Aus der Ferne hatte Dawson schon schlimm genug ausgesehen. Aus der Nähe – wenn man dann tatsächlich durch die Straßen ging und die Luft dort einatmete – war es noch viel schlimmer, erkannte Jack.
Es war ein wilder, rauer Ort, der nur die falsche Maske der Zivilisation übergestreift hatte. Genau wie die aus groben Brettern zusammengezimmerten Häuser, die hinter extravaganten, bunten Fassaden die Straßen säumten, war die Realität hier trostlos und grau. Diesen Ort sollte es eigentlich gar nicht geben, dachte Jack, und sogar seine neugefundene Begeisterung schien beim Anblick von Dawson zu welken und einzugehen.
Jack und Merritt ließen Jim am Ufer bei ihren Sachen zurück und wagten sich in die Stadt hinein, auf der Suche nach einer Bleibe und einem Lager für ihre Ausrüstung. Der Gestank traf Jack hart: ungeklärtes Abwasser, faulender Abfall, der Mief von Maultieren, die im Freien gehalten wurden. Darunter roch man jedoch das Aroma von gekochtem Essen und verschütteten Getränken, und bei beiden lief ihnen das Wasser im Mund zusammen.
Sie gingen an einem klobigen Schild vorbei, auf dem Front Street gepinselt stand, und sahen vor sich die frühen Auswüchse des Yukon-Goldrausches. Roh gezimmerte Gebäude mit hölzernen Gehwegen davor erhoben sich links und rechts der Straße. Die Vorderseiten der Gebäude versuchten alle, ihre schlampige Bauart zu verbergen. Saloons, Schneider, ein Zahnarzt, Bekleidungsgeschäfte, Märkte, Hotels, eine Wäscherei, eine ganze Stadt war an diesem wilden Fleck entstanden, dessen wahre Lebensader der Fluss war. Doch wo Jack Begeisterung und Aufbruch erwartet hatte, schienen so viele Bewohner von einer seltsamen Antriebslosigkeit erfasst zu sein, dass er schon befürchtete, irgendeine Seuche sei ausgebrochen. Manche der Männer und Frauen in den Straßen hatten einen abwesenden Ausdruck, der durch ihre ausgezehrten, hageren und lang gezogen Gesichter und ihre leeren Augen unterstrichen wurde.
»Was haben die alle nur?«, murmelte Merritt, und Jack konnte die Besorgnis des großen Kerls gut verstehen.
»Keine Ahnung«, antwortete Jack. »Fragen wir sie doch mal.«
»Aber …« Merritt wollte ihn aufhalten, aber Jack war zu schnell.
»Hallo, mein Freund«, sagte er und hielt einen Passanten an der Hand fest. Der Mann war größer als Jack, hatte eine Glatze, die voller Flecken und Schorf war, und ein mächtiger, bis zum Kinn herabhängender Schnurrbart verdeckte seinen Mund. »Was ist hier in Dawson los?« Es war eine merkwürdige Frage, aber Jack fiel keine bessere Formulierung ein.
»In Dawson?«, erwiderte der Mann. Dem Dialekt nach war er aus Neuengland, Jack kannte den New Yorker Zungenschlag gut. »Dawson ist eine Geisterstadt.«
»Sieht aber gar nicht wie eine Geisterstadt aus!«, sagte Jack und versuchte, begeistert zu klingen.
Der Mann blickte von Jack zu Merritt und wieder zurück. »Gerade angekommen? Habt in der Wildnis überwintert, was?«
»Ganz genau«, bestätigte Merritt.
»Ihr wollt hier euren Claim abstecken und euer Gold finden, wie?«
Jack nickte. Der Mann klang jetzt immer höhnischer, was Jack gar nicht gefiel.
Doch dann seufzte der Mann, als ob der Spott ihn zuviel Energie kostete, und seine Augen schienen mit ihm zu seufzen. Sie waren schwach, sah Jack. Fahl. Als ob ihm dieses raue Land sogar die Farbe aus den Augen gebleicht hätte.
»Ich bin nun fast schon sechs Monate hier«, erklärte der Mann. »Hab’s nie weiter geschafft. Was man so hört, ist es auch gar nicht nötig. Gold? Es gibt ein bisschen davon, ja. Aber schon länger keine neuen Funde. Dawson ist also nur die Endstation für die Schwachen, die bleiben dann hier hängen. Die Starken kehren um und fahren wieder heim.«
»Wir sind aber nicht den ganzen Weg hergekommen, um wieder umzukehren«, entgegnete Jack mit wachsendem Zorn. »Wir haben das doch nicht alles durchgemacht, um …«
»Ach, du denkst, du hast was durchgemacht?«, der Mann senkte seine Stimme und beugte sich zu ihm. »Das ist gar nichts gegen das, was du hier findest oder was danach kommt. Da gibt es Geschichten, sag ich dir …«
»Hör mal«, sagte Jack und trat einen Schritt auf ihn zu. Er spürte den Zorn in sich aufsteigen, seine Fäuste ballten sich, und ein paar Köpfe drehten sich nach ihnen um. Doch niemand schien sich wirklich Sorgen zu machen oder sich überhaupt dafür zu interessieren, und er fragte sich, wie viele Prügeleien die Leute in Dawson jeden Tag auf der Straße sahen.
»Komm schon, Jack«, sagte Merritt und packte ihn am Arm.
