Er hatte sich wieder in einem schrecklichen Sturm verirrt. Der Schnee wehte und wirbelte um ihn herum, dichter, als er je für möglich gehalten hatte. Er spürte eher Nadeln anstatt weiche Flocken auf seiner Haut. Wenn er einatmete, drang ihm der Schnee in Rachen und Lunge. Er fror von innen, während er von außen kaum etwas spürte. Der Gestank von Dreck und Pferden erfüllte die Luft, doch er war in diesem Weiß bewegungslos gefangen, kein Laut war zu hören. Das ist die wahre weiße Stille, dachte er. Zwischen Schneewehen erblickte er eine vertraute Gestalt. Der Wolf kam auf ihn zugelaufen. Er galoppierte durch den Schnee, der so tief war, dass er bei jedem Satz fast verschwand. Er lief und heulte – obwohl Jack das Heulen nicht hören konnte –, doch er schien nie näher zu kommen.
Ein Vorhang aus Schnee verdeckte Jack die Sicht, und er fühlte sich plötzlich sehr einsam.
Ein stetiges, dumpfes Pochen begann so leise, dass er nicht wusste, ob er es fühlte oder hörte. Obwohl er versuchte zu gehen, sich umzublicken, seine Hände anzugucken, war es nur sein Verstand, der den Schneesturm spürte, nicht sein Körper. Ich träume, dachte er, doch auch das fühlte sich nicht richtig an.
Wieder erblickte er den Wolf, der sich durch den Schneesturm kämpfte. Er schien näher zu sein als zuvor, aber er hörte ihn immer noch nicht. Er versuchte zu rufen, doch der Wolf schien ihn auch nicht zu hören. Es gab nur noch den Schnee und das stetige Poch … Poch … Poch …
Dann ein Aufprall und Lärm. Unter den Lärm mischten sich leisere Schläge von weiter weg zu den Rhythmen, die seinen Körper und seine Sinne anzugreifen schienen.
Der Schnee begann sich bräunlich zu färben. Er schmolz und mit ihm die leere Landschaft dahinter, das Geräusch und das Gefühl von Schlägen wurde deutlicher.
Er hörte lautes Wolfsgeheul, so vertraut und real, als könnte er die Hand ausstrecken und danach greifen. Er roch Pferde, machte die Augen auf und sah drei Männer vor sich, die auf einen dicht bewaldeten Hügel zumarschierten. Das Pferd, auf das Jack gebunden war, trottete ihnen hinterher. Es lag kein Schnee: Der schreckliche Sturm hatte nur in seinem Kopf stattgefunden.
»Das klingt nah«, sagte einer der Männer.
»Ja, aber man sieht sie trotzdem nie«, erwiderte der andere. Er sah zu Jack nach hinten: Es war Archie. »Na, wen haben wir denn da? Schon wach?«, fragte Archie. »Warte mal, Stan! Hier ist wieder einer, der selber laufen kann.«
Das Pferd blieb stehen, stampfte ein paar Mal mit den Hufen auf, und jeder Schritt dröhnte ihm ins Hirn. Archie band ihn los, riss ihm die Seile über seine Hüfte und Arme fort und flüsterte ihm die ganze Zeit ins Ohr. »Jetzt bist du dran, Jack, jetzt bist du dran, jetzt kannst du mal herausfinden, wie hart du wirklich bist, wie zäh, und jetzt, wo du wach bist, freue ich mich auf jede einzelne Minute an jedem Tag, du kleine Missgeburt.«
In Jacks Arme brannte es wie von tausend Nadelstichen, er stöhnte, als sein Kreislauf wieder durch seine Schultern in die Arme und Hände zu strömen begann. Er wusste nicht genau, ob seine Haut nur brannte oder erfroren war.
Archie stieß ihn vom Pferd.
Jack drehte den Kopf zur Seite, um damit nicht auf den Boden zu knallen, trotzdem raubte ihm der Aufprall den Atem. Er rollte sich auf den Rücken, starrte in den klaren blauen Himmel und fragte sich, wie etwas so Schönes in dieser Hölle existieren konnte, in der er eben aufgewacht war.
»Aufstehen!«, befahl Archie und trat Jack gegen den Oberschenkel. »Mach dich mal nützlich. Hoch mit dir, aber dalli!«
Ganz vorsichtig versuchte Jack zu gehorchen. Er schloss die Augen wegen der fürchterlichen Schmerzen, die in seinem Kopf dröhnten. Es fühlte sich so an, als sei jeder Zentimeter seines Körpers ausgepeitscht, zerhackt, gekocht und erfroren worden. Er wusste, es würde eine ganze Weile dauern, bis er seine Wunden alle gezählt hatte.
»Steh auf, sonst schlitz ich dir den Bauch auf und werf dich den Wölfen zum Fraß vor.« Archie klang so, als ob er es ernst meinte. Jack sah sich um. Sie waren in den Hügeln, bewaldete Hänge stiegen über ihnen empor, und irgendwo links rieselte ein Bach. Von Dawson City war nichts mehr zu sehen. Er sah Männer, die Gewehre und sonst nicht viel anderes trugen, Pferde und Hunde, sowie andere Männer, die große Lasten schleppen mussten. Manchen waren die Füße so eng zusammengebunden, dass sie gerade noch laufen konnten. Durch seinen Schmerzschleier hindurch begriff er, was mit ihm passiert war: Sie hatten ihn entführt, versklavt, und im Moment war er ihnen ausgeliefert. Außerdem war ihm klar, dass Archie es in der Tat ernst meinte. Hier, weit weg von den letzten schäbigen Überresten der Zivilisation, die Dawson City bot, würde er Jack tatsächlich aufschlitzen und den Wölfen zum Fraß vorwerfen.
