppe einer Welle. Jack saß mit hoch erhobenem Kopf im Heck, steuert und atmete die kristallklare Luft ein, die für ihn nach Triumph roch. Er hatte vielleicht noch nicht die Wildnis bezwungen, er war vielleicht noch kein Eroberer, aber er hatte überlebt und sie gemeistert.

Als sie um eine Flussbiegung kamen und Dawson vor sich sahen, lachte Jack laut auf. Und Merritt klopfte Jim vor lauter Begeisterung so heftig auf den Rücken, dass der schlaksige Schulmeister fast ins Wasser kippte.

Dawson bot keinen besonders beeindruckenden Anblick. Nach Dyea hatte Jack mehr von diesem neuerdings so sagenumwobenen Ort erwartet als einen Wirrwarr aus Zelten am Ufer und Straßenzügen voller ein- und zweistöckiger, heruntergekommener Holzhäuser, matschigen Straßen und Gossen voller Dreck und Abfall. Wenn überhaupt, dann war Dawson trotz des enormen Ausmaßes noch schäbiger und weniger bedeutend als Dyea. Als er sie auf den halbverfallenen Pier zusteuerte, und seine Freunde nun zu den Rudern griffen, um sie steuern zu helfen, begriff er langsam.

Was auch immer andere dazu sagten, Dawson war gar keine Stadt. Es gab vielleicht Saloons und Spielhallen, Musik und Prostituierte, eine Zeitung, einen Zahnarzt und alle anderen äußeren Anzeichen der Zivilisation. Es gab vielleicht Häuser und hölzerne Gehwege und Banktresore voller Geld. Doch das waren nur Nebenprodukte in der Realität von Dawson. In den kalten Lüften wirbelte der Kaminrauch davon, die Sonne schien herab, Hunde zogen Schlitten voller Waren ausgetretene Spuren entlang, Hunderte von Menschen liefen oder lungerten herum, und alle suchten sie nach Gold, beteten um Gold, bettelten um Gold oder verkauften ihre Körper und Seelen für Gold.

Dawson war gar keine Stadt. Es war ein Goldgräberlager, roh und grimmig und bevölkert von Neid und Gier. Und Hoffnung. Ja, auch das. Das ist ein wilder Ort, dachte Jack. Hier konnten Träume erschaffen oder vernichtet werden, ganz nach dem Mut und Schicksal jedes Einzelnen. Der mutige Mann nimmt sein Schicksal selbst in die Hand.

Das war der Gedanke, der ihm im Kopf widerhallte, während er das Ruder aus dem Wasser holte, ein Seil ergriff und aufs Dock sprang. Merritt und Jim ruderten gegen die Strömung, während Jack die Yukonschönheit festzurrte.

»Los jetzt, Jungs«, meinte Merritt und lud die Felle schon auf den Steg. »Alles ausladen. Die Schönheit sinkt.«

Jack sah, dass er recht hatte. Jim hatte das Schöpfen aufgeben müssen, um rudern zu können, dabei war das Boot zwischen den Planken immer voller gelaufen, und das Wasser sammelte sich am Boden. Wenn keiner es abschöpfte, würde das Boot innerhalb kürzester Zeit auf Grund liegen. Doch Jack machte das nichts aus. Die Yukonschönheit hatte ihre Aufgabe erfüllt.

»Sie hat uns hergebracht«, sagte er zu Merritt und hob ein schweres Bündel auf den Pier. »Das ist, was zählt. Jetzt sind wir dran.«

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