»Ja, klar«, antwortete Jack. Er sah sich zu Merritt um und nickte. Alles klar, sagte sein Blick, doch Merritts Gesichtsausdruck sagte etwas ganz anderes. Vielleicht sah er etwas in Jack, das er noch nie zuvor gesehen hatte.
Der Mann stapfte durch den Schlamm davon, ohne sich umzusehen. Stattdessen schaute er auf seine Füße, als ob er nichts anderes sehen wollte.
»Erst mal suchen wir uns eine Unterkunft«, meinte Merritt. »Dann müssen wir unsere Sachen einlagern, uns ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Wir besorgen uns etwas Obst und Gemüse, um den verdammten Skorbut zu bekämpfen. Was meinst du?«
»Ich meine: ›Ja, klar‹«, wiederholte Jack und nickte. Doch er wurde den Gedanken an den niedergeschlagenen Kerl nicht los und schwor sich, nicht länger als unbedingt nötig in Dawson zu bleiben.
Sie gingen weiter die Straße hinauf und sahen Männer wie Frauen Pferdegespanne und Hundemeuten durch den Schlamm lenken. Sie gingen an einer Kneipe vorbei und hörten von drinnen fröhlichen Lärm, was Jacks Lebensgeister mehr weckte, als es sollte. Wenigstens hat irgendjemand hier noch Spaß am Leben, dachte er und schaute die geisterhaften Gesichter der Passanten auf der Straße an. Er sah zum Namen der Bar hoch, der an die Fassade gepinselt war: Die Dawson Bar. Wie originell. So wie bei der Front Street und dem Dawson Lebensmittel- und Bekleidungsmarkt schienen alle hier unterwegs ihre Fantasie verloren zu haben, sodass die Dinge rein nach ihrer Funktion benannt wurden. Dennoch versprach er, später am Tage die Dawson Bar aufzusuchen. Ein Drink würde ihm guttun, und Merritts Gesichtsausdruck, zusammen mit seinen etwas geweiteten Augen und der Zunge, die über die Lippen schnalzte, sagte ihm, dass dieser dasselbe dachte.
Sie gingen an einem Laden vorbei, auf dem »Kaufe Goldstaub gegen Bargeld« stand. Merritt grinste, und Jack grinste zurück.
»Da werden wir bald Kunden werden«, verkündete Merritt. Jack nickte und blickte durch das staubige Ladenfenster. Ein grauhaariger alter Mann saß in dem kleinen Raum an einem Tisch, eine Brille auf der Nase. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Waage und ein Satz Gewichte. Der Mann schien gerade einzunicken, ansonsten war der Laden leer. Er schien nicht wirklich viel zu tun zu haben.
»Jack!«, rief Merritt vor ihm auf dem Gehweg. Er deutete über die Straße aufs Yukon Hotel. Jack lächelte und brachte ein Kichern heraus. Der Name war vielleicht nicht besonders originell, aber beim Gedanken an ein Bett, ein heißes Bad und eine richtige Mahlzeit wurde ihm fast schon schwindlig.
»Also los«, sagte er. »Wir nehmen uns Zimmer und helfen dann Jim, die Sachen herzubringen.«
»Wie denn?«, wollte Merritt wissen.
»Sieh dich nur um! Wir heuern uns Schlittenhunde an.«
»Die werden wir kaufen müssen«, meinte Merritt finster.
»Ach, komm schon! Wir sind vielleicht nicht ganz so weit gekommen, das geb ich ja zu. Aber trotzdem spüren wir noch den Hunger! Nicht wie dieser arme Schlucker vorhin.« Jack winkte die Straße entlang in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Er wusste jedoch, dass sein Freund recht hatte, und hatte schon eine Weile darüber nachgegrübelt. Sie hatten jede Menge Ausrüstung, aber nichts, um sie zu transportieren, und es war nur noch sehr wenig Geld übrig. Sie müssten entweder bei jemandem anheuern oder irgendwie anders an die Hunde und den Schlitten kommen, die sie für ihre Weiterreise brauchten.
Darum würden sie sich später kümmern, beschloss Jack. Momentan …
»He, Finger weg!«
Die erhobene Stimme kam aus einer engen Seitengasse zwischen dem Yukon Hotel und einem Nachbargebäude, das sich stolz als Dawsons einzige Barbierstube und Wäscherei bezeichnete.
»Gib uns den Hund, dann lassen wir dich in Ruhe.«
»Er ist mein Hund, ich hab ihn gefunden, ich …«
»Ach, gefunden hast du ihn, ja?«
Jack eilte über die Straße und hörte Merritt direkt hinter sich.
»Das geht uns nichts an, Jack«, warnte Merritt. Und obwohl Jack wusste, dass sein großer Freund recht hatte, war etwas an dieser sogenannten Stadt, das ihm bereits erheblich auf die Nerven ging. Es war die merkwürdige Antriebslosigkeit vieler seiner Bewohner, die falschen Fassaden vieler Gebäude, die willkürliche Art, wie die Straßen angelegt waren, als ob so etwas wie Ordnung hier keine Rolle spielte. Doch mehr als alles andere war es wohl diese überall zu spürende Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und Schwarzseherei, die ihn rasend machte. Er war gefährliche Gegenden gewohnt – der Hafen von San Francisco, die Landstraßen, auf denen er viele Monate unterwegs gewesen war, die furchtbaren vier Wochen, die er im Knast verbracht hatte –, doch da ging die Gefahr meistens von einzelnen Menschen aus. Hier war die ganze Stadt eine einzige Bedrohung. Einen flüchtigen Moment dachte er an die Wildnis, die hier gewesen war, ehe die ersten Landstürmer gekommen waren.