Jack stand auf, eines der schmerzhaftesten Erlebnisse seines ganzen Lebens. Er biss sich auf die Lippe, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
Archie kicherte und warf Jack einen Sack vor die Füße. »Der hier reicht erst mal. Sollst dich ja nicht verheben.« Seine Stimme wurde düster. »Wir haben schon genug von euch verloren, und die eigentliche Arbeit kommt erst noch.«
Der Zug marschierte nun weiter. Archie blieb dicht bei ihm, das Gewehr wiegte er in den Armen, doch Jack versuchte, den großen Mann gar nicht erst anzusehen. Er wollt ihm keine Genugtuung verschaffen … Außerdem musste er sich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren.
Nach ein paar Minuten Fußmarsch, in denen Jack sich überlegte, wo und wie schwer er verletzt war, bemerkte er den Mann, der drei Meter links von ihm ging.
»Merritt!«, flüsterte Jack.
Merritt sah nicht auf, obwohl er ihn gehört haben musste.
»Merritt! Hey, alles in Ordnung?«
Sein stämmiger Freund sah unverletzt aus und ging so aufrecht und selbstbewusst wie eh und je. Er trug einen großen Rucksack und mehrere lange Schaufeln vor der Brust.
»Merritt, was ist …«
»Jim ist tot«, sagte Merritt, ohne Jack anzusehen. Während er weitersprach, brachte er es nicht über sich, den Blick vom Boden zu heben. »Sie haben wohl zu fest zugeschlagen, denn als er auf einem der Pferde aufgewacht ist und sie ihn losgebunden haben, ist er runtergefallen. Konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich bin zu ihm hin und wollte ihm helfen, aber sie haben mich geschlagen und weggedrängt. Jim konnte gar nicht mehr geradeaus laufen. Er hatte seine Brille verloren, aber das, das war’s nicht … Es war sein Schädel. Er war ganz angeschwollen, wo sie ihn geschlagen hatten, aber er sah ganz matschig aus. Sie wollten, dass er in Reih und Glied marschiert, und gaben ihm Gepäck zu tragen, aber er ist immer wieder hingefallen. Sie haben ihm gesagt, was sie mit ihm machen, wenn er nicht aufsteht und weiterläuft, aber er hat sie gar nicht gehört, glaube ich. Dann hat William – dein Freund William, Jack, der mit dem Tod in den Augen, den du dir zum Feind gemacht hast – seine Pistole gezogen und Jim in den Kopf geschossen. Bringt doch nichts mehr, hat er gesagt, und dann sind alle weitermarschiert. Haben ihn nicht mal beiseite geräumt, einfach einen Bogen um ihn gemacht, während seine Leiche steif zu werden begann. Ich wollte zu ihm, aber sie ließen mich nicht. Ich wollte kämpfen, aber ich hatte keine Kraft mehr, Jack.«
»Jim …«, sagte Jack sanft. Er blickte nach rechts zu Archie und sah, dass der bärtige Schläger grinste. Er will, dass Merritt mir das erzählt, dachte Jack. Er will, dass ich es erfahre.
»Jim ist tot«, meinte Merritt. »Wären nicht du und deine Fäuste gewesen … Wer weiß, Jack? Wer weiß?«
»Merritt?«, fragte Jack. Nein, ich war’s nicht, das ist nicht meine Schuld. »Merritt?« Doch sein großer Freund sah nicht auf, und im Laufe des Tages entfernte er sich immer weiter von Jack, weiter die Schlange der menschlichen Lasttiere entlang.
Jack sah sich um und lauschte nach dem Wolf, der ihn mit seinem Heulen geweckt hatte. Doch er hörte nichts mehr von ihm.
Nur noch die Wildnis.
Im Laufe der letzten sieben Monate hatte er drei neue Freunde gefunden, von denen er zwei wieder verloren hatte. Den einen durch die Grausamkeit der Sklaventreiber, den anderen durch Vorwürfe und Schuldzuweisungen – doch nun suchte er endlich nach Gold. Vielleicht existierte sein dritter Freund nur als Wahnvorstellung in seinem Hirn. Doch hier, in der atemberaubend schönen, brutalen Wildnis des Yukons, fühlte sich dieser Wolf so nah an wie nie zuvor.
Er hätte vermutlich mit der Brutalität hier draußen rechnen sollen, wo das Gold den Menschen mit der Möglichkeit unermesslichen Reichtums die Sinne vernebelte. Sein kurzer Gefängnisaufenthalt hatte ihm die Fähigkeit mancher Menschen zur Grausamkeit auf schockierende Weise vor Augen geführt. Und hier in der Wildnis, wo das Gesetz so wenig verbreitet war, kaum mehr als ein Windhauch, war es klar, dass diese Grausamkeit bei manchen Männern zutage trat. Er hätte mit Mord und Diebstahl rechnen sollen und mit toten Männern, die mit Kugellöchern oder Schaufelwunden als einzige Beweise ihrer Goldsuche die wunderbare Landschaft verunstalteten. Doch Sklaverei hätte er niemals erwartet.
William war der Anführer, da war er sich schon mal sicher. Dieser Mensch hatte alle Reste der Zivilisation und der Moral abgelegt und trug seine Grausamkeit wie eine neue Haut. Vielleicht war er schon immer grausam gewesen – die Anlage dazu hatte er jedenfalls – doch Jack vermutete, dass er sich hier in diesem Land völlig verändert hatte. Mit seinen zurückgeölten Haaren und dem Schnauzer erinnerte ihn der kleine Mann an einen Kartenzocker in irgendeinem Cowboygroschenroman. Er schien die Freiheit des Yukon und alle Schandtaten, die sie erlaubte, in vollen Zügen zu genießen.
Archie war scheinbar seine rechte Hand. Sein Schläger. Jack hatte ihn im Faustkampf besiegt, und ihm war klar, dass ihm dadurch eine ganz besondere Behandlung blühte. Er hatte schon mehrere entsprechende Blicke von Archie aufgefangen und wusste, dass er nur darauf wartete, sich für das zu rächen, was Jack ihm in Dawson City angetan hatte.