Er fragte sich, was die Wildnis wohl von ihrer ungebetenen Anwesenheit hielt.
»Hey!«, rief Jack. »Lasst den Jungen in Ruhe!« In Wahrheit war der Junge kaum mehr als ein oder zwei Jahre jünger als Jack, doch er sah noch wie ein Kind aus.
»Hau ab und kümmer dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen!«, schoss einer der Männer zurück. Es waren zwei, die dem Jungen zusetzten. Der, der gesprochen hatte, war groß und kräftig, mit einem strubbeligen schwarzen Bart, der seine untere Gesichtshälfte bedeckte. Seine Augen waren hart, seine Haut blass und fleckig, und er trug einen langen grauen Mantel, den er jetzt zur Seite zog, um darunter die beiden Pistolen am Gürtel über seinen Hüften zu zeigen. Der andere Mann war kleiner, dünner und hatte ein Lächeln, das Jack bis ins Mark erschaudern ließ. Es fehlte ihm jegliche Spur von Menschlichkeit. Dieser Mann – mit seinen kurz geschorenen Haaren, sauber rasiertem Schnurrbart und breitem Hut – war so kalt wie das Herz dieses Landes, und Jack spürte eine unterschwellige Gewaltbereitschaft, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ.
Hätten wir unsere Waffen bloß nicht bei Jim gelassen, dachte Jack. Dann sagte er: »Was geht euch der Junge an, dass ihr ihn so zurichtet?«
»Wir haben noch gar nicht angefangen, ihn zuzurichten. Dazu kommen wir gerade erst«, sagte der Kurze, seine Stimme klang wie das Kratzen einer Messerklinge auf Eis.
»Die wollen mir meinen Hund wegnehmen!«, rief der Junge. »Meinen Dutch. Ich hab ihn gefunden, ich hab ihn gefüttert, er gehört mir!«
Jack nickte dem Jungen zu, sagte aber nichts.
»Jack«, flüsterte Merritt. »Die sind bewaffnet.«
Der Kurze lächelte. Er hatte Merritt offenbar gehört und öffnete sein schwarzes Jackett ein wenig, um seinen Revolver zu präsentieren.
Jack lachte. Alle waren erstaunt – sogar Jack, denn eigentlich hatte er ein Knurren in sich aufsteigen gespürt –, und der großgewachsene Mann griff nach seinen Pistolen.
Hinter sich hörte Jack Merritt scharf einatmen.
»Lasst den Jungen in Ruhe«, meinte Jack beiläufig, ohne Drohung in der Stimme. »Kommt schon, was interessiert euch der Junge überhaupt? Und warum wollt ihr gerade diesen Hund, obwohl es in Dawson bestimmt jede Menge von solchen Hunden gibt, schätze ich. Seid ihr hergekommen, um Gold zu suchen und habt stattdessen euren Verstand verloren?«
Der Kurze hatte immer noch sein Lächeln aufgesetzt, aber seine Augen lächelten nicht mit. Der hat schon Einiges gesehen, dachte Jack, und nicht erst auf dem Yukon-Trail. Er fragte sich, wie viele Menschen dieser Mann wohl hatte sterben sehen. Und wie viele davon er selber umgebracht hatte.
»Archie«, sagte der Kurze ganz sanft.
»Wenn ihr wisst, was gut für euch ist,«, sagte der große Bärtige – Archie – und kam rasch die enge Gasse auf Jack zu, »dann macht ihr euch hier schleunigst vom Acker und …«
Jack trat ihm einmal fest zwischen die Beine. Archie kippte leicht nach vorne und stöhnte, dann drehte sich Jack zur Seite und schrappte mit dem Stiefel am Schienbein des Mannes entlang. Der schrie auf und stolperte zurück, doch Jack wusste, dass er jetzt zu Ende bringen musste, was er angefangen hatte. Er war am Hafen in genug Keilereien verwickelt gewesen, um zu wissen, dass eine Prügelei erst vorbei war, wenn einer am Boden lag. Für harte Burschen wie diese hier galt das erst recht. Er blickte den Kurzen an, um sicherzugehen, dass er – vorerst zumindest – nicht vorhatte, die Waffe zu ziehen. Dann stürzte Jack vor und schlug mit den Fäusten auf Archie ein.
Es war, wie auf eine Rinderhälfte einzuhämmern. Unter seiner dicken Kleidung war Archie ein kräftiger Kerl und so schwer, dass Jack sich wunderte, wie jemand, der auf dem Trail und in der Wildnis lebte, soviel Gewicht auf die Waage bringen konnte. Entweder war er ein sehr guter Jäger oder ein sehr guter Dieb.
Jack ließ ihm jedoch keine Zeit, um sich von dem ersten Angriff zu erholen. Als Archie gerade mit der Faust ausholen wollte, war Jack schon dicht an ihm dran und donnerte ihm die eine Schulter so in die Brust, dass er gegen die Hotelwand krachte. Die Bohlen ächzten, und Archie erwischte Jack mit einem wilden und ungenauen Fausthieb am Kinn.