Es gab noch sieben andere, die alle bis an die Zähne mit Gewehren und Pistolen bewaffnet waren. Manche trugen dazu noch kurze Holzknüppel, die mit Nägeln gespickt waren. Jack sah in keinem von ihnen eine Chance auf Hilfe oder Flucht – sie waren gierige, wilde, brutale Männer. Verbrecher, die wegen ihrer Taten immer weiter nach Norden geflohen waren und durch die Verheißung des Goldes angelockt wurden. Er hatte schon gesehen, wie einer der Sklaven dafür verprügelt wurde, weil er eine Pause gemacht hatte. Der Mann musste jetzt mit einem zugeschwollenen Auge und einem hinkenden Bein arbeiten, das vermutlich gebrochen war.
Die Sklaven. Es waren zwölf an der Zahl, Jack und Merritt eingerechnet. Ein paar Indianer, vier Schwarze und der Rest Weiße. Den Sklaventreibern war sowohl die Hautfarbe als auch die Herkunft bei der Wahl ihrer Arbeitstiere egal. Vermutlich versklavten sie alle, die stark genug zum Arbeiten waren, obwohl einer der Indianer wie achtzig aussah. Vielleicht griffen sie nur Leute auf, die sie auf irgendeine Weise geärgert hatten. Aber unter ihnen war auch ein Franzose, der kaum ein Wort Englisch sprach und auf Jack den Eindruck machte, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun.
Was auch immer die Auswahlkriterien waren, die Sklaventreiber ließen sie bis zum Umfallen schuften.
Nachdem Jack auf dem Rücken des Pferdes aufgewacht war, waren sie die ganze Nacht mit nur einer Pause marschiert, bei der es einen Schluck zu trinken und etwas trockenes Brot gab. Am nächsten Morgen hatte Williams Bande sie zum Goldschürfen in einem kleinen Fluss abkommandiert. Sie waren zuvor, als der Sonnenaufgang die Hügel im Osten erglühen ließ, an den Leichen zweier Männer vorbeigegangen. Ihre Knochen strahlten weiß durch ihr zerrupftes Fleisch hindurch. Sie waren zerfleischt worden, und bis auf die Farbe ihrer Stiefel konnte man sie kaum unterscheiden. Goldgräber-Werkzeug lag um sie herum verstreut – und Jack hatte getrocknetes schwarzes Blut auf den Pflanzen und dem Boden gesehen. Sie waren erst vor kurzem gestorben. Für die nächsten Meilen nach dem grausigen Fund schwiegen sogar die Sklaventreiber.
Wer hat das getan? hatte sich Jack gefragt. Mensch oder Tier? Weder noch? Die brutale Todesart der Männer verfolgte ihn, eine Erinnerung, so handfest wie die tiefen Schatten, die sie zu beobachten schienen. Schatten, die zu dunkel und bedrohlich waren, um ein Wolf zu sein.
Schließlich hatten sie am Fluss Halt gemacht. Der Fluss tauchte aus einer Falte in der Landschaft auf, ergoss sich aus einer engen Klamm voller Baumstämme und plätscherte dann munter über den Grund eines flachen Tals. Dort unten wuchsen wenig Bäume – es sah so aus, als trete der Fluss regelmäßig über die Ufer und flutete das Land –, und der nächste Waldrand war hundert Schritte vom Bach entfernt. Das Flussbett war gerade so tief wie ein Mann groß war, zehn Meter breit, und im Moment nur zu einem Drittel voll.
Es war das perfekte Lager für die Sklaventreiber. Falls einer ihrer Gefangenen versuchte zu fliehen, müsste er zuerst die Böschung hochklettern und dann über offenes Feld laufen, bis er den Wald erreichte. Alle Zeit der Welt, um mit einer Kugel seine Lunge zu durchlöchern.
Sie verteilten die Männer am Fluss entlang – mit gerade genug Abstand, damit sie sich nicht unterhalten konnten –, gaben jedem eine Blechpfanne und befahlen ihnen, nach Gold zu schürfen. Als einer fragte, welchen Anteil vom Gold er behalten dürfe, bekam er zur Antwort einen Gewehrkolben gegen die Kehle.
Die bringen uns eher um, als dass sie uns laufen lassen, begriff Jack. Diese Einsicht war erschütternd, aber nicht erstaunlich. Irgendwo im Wald warteten zwölf Gräber auf sie. Nicht so bald, aber irgendwann. Zuerst würde die Bande sie soviel wie möglich Gold suchen lassen. Doch eines Tages, wenn die anderen Goldsucher in der Gegend auf sie aufmerksam wurden und Verdacht schöpften, oder wenn der Neid unter den Sklavenhaltern zu groß wurde, würde man sie zwangsweise in den Wald marschieren lassen. Und dieser Marsch würde mit einer Kugel in den Hinterkopf enden.
Er schwor sich, bis dahin nicht mehr hier zu sein. Und Merritt auch nicht.
Er schaufelte die nächste Pfanne voll Sand und Steine vom Flussbett hoch und versuchte, so gut er konnte, die Ereignisse auszublenden und einfach das Schürfen zu genießen. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit nach unten, sodass er weder ihre Umgebung noch ihre grausamen Wächter wahrnahm. Er dachte an Eliza und seine Mutter, schwenkte das Wasser behutsam im Kreis in der Pfanne herum, wobei immer mehr Wasser herausspülte und bald nur noch die schwereren Bestandteile am Grund des Napfes zurückblieben. Dafür hatte er diese ganze weite Reise auf sich genommen. All die Strapazen, all diese Monate eingesperrt in der Hütte inmitten des heftigsten Winters, den er jemals erlebt hatte, dem Tod näher als je zuvor. Doch nun stand er in einem Seitenarm des Yukon River und suchte zwischen Schlamm und Flusskieseln nach glitzerndem Gold. Er versuchte, sich dadurch aufzubauen, zu begeistern, doch es gelang ihm nicht. So sehr er auch den Blick senkte, Jack konnte nicht vergessen, dass er ein Gefangener war und sämtliche Schätze, die er fand, in die Taschen von Dieben und Mördern wandern würden.
»Wenn die nur wüssten, mit wem sie sich angelegt haben«, sagte er sich, doch er hatte selbst seine Zweifel. Er begann langsam, sich selbst hier draußen besser zu verstehen, als ob er seine leuchtende Silhouette gegen einen blendenden Sonnenuntergang besser erkennen könnte. Dennoch war ihm dieser Jack London immer noch ein großes Rätsel. Was ihn gleichermaßen begeisterte und beängstigte: Er konnte nicht anders, als zu glauben, dass ihm große Taten und Wunder noch bevorstünden, dass das Leben ihn nicht grundlos hierhergeführt hatte. Doch zuerst musste er diese schreckliche Gegenwart überstehen, damit diese Taten und Wunder auch in Sichtweite rücken konnten.
»Jack«, flüsterte ihm jemand zu.
Er runzelte die Stirn und sah sich um, ohne den Kopf zu heben. Oben, auf der Uferböschung ihm gegenüber hielt einer der Sklavenbande mit dem Gewehr in der Armbeuge Wache und rauchte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Flussaufwärts kniete ein schwarzer Mann im Wasser, den Jack nur als Jonas kannte.
»Jack«, hörte er wieder und Jonas sah zu ihm auf. »Unsere Stimmen fließen mit dem Fluss. Die hören uns nicht. Verstehst du?«
Jack sah wieder zum Sklaventreiber. Der Mann war fast zehn Schritte näher als Jonas, trotzdem schien er nichts gehört zu haben.
»Der Bach fließt von mir zu dir, deshalb kannst du mich hören, aber ich dich nicht.«
Jack hustete zur Bestätigung und Jonas lächelte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
»Der Große, Reese, will ausbrechen. Heute Abend nach dem Essen, wenn sie glauben, dass wir müde sind und schlafen wollen. Wenn wir alle mitmachen, schaffen es die meisten«, sagt er.
Jack runzelte die Stirn und versuchte, Jonas anzublinzeln, doch er wusste nicht, ob Jonas ihn verstanden hatte. Beide schürften und schwenkten weiter. Verdammt, wenn ich nur zurückflüstern könnte. Das ist doch Wahnsinn! Die werden uns alle niedermetzeln. Reese war ein Riesenbär von einem Kerl, und Jack hatte sich gewundert, dass William und seine Bande es gewagt hatten, ihn zur Sklaverei zu knüppeln. Doch von dem, wie Reese mit den anderen Sklaven umging, wusste Jack, dass Reese ein feiger Schlägertyp war. Vielleicht hatte William ihn auch so eingeschätzt und gewusst, dass er allein keine Bedrohung darstellte. Solche Schlägertypen trauten sich nie allein, sondern nur in der Gruppe, wenn alle hinter ihnen standen und sie anfeuerten.
Jack sah zum Sklaventreiber und riskierte dann, Richtung Jonas den Kopf zu schütteln.
Jonas runzelte die Stirn. »Willst du etwa hierbleiben?«
Wieder schüttelte Jack den Kopf.
»Dann ist das unsere Chance. Je länger wir warten, desto schwächer werden wir.«
Jack hustete schroffer als zuvor, um seine Missbilligung auszudrücken.
»An die Arbeit, faules Pack!«, bellte der Aufseher. Er kam einige Schritte auf sie zu und kickte mit dem Fuß ins Wasser, sodass es Jack kalt ins Gesicht spritzte. Jack wischte es rasch weg und blickte Jonas zornig und kopfschüttelnd an. Doch Jonas hatte den Blick schon wieder zu seiner Schürfpfanne gesenkt.
Weiter bachaufwärts, etliche Männer weiter, sah Jack Merritt. Er war in seiner eigenen Welt versunken, schürfte stetig und methodisch. Seit Jims Tod war Merritt die Lust an der ganzen Reise vergangen.
So sollte es mir wohl auch gehen, dachte Jack. Doch traurig, wie er war, schien die Zukunft für ihn immer noch eine aufregende Verheißung. Er war nach wie vor überzeugt, dass die Reise für ihn gerade erst begonnen hatte.
Jack konnte nicht umhin, sich an der Schönheit dieser Gegend zu berauschen. Der Fluss war zwar durch menschliche Grausamkeit entstellt, doch die Hügel und Wälder um sie herum strahlten die reine, unberührte Wildheit der Natur aus. Er atmete den Geruch des Flusses und des Waldes ein und spürte die willkommene Wärme der Sonne auf seiner Haut.
Neben dem stetigen Rauschen des Flusses hörte er außerdem manchmal Vögel singen, doch wie sehr er auch lauschte, er vernahm kein Wolfsgeheul. Er versuchte seine Sinne zu schärfen, um mögliche Beobachter aus dem Wald zu spüren. Bloß weil er kein Wolfsgeheul hörte, hieß das nicht, dass der Wolf nicht da war. Er beobachtet mich immer, glaubte er zwar, er wäre aber für ein Zeichen der Bestätigung dankbar gewesen. Er spürte die unendliche Weite der Wildnis, ihre Verlockung in seiner abenteuerlustigen Seele. Sie rief ihm zu, und er schwor, ihr zu folgen.
Jack hasste diese Männer für ihre Grausamkeit, ihre Dummheit und Unmenschlichkeit. Doch am meisten hasste er sie dafür, ihm das Erlebnis zu rauben, das er mehr als alles andere ersehnte: Die Freiheit, die Wildnis zu erkunden und die Gelegenheit, ein Teil von ihr zu werden.