Der Schlag traf ihn schmerzhaft und überraschend, doch Jack steckte ihn weg. Er trat und schlug, kratzte mit beiden Händen, und als er Archies Hand nach seiner Kehle greifen spürte, senkte er den Kopf und biss zu. Er schmeckte Blut, beißend und säuerlich.
Dutch, der Hund des Jungen, bellte. Während Jack Archie den letzten Kick verpasste, der ihn zu Boden brachte, hörte er ein vertrautes Geräusch: Metall auf Leder.
»Runter, Jack!«, schrie Merritt und Jack ließ sich hinfallen.
Jemand lachte laut und Jack sah auf. Der lachende Kurze hatte die Pistole in der einen Hand und die andere Hand auf der Hüfte.
Archie stöhnte.
Jack stand langsam auf, schüttelte seine Hand aus und bespritzte dabei seine Hose mit dem Blut des anderen.
»Willst du mich jetzt abknallen?«, fragte er den Kurzen.
»Ach nee«, erwiderte dieser. »Dich nicht. Du bist ausgehungert und ausgezehrt, aber immer noch kräftig. Jack. So heißt du doch? Wir sehen uns noch, Jack. Ich erschieße keinen, der mir noch nützlich sein kann.« Er blickte aus dem Augenwinkel den dünnen Jungen an, sein Lachen erstarb so rasch, dass nicht einmal ein Echo davon blieb. »Aber was dieses Stück Hundedreck angeht …« Er hob die Waffe und drückte sie dem Jungen an den Hals.
Jack wusste, dass er nicht die Spur einer Chance hatte. Sie waren mindestens zwei Meter entfernt, niemals würde er diese Strecke zurücklegen können, ehe der Mann den Finger einen Zentimeter weit am Abzug krümmen konnte. Doch dass die Chancen gegen ihn standen, hatte ihn noch nie aufgehalten. Außerdem wusste er, dass er keine Wahl hatte.
Als er sich auf den kleinen Mann warf, der gerade wegen eines räudigen Hundes einen Jungen erschießen wollte, donnerte es los, der Kurze hatte abgedrückt.
Der Junge fiel hin. Der Schuss verfehlte ihn, die Kugel traf die Wand des Yukon Hotels und schlug splitternd ein Loch ins Holz. Der Hund zitterte, knurrte und biss dem Mann in den Unterarm, wobei er komplett in die Luft gehoben wurde, als der Schütze zurückwich, die Waffe fallen ließ und auf den Hintern fiel.
Dann war Jack auf ihm. Sein Schwung drückte Mann und Hund zusammen in den Schlamm. Dutch ließ ab und zog sich zähnefletschend und blutig zurück. Doch offenbar wusste er ganz genau, wer hier Freund und Feind war. Er ließ den kleinen Mann nicht aus den Augen, während Jack ihm mehrmals auf Nase und Kiefer schlug. Als der Mann seine linke Hand hob, um zurückzuschlagen, ergriff Jack den gebissenen rechten Arm und drehte ihn um. Er spürte die widerliche Feuchtigkeit des warmen Blutes, und der Mann fletschte die Zähne, unwillkürlich den Hund nachahmend. Er versuchte mit Leibeskräften, nicht laut zu schreien – Jack bemerkte es und es imponierte ihm –, doch dann wurde der Schmerz zuviel und er musste aufschreien.
Etwas fiel Jack auf die Schulter und drückte ihn auf den dünnen Mann hinab. Es war Archie. Doch er blieb nicht lange auf seinem Rücken.
»Hoch mit dir!«, sagte Merritt und Jack rollte rechtzeitig herum, um Archie abermals gegen die Hotelwand fliegen zu sehen.
Der Junge hatte die Pistole des Dünnen aufgehoben.
»Ganz sachte, Junge«, warnte Merritt.
»Ich heiße Hal«, meinte der Junge. »Ich hasse es, wenn man ›Junge‹ zu mir sagt.«
Jack stand da und kicherte. Der macht sich fast ins Hemd, dachte er, war aber dennoch beeindruckt, wie gefasst Hal war. Die Pistole war schwer, doch die Hände des Jungen zitterten kaum. Und Jack wurde genauso ungerne ›Junge‹ genannt.
»Willst du sie jetzt erschießen?«, fragte Jack den Jungen. Merritt warf ihm einen scharfen Blick zu, und Jack sah, wie sich Archie am Boden an der Hauswand versteifte. Doch Jack war sich sicher, Hal richtig eingeschätzt zu haben. Er hielt sich vielleicht für mutig und erwachsen, sogar für stark, aber ein Killer war er nicht.
Hal gab Jack die Pistole, der sie an Merritt weiterreichte.
»Ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch angelegt habt«, erklärte der Dünne. Er stand mit dem verletzten Arm vor der Brust auf. Dutch kam wieder knurrend auf ihn zu und drängte den Mann neben Archie an die Wand.
»Mit einem großen, dummen Esel«, Jack deutete auf Archie und dann auf den Dünnen. »Und mit dem, was beim Esel hinten rauskommt.«
Hal kicherte, Merritt seufzte. Jack wusste genau, was sein Freund dachte. Gerade mal eine Stunde in Dawson und schon haben wir uns zwei Todfeinde gemacht. Tja … Jack hatte sowieso nicht vor, lange hierzubleiben. Das war nur noch ein weiterer Grund, schleunigst weiterzuziehen.
»Sehr witzig, Kleiner«, sagte der Dünne.
»Komm schon, William«, meinte Archie.
Jack nickte kurz. Der Große wusste wenigstens, wann er geschlagen war.
»Wir sehen uns«, sagte William.
»Kein Problem, Billy«, meinte Jack. »Lass dir deinen Arm lieber untersuchen. Wenn ich mir so das Gebiss dieses Köters anschaue, könnte ich wetten, der ernährt sich nur von leckeren Häppchen aus der Gosse.«
William blickte auf den Hund runter, der ihn anknurrte. Dann sah er auf und fixierte nacheinander Hal, Merritt und Jack mit seinem kühlen Blick. Er hatte sich schon zusammengerissen, den Schmerz aus seinem Gesicht verbannt und durch sein lässiges Lächeln ersetzt.
Es war Jack unheimlich, aber er versuchte, es nicht zu zeigen.
»Dawson City ist nicht so groß«, meinte William, »aber der Friedhof schon.« Damit wandte er sich ab und ging die Gasse hinauf. Archie folgte ihm mit einem nervösen Blick zu Dutch, der sie immer noch im Auge behielt.
»Tja«, bemerkte Merritt und hielt die Pistole hoch, als ob er nicht so recht wusste, was er damit anfangen sollte. Schließlich ließ er sie in seine Jackentasche gleiten. »Tja«, wiederholte er.
»Konnte doch nicht einfach zusehen«, erklärte Jack leise und sah Hal an. »Alles in Ordnung?«
Hal nickte, doch Jack erkannte, dass bei weitem nicht alles in Ordnung mit ihm war. Er war nicht nur vom Schock und Schreck des Überfalls zittrig und blass, er war außerdem schwach vor Hunger und trug wohl kaum die richtige Kleidung für diese Kälte. Wie auch immer er hier gelandet war, irgendetwas war unterwegs furchtbar schiefgelaufen.
»Komm mit uns«, bot ihm Jack an.
»Nein.« Hal kniete sich neben Dutch, und der Hund drückte die Nase an seinem Hals. Zwischen ihnen war Treue, vielleicht sogar Liebe, die kurzzeitig etwas in Jack aufblitzen ließen … Eifersucht? Trauer? Er wusste es nicht genau. Doch vor seinem geistigen Auge erschien wieder die große weiße Wildnis und der Wolf, der ihn begleitet hatte.
»Bist du dir sicher, Hal? Das waren üble Kerle. Wenn du denen wieder über den Weg läufst, werden sie dir vermutlich etwas antun.«
»Ich kann auf mich selber aufpassen«, sagte Hal, seine Tapferkeit wurde aber durch seine bebende Stimme Lügen gestraft.
»Na ja, wir werden hier wohnen, falls du es dir anders überlegst«, bot Jack an und nickte Richtung Hotel.
»Es hat keinen gekümmert, was hier los war«, stellte Merritt fest. Er sah sich nervös zur Straße hin um. Die Hand mit der Pistole hatte er noch in der Tasche.
»Es kommt auch keiner«, stellte Hal fest. »Es gibt hier zwar Mounties, aber die Polizei verbringt die meiste Zeit weiter im Norden, wo es noch wilder zugeht. In Dawson müssen wir oft schauen, wo wir bleiben.« Sein Blick verfinsterte sich.
»Was machst du eigentlich hier?«, wollte Jack wissen.
Der Junge sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, den Jack allzu gut kannte: Stolz.
»Überleben«, erklärte Hal. Dann wandte er sich ab und pfiff nach dem Hund. Dutch folgte seinem Herrchen die Gasse entlang zur Hauptstraße zurück. Hal blieb stehen und sah sich noch mal um. »Und vielen Danke für die Hilfe.« Er nickte Jack zu, lächelte und wünschte noch: »Und viel Glück.«
Dann war er fort.
»Tja«, sagte Merritt wieder.
»Ja«, stimmte Jack zu. »Tja.«
Sie nahmen das einzige große Zimmer, das das Yukon Hotel noch frei hatte. Hinter dem Hotel standen Lagerschuppen, und Jack, Jim und Merritt verbrachten den Rest des Nachmittages damit, abwechselnd die Ausrüstung zu bewachen, während die anderen ihr Gepäck durch die Siedlung zum Hotel schleppten. Als sie endlich fertig waren, streifte die Sonne schon den Horizont, und die Geräusche von Dawson hatten sich verändert. Die Straßen waren immer noch voll von fahlen, gespenstischen Schatten ehemals optimistischer, abenteuerlustiger Menschen, doch nun füllten sich die Kneipen immer mehr, und die Klänge von Musik und Feiern kämpften gegen den Eindruck an, den diese bleichen Gestalten machten.
Jack und Merritt hatten Jim von ihrem Zwischenfall mit den beiden Männern erzählt, und er war wie Merritt dafür, an dem Abend lieber die Füße still zu halten. Doch Jack wollte nichts davon hören.
»Wenn sie uns jetzt vertreiben«, sagte Jack, »haben sie gewonnen. Wenn die uns wieder über den Weg laufen, wissen sie genau, wer der Chef ist. Die werden sich das zweimal überlegen, ehe sie sich wieder mit uns anlegen.«
Jim lag auf dem Bett, immer noch angezogen, aber schon halb eingeschlafen. Merritt sah auch bereit aus, ins Bett zu gehen.