Die Arbeit war hart, und Jack musste oft aus dem Fluss trinken. Das Wasser war von der Schneeschmelze immer noch eiskalt. Je mehr er trank, desto hungriger wurde er. Irgendwann müssen sie uns etwas zu Essen geben, dachte er, sonst werden wir irgendwann zu schwach, um ihnen von Nutzen zu sein.
Gerade als der Hunger ernsthaft an seinen Innereien zu nagen begann, riefen die Sklavenhalter die Mittagspause aus, und die Männer legten ihre Pfannen beiseite. Jack sah den steilen Abhang südlich des Flusses hinauf. Er war dicht bewaldet, und die Bäume rundeten die rauen Konturen der Landschaft ab. Da ist etwas, erkannte er. Als er die Augen zumachte, spürte er nichts, doch ein Teil des Hügels war vor seinen Sinnen verschlossen, oder immun dagegen. Ein weißer Fleck in der Wildnis. Geheimnisvoll und voller Angst. Er schauderte.
»Hinsetzen und nicht bewegen!«, brüllte Archie allen zu. »Wer aufs Klo muss, macht es im Sitzen.«
Dankbar setzte sich Jack hin und zog seine frierenden Füße aus dem Wasser. Er fragte sich zum ersten Mal, wo ihre ganze Ausrüstung wohl abgeblieben war. Vermutlich verstaubte sie in den Lagerschuppen hinter dem Yukon Hotel. Dort waren seine warmen Stiefel, Extrakleidung, Handschuhe und Mützen. Stattdessen musste er nun raue Arbeitskleidung tragen, die Williams Leute ihm gegeben hatten. Es war zwar Frühling, aber trotzdem war es kalt.
Archie kam mit einer Tüte Proviant die Schlange der Männer entlang. Er reichte jedem ein Stück Brot und einen Streifen getrocknetes Fleisch, das die Sklaven alle gierig verschlangen. Reese nickte dankbar für sein Essen, und obwohl Archie keine Reaktion zeigte, sah Jack, wie geschickt das war: Sie sollen denken, er ist unterwürfig und zahm. Reese war vielleicht ein Feigling und ein Fiesling, aber er bereitete seinen Ausbruch geschickt vor. Nicht geschickt genug! Jack musterte die Sklaventreiber, ihre Messer und Gewehre, ihre grausamen Gesichter. Ihm war klar, es würde mehr als Geschwindigkeit und Entschlossenheit erfordern, um auszubrechen. Wenn die Sklaven wirklich entkommen wollten, würden sie William und seine Leute umbringen müssen.
»Wieso glaubst du nicht, dass es klappt?«, wollte Jonas wissen. Er war ein dutzend Schritte von Jack entfernt, dennoch trug es seine Stimme bis hierhin. Keiner behelligte sie. Vielleicht erlaubten die Sklaventreiber den Männern diesen kurzen Austausch.
»Das ist verrückt«, meinte Jack. »Die sind bewaffnet! Wir müssen auf die richtige Gelegenheit warten, wir müssen …«
»Warte mal«, sagte Jonas. Er drehte sich um, und Jack wusste, er redete mit seinem nächsten Nachbarn in der anderen Richtung. Fasziniert beobachtete er, wie das Gespräch von Mann zu Mann weitergegeben wurde, ohne dass die Sklavenhalter etwas davon mitbekamen. Köpfe senkten sich oder neigten sich zur Seite, um besser zu hören, und Jack konnte die Stimmen verfolgen, obwohl er sie nicht mehr hören konnte.
Die Flüsterpost erreichte Merritt. Er nickte einmal, doch dann stand Archie vor ihm und reichte ihm seine Essensration. Merritt nahm sie, ohne aufzusehen oder etwas zu sagen, und Archie ging weiter. Jack sah Merritt das Essen an seinen Mund führen, und bevor er hineinbiss ein paar Worte sprechen.
Die Botschaft erreichte Reese, der gerade seinen Mund nach dem Essen abwischte. Er bewegte sich langsam und bedächtig. Seine langen Haare hingen ihm ums Gesicht, sein voller Bart verdeckte den Mund. Er bückte sich und schürfte mit der Hand Wasser aus dem Fluss. Jack sah, wie er beim Trinken ein paar Worte antwortete.
»Bitte sehr, ein königliches Festmahl«, sprach Archie, der mittlerweile Jack erreicht hatte und in seiner Tüte nach einem Stück Brot grub. Jack merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief, und er konnte neben dem Geruch des Flusses und Waldes sogar das trockene Brot riechen.
Er streckte die Hand aus.
»Mist«, sagte Archie und ließ das Brot in den Fluss fallen. Es schwamm davon, saugte sich mit Wasser voll und sank schon. Jack griff nach seinem Essen und Archie schlug ihm gegen die linke Schulter. Nicht fest, aber genug, um Jack aus dem Gleichgewicht zu bringen, sodass er kopfüber in den Fluss stürzte.
Prustend kam er wieder an die Oberfläche, wo er von Archies lautem Gelächter begrüßt wurde.
»Quäl die Tiere nicht«, sagte jemand. William. Er war aus den Zelten aufgetaucht, die die Sklavenbande aufgebaut hatte, und überquerte nun die Wiese zum Fluss.
»Der hier beißt nicht«, grinste Archie.
Zitternd kroch Jack aus dem Fluss.
»Nicht mehr«, sagte William. Wieder einmal bemerkte Jack die eisige Kälte in den Augen des Anführers. Als wäre er völlig leer innen drin, dachte er und war erleichtert, dass er mit den nassen Kleidern einen Grund für sein Schaudern hatte.
»Da«, bemerkte Archie. Er ließ einen Fetzen Trockenfleisch auf die Erde fallen und trat im Weggehen drauf.