»Komm schon, Merritt«, meinte Jack. »Nur ein schnelles Bier?« Er konnte den Gerstensaft bereits auf den Lippen schmecken und den Geruch des Whiskys spüren, der golden und bernsteinfarben ins Glas gluckerte.
Merritt seufzte, aber Jack wusste, dass die Verlockung, etwas trinken zu gehen, seine Bedenken überwinden würde. Sie wünschten Jim Gute Nacht und gingen in die Hotellobby hinunter. Bevor sie auf die Straße traten, packte Merritt Jack am Arm.
»Jack, ich will ganz offen sprechen. Ich kann nicht sagen, dass ich damit einverstanden bin, was heute passiert ist. Ich weiß, du hast schon harte Zeiten hinter dir, aber diese Geschichte mit dem Hund … das hat mich etwas schockiert, muss ich sagen.«
»Aber was die mit dem Jungen gemacht haben …«
»Sicher hatten sie es verdient, Jack! Ich bin kein Feigling und scheue mich auch nicht vor einer Auseinandersetzung. Aber einen Moment lang hast du echt … wild ausgesehen.«
»Das ist die Wildnis, Merritt«, sagte Jack. Ihm fiel noch soviel mehr ein, was er dazu sagen könnte – dass man auf sich selber aufpassen musste, töten oder getötet werden –, doch stattdessen ging er in die Nacht von Dawson hinaus, und Merritt folgte ihm.
Sie fanden einen Tisch in der Ecke der Dawson Bar und schlürften an ihren Drinks, während die Welt an ihnen vorbeizog. Die Kneipe war zwar genauso wie Dutzende andere, die Jack am Hafen von Oakland besucht hatte, doch etwas an dieser Spelunke war noch härter, noch gefährlicher. Es dauerte eine Weile, bis Jack es beim Namen nennen konnte – erst nach zwei sparsam und genüsslich genippten Drinks wusste er, was es war: Verzweiflung. Der Laden brummte davon. Sie wand sich um jedes lächelnde Gesicht und jeden lachenden Mund, und Dawson war nachts wirklich kaum anders als am Tag. Der einzige kleine, aber feine Unterschied war die Art, in der die Leute ihre Enttäuschung und Desillusionierung zum Ausdruck brachten.
»Ich werde niemals so sein, Merritt«, erklärte Jack. »Ich werde immer Hoffnung haben. Versprich mir, du auch.«
»Natürlich werde ich das!«, meinte Merritt grinsend. »Ich weiß, was du siehst, Jack, aber gib den Leuten hier eine Chance. Viele sind bestimmt schon seit über einem Jahr hier, von ihren Freunden und Familien getrennt, und tun ihr Bestes um …«
»Ich wette, die Hälfte hat Dawson noch nie verlassen, seit sie hergekommen sind! Und die nennen sich Goldgräber?« Jack sah sich um und versuchte, die Goldgräber von denen zu unterscheiden, die von den Bedürfnissen der Goldgräber lebten. Vielleicht war er wirklich unfair: Immerhin nutzten sie selber die begrenzten Möglichkeiten, die Dawson ihnen bot. Doch Jack fühlte sich so unabhängig und entschlossen, dass er kein Verständnis dafür hatte, wie jemand es so weit schaffen und nicht den letzten entscheidenden Schritt gehen konnte. Das hier hätte eine Kneipe irgendwo sonst in Amerika sein können, doch jenseits dieser Türen wartete in der Wildnis vielleicht ein fürstlicher Goldschatz auf seinen Entdecker.
Und es ging nicht nur ums Geld. Es ging darum, das Leben am Schopf zu packen und bis zum Anschlag auszukosten. Diese Menschen hatten ihre Abenteuerlust verloren, und nachdem sie sich durch die Wildnis und unzählige Strapazen gequält hatten, richteten sie sich hier wieder ein Leben ein, das sich vermutlich kaum von ihrem früheren Leben unterschied.
»Für dein Alter bist du ein ganz schön harter Kerl«, fand Merritt. Jack war schockiert. Er sah, dass sein Freund es ernst meinte, und nicht nur wegen der Prügelei von vorhin. Es war mehr als das.
Stimmt das wirklich? fragte er sich. Wer ist Jack London? Er dachte darüber nach, während er trank. Wie hätte er wissen können, dass diese vertraute Frage innerhalb weniger Wochen eine Antwort finden würde, die er sich nicht im Traum hätte vorstellen können? An der Bar erzählten hohläugige Goldsucher ihre Geschichten jedem, der ihnen etwas zu trinken spendierte. Örtliche Krämer, verlorene Seelen ohne Mumm, in die wahre Wildnis aufzubrechen, zurückgelassene Frauen und Neuankömmlinge, die vor Aufregung fast zitterten, ihre Träume endlich zu erfüllen … Alle versammelten sich am Tresen, um die Erzählungen von legendären Hundeschlittenrennen, Faustkämpfen und Morden zu hören und von denen, die unsagbar reich geworden waren. Die Kneipe dampfte vor Neid und Missgunst, völlig beherrscht von der allgemeinen Goldgier, die bei allen gleich war.
Unter diese Geschichten mischten sich jedoch auch andere – die Sagen und Legenden des Nordens. Sie handelten von Indianerflüchen, Flussgöttern und umherstreifenden Gespenstern, die man in der Unendlichkeit des Yukons finden konnte, sofern man den halbbetrunkenen Erzählern Glauben schenken konnte. Manche der Geistergeschichten wurden von Männern erzählt, die tatsächlich so aussahen, als hätten sie ein Gespenst gesehen. Und manche Berichte von Flüchen wurden von Männern erzählt, die tatsächlich wie Verfluchte wirkten. Doch darunter waren Geschichten, die noch viel weiter hergeholt waren, von Schneeungeheuern und Walddämonen und Tieren, die aufrecht gingen. Ein kleiner, rattenartiger Mann berichtete mit weit aufgerissenen Augen von Eisbären, die Menschenblut tranken und die Gestalt ihrer Opfer annehmen konnten.
Ein anderer erzählte vom Wendigo, einem Indianergeist des Nordens, und etliche andere stimmten mit ein. Jack spitzte die Ohren. Während der Überfahrt auf der Umatilla hatte er viel über den Yukon gelesen, unter anderem über seine Sagen. Am meisten fasziniert hatte ihn die Legenden vom Wendigo, weil sie so grotesk waren. Sie begann mit einer Gruppe Männer, die sich im eisigen Norden verirrt hatten, ziellos umherstreiften und langsam verhungerten. Eine schreckliche Vorstellung, aber eine, die bestimmt allzuoft Realität geworden war. Als seine Gefährten alle tot waren, wurde der letzte Überlebende zum Menschenfresser und ernährte sich von den Kadavern seiner Kameraden. Doch damit brachte er einen Fluch über sich und verwandelte sich in den Wendigo, ein ewig hungerndes Monstrum, das von der Wildnis dazu verdammt war, endlose Gier nach Menschenfleisch zu erleiden. Es hieß, dass jeder, der im frostigen Norden das Fleisch eines anderen Menschen oder das eines Wendigos isst, dasselbe Schicksal treffen würde.
Und diesen ersten Wendigo gab es noch immer, ein Geist des Wahnsinns, der tödliche Gestalt annahm, um das Fleisch und die Knochen von Männern, Frauen und Kindern zu verschlingen. Je mehr er aß, desto größer wurde er, und desto größer wurde sein Hunger, denn er war dazu verdammt, niemals satt zu werden und nach immer mehr zu gieren. Ein tückisches Wesen, schwer zu erkennen. Ein Gestaltwandler, der die Erscheinung anderer Entdecker annahm, um seine Opfer anzulocken. Ein Jäger, ewig auf der Pirsch.
Auf dem Schiff hatte diese Sage Jack fasziniert, und hier in der verrauchten Bar, umgeben von Hoffnungsfrohen und Hoffnungslosen, alle nach etwas hungernd und gierend, faszinierte sie ihn umso mehr. Er sah die Männer an, die die Sage mehr oder weniger alle kannten, manche davon in der Version, die Jack gelesen hatte. Er fragte sich, wie verzweifelt ein Mensch sein musste, um das Fleisch seiner Freunde zu essen. Diese Kerle an der Bar zum Beispiel. Manche von ihnen schienen so verzweifelt, dass sie alles tun würden, obwohl sie reichlich zu Essen und zu Trinken hatten und auch ein Feuer, um sich zu wärmen.
Wer konnte schon sagen, was in der Wildnis aus ihnen werden könnte?
Der Gedanke machte ihm noch mehr zu schaffen als die restlichen beunruhigenden Ereignisse des Tages. Und nach nur wenigen Drinks verließen Jack und Merritt die Bar. Sie gingen wieder durch die Straßen, vorbei an Menschengruppen, die scheinbar ziellos umherwanderten.
Jack fühlte sich müde und deprimiert und meinte, das sei wohl auch, weil William und Archie nicht in der Dawson Bar aufgetaucht waren. Jack war schon immer eine Kämpfernatur gewesen, und ihre kleine Auseinandersetzung vorhin hatte etwas in ihm geweckt. Er war sich nicht sicher, ob ihm gefiel, was da an die Oberfläche brodelte – nicht nach dieser langen Reise, bei der es nur ums Überleben gegangen war. Er dachte daran, wie sie nach der Eisschmelze stromabwärts nach Dawson gefahren waren, wie er stolz im Heck am Ruder gesessen hatte, als Herr der Wildnis, die ihr Äußerstes getan hatte, um ihn umzubringen.
Ein Schatten huschte durch seine Gedanken, mit trabendem Schritt und einem grauen Fellstreifen. Jack runzelte die Stirn. Dann hörte er einen schrecklichen Schrei.
»Was zum Teufel war das?«, wollte Merritt wissen.
»Es kam vom Hotel«, erwiderte Jack. »Komm.« Das muss der Junge sein, dachte Jack. Hal wollte uns finden, und stattdessen haben sie ihn gefunden, und stellen jetzt weiß Gott was mit ihm an. Er hatte nie wirklich glauben können, dass William drauf und dran gewesen war, Hal den Schädel wegzupusten. Doch vielleicht hatte er es nur nicht glauben wollen. Sie konnten den Jungen auch auf eine ganz andere Weise traktieren. Er hatte gehört, dass die Menschen hier draußen wie Vieh Brandmale von ihren Sklaventreibern verpasst bekommen hatten.