Jack presste die Lippen zusammen. Sein Herz schlug schneller. Nicht jetzt, dachte er, doch die Versuchung war groß. Er könnte in einem Augenblick bei Archie sein, ihm das eigene Messer aus dem Gurt ziehen und es dann an seinen Hals hochreißen …
»Reese sagt, du bist nur ein Junge«, flüsterte Jonas ihm zu. »Er sagt, du hast keine Ahnung. Du sollst den Mund halten und auf ihn hören, wenn du leben willst.«
Jack blinzelte Jonas stumm zu, da Archie noch kichernd von ihm wegspazierte. Außerdem war er sich bewusst, dass William ihn mit kalt berechnenden Augen anstarrte.
Jack setzte sich, rieb den Schmutz von seinem Trockenfleisch und begann zu kauen.
Sie mussten den ganzen langen Nachmittag arbeiten. Gegen Mitte des Nachmittags brachte ihnen ein anderer Sklaventreiber eine Handvoll Kekse, und diesmal bekam Jack seinen Anteil. Für die meisten Bandenmitglieder war er wohl nur einer von vielen Gefangenen. Es waren Archie und William, die ihn auf dem Kieker hatten. Diese Information speicherte er gut ab.
Mehrmals riskierte er einen Blick stromaufwärts. An mehreren anderen Männern vorbei sah er Merritt vor sich hinarbeiten und fand, sein Freund war durch das, was passiert war, irgendwie weniger geworden. Er war zwar immer noch genauso groß und kräftig, aber nun hatte er etwas Zerbrechliches an sich, als sei ein Teil von ihm verkümmert, als sie Jim erschossen hatten. Er hat seinen Freund sterben sehen, überlegte Jack. Das muss furchtbar gewesen sein.
Hinter Merritt arbeitete Reese. Einmal erwischte der große Mann Jack dabei, wie er ihn beobachtete, und verzog das Gesicht. Die beiden waren zu weit auseinander, um sich effektiv zu verständigen, deshalb wandte sich Jack wieder seiner Arbeit zu und schürfte wieder, ohne Reese weiter zu beachten. Der Typ ist ein Idiot, dachte er. Aber Jack machte sich Sorgen: Wenn Reese, wie angekündigt, an diesem Abend den Ausbruch wagte, würden Jack und Merritt mit hineingezogen. Die Ereignisse würden sich überstürzen, und er würde für die unüberlegten Entscheidungen eines anderen büßen müssen.
Bei einem Sklavenaufstand, das war ihm nur allzu klar, wäre er der Erste von ihnen, der den Zorn der Sklaventreiber zu spüren bekäme. Jack machte eine Schürfpause, sah ins fließende Wasser hinab und erblickte den wunderschönen, tief blauen Himmel, der sich dort spiegelte. Vielleicht wusste Reese ja von ihm, Archie und William, und baute darauf, um seine eigene Flucht damit zu unterstützen.
Vielleicht hatte Merritt es ihm erzählt.
Ein Schatten glitt vor ihm vorbei, und er bewegte seine Pfanne wieder, kippte Wasser und Sand in den Fluss.
Sie schufteten, bis es Abend wurde und zu dunkel war, um weiterzumachen. Dann scheuchten die Sklaventreiber sie wieder in die Mitte der kreisförmig angeordneten Zelte. Es waren fünf Zelte, aber Jack war klar, dass sie nicht für die Sklaven bestimmt waren. Die würden am Feuer unter freiem Himmel schlafen müssen, die Fußgelenke an dicke Pflöcke gebunden. Am Feuer lag ein Haufen aus rauen, ungegerbten Tierhäuten, und er konnte schon ihren üblen Geruch riechen. Nach einer Nacht würden sie alle nach toten Tieren stinken, und auch ein Bad im eiskalten Fluss würde den Gestank nicht abwaschen.
Die Hunde der Sklavenhalter bellten sie an, während die erschöpften Gefangenen sich setzten und aufs Essen warten mussten. Aus einer Büchse, die über dem Feuer hing, kam der Geruch von frischem Kaffee herübergeweht. Jack schloss die Augen und versuchte, den Geruch zu verdrängen. Doch unweigerlich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er dachte daran, wie er mit Merritt und Jim auf dem Chilkoot-Pass Kaffee getrunken hatte und wie vertraut ihm die beiden Männer schon damals vorgekommen waren.
»Es läuft heute Abend«, raunte Jonas, als er nah genug war.
»Dieser Idiot!«, fluchte Jack. »Erst müssen wir sie beobachten, ihre Schwächen in Erfahrung bringen. Hast du ihre Gewehre gesehen?«
»Hast du gesehen, wie viel wir heute zu essen bekommen haben?«
Jack seufzte. Mit gespitztem Mund sah er Jonas an, bemerkte dann einen Aufpasser, der sie im Auge hatte. »Wir ziehen wahrscheinlich flussaufwärts«, sagte er laut.
»Ja, da wurde auch das erste Gold entdeckt«, ergänzte Jonas. Der Sklaventreiber blickte wieder weg, und Jonas fuhr leise fort: »Wir müssen hier weg! Reese hat einen Plan, er weiß, was er tut und …«
»Reese wird uns alle umbringen, Jonas.« Jack sah, dass der Mann fast die Fassung verlor, und spürte seine Verzweiflung. Wen hatte er daheim zurückgelassen? Frau und Kind? Seine Mutter, wie Jack, die auf Hilfe von ihrem goldsuchenden Sohn hoffte? Nun saß er hier, gefangen und versklavt wie seine Vorfahren vor wenigen Jahrzehnten, und da kam ein Mann daher, der sagte, er würde für seine Freiheit kämpfen. Jack verstand sehr wohl die Verlockung, die von Reese und seinen Plänen ausging. Er konnte es sehr gut nachempfinden. Ihm war allerdings auch klar, dass die meisten von ihnen um Mitternacht tot wären, wenn der Rädelsführer mit seinen Plänen Ernst machte.