Er zog im Laufen die Pistole aus dem Gurt und sah Merritt neben sich das Gleiche machen. Das Letzte, was Jack wollte, war, in eine Schießerei verwickelt zu werden. Aber nach dem Vorfall vorhin hatten sie beschlossen, bewaffnet zu bleiben, zumindest solange sie in Dawson waren.
Jack stürmte durch die Tür zum Hotel. Am Empfang war niemand zu sehen. Es war dunkel, und es hing ein schaler Geruch in der Luft, als wenn der Atem aller Gäste, die jemals dort gewohnt hatten, immer noch im Raum stünde. Im Stockwerk über ihnen hörte er Stiefel trampeln. Dann, Stille. Keine Schreie, keine Schritte mehr. Nur unheilvolle Stille.
»Jack«, sagte Merritt, »Jim hatte seine Waffe bei sich, oder?«
»Ja, hatte er«, antwortete Jack. »Aber er hat fast schon geschlafen, als wir zur Tür hinaus sind.«
»Los, komm«, sagte Merritt. Der kräftige Mann schob sich an Jack vorbei die Treppe hinauf. Er nahm mit seinen langen Beinen zwei Stufen auf einmal. Sie hatten nach diesem ersten markerschütternden Schrei weder Schüsse noch Stimmen gehört.
»Hier wohnen auch andere Gäste«, flüsterte Jack.
»Die sind mir egal«, meinte Merritt, ohne sich umzudrehen. Er war jetzt oben am Treppenabsatz angekommen und ging links in den Gang zu ihrem Zimmer. Jack hielt mit ihm Schritt, sein Herz schlug schneller, alle seine Sinne waren hellwach, und es kribbelte ihn überall.
Vor der geschlossenen Tür zu ihrem Zimmer blieben sie stehen. Keine der anderen Türen war offen.
»Vielleicht hat nur jemand …«, raunte Jack achselzuckend und mit erhobenen Augenbrauen.
»Ich konnte an der Stimme nicht erkennen, ob das ein Mann oder eine Frau war, du?«
Jack schüttelte den Kopf.
Merritt klopfte mit dem Lauf seines Revolvers an die Tür. »Jim?« Es kam keine Antwort. Er drückte sein Ohr an die Tür, lauschte, sah zu Jack und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht sollten wir …«, setzte Jack an, doch Merritt ging schon einen Schritt zurück, um die Tür einzutreten. Jack trat zur Seite.
Die Tür schwang auf – wie es schien, war sie gar nicht zugesperrt gewesen –, prallte gegen die Wand, schwang zurück und erlaubte ihnen nur einen kurzen Blick auf das, was auf dem Bett lag.
Merritt schnappte nach Luft, doch Jack war schon ins Zimmer gestürmt. Das war ich, dachte er, ich war das, alles meine Schuld, warum hab ich mich bloß eingemischt? Aber in einer Woge der Erleichterung erkannte er, dass Jim doch nicht tot war. Jim bewegte sich langsam. Ganz vorsichtig drehte er den Kopf nach links und dann wieder nach rechts. Sein Kissen war voller Blut, er hob eine Hand in einer abwehrenden Geste, sein kleiner Finger war in einem unnatürlichen Winkel nach hinten gebogen. Über seinem linken Auge klaffte eine Platzwunde, aus der immer noch Blut strömte.
Jack blickte sich rasch in dem großen Raum um, sah aber niemanden im Verborgenen lauern, ging dann schnell aufs Bett zu. »Jim«, sagte er, und sein Gefährte öffnete das unverletzte Auge.
Jim röchelte irgendetwas. Sein Auge weitete sich.
Hinter sich hörte Jack das furchtbare, dumpfe Geräusch von Holz auf Fleisch und Knochen. Jemand grunzte, und bis er sich umgedreht hatte, lag Merritt an der offenen Tür am Boden. Hinter ihm im Gang stand Archie und grinste Jack an, während er Merritt die Keule in seiner Hand ein zweites Mal über den Kopf zog.
»Guten Abend, Jack«, grüßte William und schlüpfte hinter Archie herein.
»Ihr verdammten Hurensöhne«, Jack richtete die Pistole auf sie, wusste aber bereits, dass er nicht abdrücken konnte. William war bis auf seine Keule unbewaffnet, genauso wie Archie. Im dunklen Gang hinter ihnen näherten sich weitere Gestalten.
Wenn er gewusst hätte, was ihm blühte, hätte er vielleicht doch abgedrückt. William erschossen, Archie getötet, und sich den Weg durch die Männer dahinter frei gekämpft. Im Nachhinein wäre das vielleicht besser gewesen.
Doch im Moment wusste er nichts von dem, was kommen sollte. Er kannte nur die Gegenwart. Also ließ er die Waffe aufs Bett hinter sich fallen und hob die Fäuste, wie eh und je bereit zu kämpfen.
Archie lachte und schlug mit seiner blutigen Keule in die linke Hand. Williams Lächeln war so lässig und unheimlich wie immer. Zwei weitere Männer betraten den Raum – fiese Typen, wilde Burschen mit brutalem Blick und den Narben ihres gewaltsamen Lebens auf der Haut. »Na, dann kommt mal,« sagte Jack.
Und sie kamen.