Und Jack würde als Erster sterben.
Das Essen kam. Es wurde von ein paar Männern ausgeteilt, die er noch nie hatte sprechen hören. Diesmal bekam Jack die gleiche Portion wie alle anderen. William und Archie waren wohl anderweitig beschäftigt.
Während die Männer aßen, rutschte Jack nach und nach in die Mitte der Gruppe. Dort saß Merritt und neben ihm Reese. Es war ihnen sehr wohl bewusst, dass Jack näherkam.
»Merritt«, sagte Jack und kaute auf einem zähen Stück Trockenfleisch. Merritt nahm ihn kaum zur Kenntnis. Er sah ihn kurz an und blinzelte.
»Junge«, sagte Reese, »immer noch nicht zur Vernunft gekommen?«
»Ich bin hier nicht der Unvernünftige«, entgegnete Jack. »Du wirst uns alle umbringen, und ich werde als Erster daran glauben müssen.« Er sah Merritt an, als er das sagte, und hoffte auf irgendeine Reaktion, doch es kam keine.
»Was soll an dir so besonders sein?«, erwiderte Reese.
»Ich habe Archie schon eine Tracht Prügel verpasst«, erklärte Jack. »Als wir in Dawson waren. Er hat mich auf dem Kieker und wartet nur auf seine Gelegenheit. Wenn du mit deinem Plan heute Nacht Ernst machst, kriege ich die erste Kugel ab.« Reese grunzte und zuckte die Achseln. Jacks Fuß schnellte vor und traf den großen Kerl am Bein. Reese blitzte ihn wütend an. »Und du kriegst die zweite«, fuhr Jack fort. »Ich wette, William wird Rache wollen, wenn seine Sklaven rebellieren. Dann wird er nämlich nach Dawson zurückgehen müssen, um Nachschub zu holen, oder vielleicht einfach das nächste Goldgräberlager überfallen, vielleicht eins mit Frauen und Kindern. Dir schießen sie nur in die Hüfte oder in den Bauch, einfach um dich aufzuhalten. Wenn alle anderen tot sind, dann kriegst du ordentlich was ab.« Er biss noch ein Stück Trockenfleisch ab und kaute. Merritt hatte den Blick gesenkt.
»Wir überraschen sie«, meinte Reese. »Jetzt haben sie vielleicht die Oberhand, weil wir alle noch schockiert und entsetzt sind über das, was uns passiert ist. Da verlassen sie sich drauf. Wenn wir jetzt zuschlagen, ist das unsere beste Gelegenheit, sie zu überraschen. Je länger wir warten, desto wachsamer werden sie sein.«
»Wen willst du zuerst ausschalten?«, fragte Jack und band seine Stiefel dabei zu. Sie durften nie lange Blickkontakt halten, damit die Wachen ihre Unterhaltung nicht bemerkten.
»Den Nächstbesten. Seine Waffen schnappen, dann weiter zum Nächsten.«
»Schon mal einen Mann erschossen?«, erkundigte sich Jack. Er sah die Antwort in den Augen des kräftigen Mannes. Der sah einen Moment lang sogar richtig ängstlich aus.
»Noch nicht«, gab Reese zu.
Jack merkte, wie die anderen Männer zuhörten. Er sah sich um, um sicherzugehen, dass die Sklaventreiber nicht zuhörten. Vorerst schien die Luft rein zu sein.
»Du musst zuerst den Stärksten ausschalten«, stellte Jack fest. »Nicht den Lautesten, sondern den Grausamsten, der nicht zögern würde, einem Mann kaltblütig in den Rücken zu schießen. Einen kennen wir schon, aber es gibt sicher noch andere von der Sorte. Wir brauchen Zeit, um sie kennenzulernen.«
»Du bist doch nur ein kleiner Junge!«, zischte Reese.
»Und du bist ein Bär ohne Biss.«
»So redet man nicht mit mir!«
»Doch, hab ich gerade«, trotzte Jack. Und da wusste er, was zu tun war. Er hatte es wohl schon länger gewusst – den ganzen Nachmittag –, aber hier und jetzt wurde ihm klar, was passieren musste. Die meisten Männer unterstützten Reese, denn der Lockruf der Freiheit war stärker als die Klugheit der Vorsicht. Also musste er den Männern beweisen, wer der Klügere und Stärkere war. Er musste ihnen zeigen, wer das Zeug hatte, sie wirklich in die Freiheit zu führen, und hier in der Wildnis kam man mit Diplomatie nicht weiter.
Reese brannte schon auf einen Kampf mit ihm.
Jack atmete tief durch, sah die anderen Männer an – erwartungsvolle Gesichter, traurige Blicke, manche davon schon gebrochene Männer – und dann blieb sein Blick an Merritt hängen.
Die Augen seines Freundes weiteten sich, als er verstand, was Jack vorhatte. »Nein, Jack, tu’s nicht …«
Jack machte einen Satz nach vorne und schwang mit der Rechten nach Reeses Kopf. Seine Faust traf den Mann dumpf am Schädel, die Männer riefen aufgeregt durcheinander, und der Kampf seines Lebens hatte begonnen.
Darauf war Reese nicht vorbereitet gewesen. Auch wenn er sich gern aufführte wie ein harter Kerl, hatte Jack ihn genau richtig eingeschätzt: Er war ein Feigling, der sich in der Rolle des Anführers gefiel. Jacks fliegende Fäuste warfen ihn zur Seite um und beide stürzten gefährlich nah ans Feuer.
Stimmengewirr erhob sich um sie, dann stieg Jubel auf, als Reese sich wieder fing und einen schweren Faustschlag gegen Jacks Schulter landete. Er bäumt sich auf und warf Jack ab, packte einen schweren, brennenden Holzknüppel aus dem Feuer und schwang ihn über dem Kopf.
Jack rollte weg und spürte, wie der Knüppel nah bei seinen Füßen auf den Boden donnerte. Funken schlugen und trafen die nackte Haut über seinen Socken. Die Wärme war ihm fast willkommen. Er rappelte sich wieder auf und wirbelte herum, bereit, den Angriff abzuwehren. Aber Reese stand einfach da und schwang den qualmenden Knüppel nach links und nach rechts wie ein riesiges Pendel.
Das ganze Lager versammelte sich, um zuzusehen. Die Sklaven waren aufgesprungen und hatten einen engen Kreis um sie gebildet. Sie versuchten so zu wirken, als wenn sie nichts damit zu tun hatten, anstatt sie anzufeuern. Jack sah Merritt unter ihnen, der als Einziger von ihnen wirklich besorgt wirkte.
Er ist immer noch mein Freund, dachte Jack. Inmitten eines Kampfes, bei dem es auch darum ging, Merritts Leben zu retten, freute ihn dieser Gedanke ganz besonders.
Hinter den Gefangenen schaute auch Williams Bande zu. Jack bemerkte sieben oder acht von ihnen, die sich innerhalb des Zeltringes versammelten, darunter William und Archie. Die anderen schoben scheinbar immer noch jenseits der Zelte Wache und ließen sich auch nicht von dem Gewaltausbruch irritieren. Jack war beeindruckt von dieser Disziplin, eine wichtige Beobachtung. Seht ihr nicht, wie gut organisiert sie sind? wollte er Reese anbrüllen.
Doch da kam Reese schon auf ihn zu und schwang den schwarzen Knüppel wieder in einem großen Bogen. Jack duckte sich und schlug Reese in den Magen. Seine Faust tauchte in Bauchfett, aber der große Mann machte nur Uff! und taumelte atemlos zur Seite. Jack ließ nicht locker. Er schlug ihm an die Schläfe, doch Reese überraschte ihn, indem er ihn aus dem Weg klatschte. Jack stolperte und ging hart zu Boden.
Er konnte hören, wie die Sklaventreiber Wetten über den Ausgang des Kampfes abschlossen. Sein Sturz hatte wohl die Chancen verändert.
Jack stand auf und machte sich auf den nächsten Angriff gefasst. Doch wieder zögerte Reese. Von irgendwo unter seinem wilden Haarwuchs kam Blut hervor. Es lief ihm über die Wange und floss ihm in den genauso ungepflegten Bart. Er sah aus wie ein wilder Waldschrat aus dem Märchen, doch sein Blick zeugte von einer viel zahmeren Herkunft. Einen Moment lang fragte sich Jack, wo Reese wohl herkam und wer daheim auf ihn wartete. Dann kam der Hüne wieder auf ihn zu – vielleicht wurde ihm endlich klar, um was es hier ging –, und Jack trat beiseite.
Der Kampf wurde gleichmäßiger und gewalttätiger. Reese hatte die Blicke der Zuschauer gesehen und wusste, dass er siegen musste, wenn er der Obermotz bleiben wollte, zu dem er sich erkoren hatte. Und Jack sah Merritts verlorenen, sehnsüchtigen Ausdruck und wusste, er musste seinen Kumpel retten. Die erste Kugel würde Jack gelten, ja, aber der Gedanke, dass Merritt sterben würde, weil Jack ihn nicht schützen konnte, war ihm unerträglich.
Die Männer wurden immer wilder, wie ein Rudel Hunde – oder eine Meute Wölfe –, die darauf warteten, welcher der beiden Kämpfer siegen, und welcher sich dem anderen unterwerfen würde. Seine Mitgefangenen und ihre Sklaventreiber jubelten und höhnten gemeinsam. Doch dahinter stand noch etwas anderes. Ein großes gemeinsames Bewusstsein, ein Paukenschlag inmitten der zeitlosen Berge und Flüsse, als ob für die Dauer dieses Kampfes die Zeit stehengeblieben war, den Atem angehalten hatte. Plötzlich war Jack mehr als nur ein winziger Punkt in der Wildnis. Er war die Berge selbst, die tiefen Flüsse, die ihre glitzernden goldenen Schätze für diejenigen bereithielten, die den Mut hatten, danach zu suchen, und der Beobachter aus den Bergen gab ihm Kraft, eine Kraft, die aus der Angst herrührte.
Denn der Beobachter war kein Wolf.
Reese war stark, aber Jack war jung und schnell und hatte einen brutalen Instinkt, der dem anderen Mann fehlte – er hatte anderen schon mal weh getan, hatte sie bei Hafenschlägereien und Gassenkeilereien blutig in die Knie gezwungen. Es war nichts, worauf er stolz war. Es war in seinem bisherigen Leben einfach eine Frage des Überlebens gewesen, und es würde ihm auch an diesem Abend helfen zu überleben.
Das Wilde in ihm. Der Wolf. Sie traten hervor wie nie zuvor, und er dachte an die Meute, die ihn heulend umgab, und er wusste, dieser Kampf konnte nur einen Ausgang nehmen. Er schlug Reese, und als der große Mann umfiel, schlug Jack weiter auf ihn ein. Besiegt, die Hände flehentlich erhoben, doch Jack fiel weiter über ihn her, grub sich mit der Schnauze unter den stinkenden Bart des Mannes und umklammerte seinen Hals mit seinen Zähnen. Er knurrte.
»Ja«, keuchte Reese.
Wieder knurrte Jack und hörte die plötzliche Stille, die im Lager der Sklaventreiber herrschte.
»Ja«, flüsterte Reese diesmal. »Ich gebe auf. Ich gebe auf.«
Jack ließ von ihm ab, mit dem süßen Geschmack von Blut und Sieg auf der Zunge. Langsam stand er auf, und bevor Archie und drei andere sich mit Fäusten und Knüppeln über ihn hermachten, spürte er die beeindruckten, respektvollen Blicke der anderen Sklaven.