Jack konnte nicht schlafen. Die Tracht Prügel, die er hatte einstecken müssen, war schlimm genug gewesen. Er war dankbar, dass scheinbar keine Knochen gebrochen waren. Er war geschwächt, dünner als er je gewesen war, und litt an angehendem Skorbut, da er spürte, wie locker seine Zähne schon waren. Also hätte er nach der Anstrengung dieses Tages eigentlich in den tiefsten Schlaf seines Lebens fallen müssen, nachdem er zwölf Stunden lang fast ohne Nahrung nach Gold geschürft hatte. Dann hatte er noch gegen Reese gekämpft und war schließlich von Archie und den anderen vermöbelt worden …
Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein. Trotzdem konnte er nicht schlafen. Er lag auf dem Rücken und starrte die Sterne an. Der Nachthimmel entzog sowohl dem Boden als auch Jack die Wärme, egal, mit wie vielen Tierhäuten er sich zudeckte. Denn obwohl ein paar von den Männern ihm ihre hingeworfen hatten, schaffte er es nicht, sich zu wärmen. Er staunte über die Anzahl der Sterne am Himmel und fragte sich, wie viele andere Menschen im Yukon lagen, die genau wie er den Himmel anstarrten und von einer goldenen Zukunft träumten. Obwohl Jacks Situation ganz anders war – Beulen und blaue Flecken und sein Fuß an einen Pflock im Boden gefesselt –, fühlte er sich trotzdem frei. Es gehörte mehr dazu, die Seele eines Menschen gefangen zu nehmen, als ihn zu fesseln und niederzuschlagen.
Jack blinzelte, seine Augen waren schwer und wund vor Müdigkeit. Er hörte die anderen Männer um ihn herum schnarchen und hoffte, dass Merritt schlafen konnte. Hab heut dein Leben gerettet, dachte er und war sich sicher, dass Merritt das auch verstand. Er hoffte, das sie es alle verstanden, auch Reese. Er hatte dem Hünen keinen dauerhaften Schaden zufügen wollen.
Er versuchte, sich mit seiner Wahrnehmung jenseits des Lagers zu versetzen, abseits der Wachen und der Gefangenen, um die Dunkelheit zu erkunden und um zu erfahren, wer oder was dem Kampf zugesehen hatte. Auch als Archie ihn mit Holzknüppel und Fäusten geschlagen hatte, fühlte sich Jack von etwas aus der Ferne beobachtet, von etwas Schrecklichem. Und als er das Bewusstsein verlor, hatte er sich fast wie der Beobachter gefühlt. Er hatte sich ganz weit weg von seinen Schmerzen empfunden, als leide er nur hier vor Ort darunter, aber beobachtete sich eigentlich aus der Ferne.
In ihm brannte ein Hunger, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Es war nicht nur ein Hunger nach Nahrung, nach richtig gutem Fleisch, wie er es seit der Jagd von der Hütte aus nicht mehr gegessen hatte. Oder nach Obst und Gemüse, wie sie es in Dawson wenigstens in kleinen Mengen bekommen hatten, sondern nach etwas Seelischem. Etwas Tieferem.
Verzweifelt lauschte er nach dem vertrauten Wolfsgeheul, und als er es nicht hörte, fühlte er sich so einsam wie noch nie zuvor in seinem Leben. Irgendwann schlief Jack endlich ein. In seinem Traum berührte etwas sein Gesicht. Es war kühl und feucht, und Jack hob eine Hand, um es abzuwehren. Etwas anderes streifte seinen nackten Fuß. Unter den Tierhäuten, mit denen er zugedeckt war, bewegte sich etwas auf ihn zu. Er kam sich gefangen und angegriffen vor und geriet ein bisschen in Panik, als das Ding näher kam. Er spürte die seltsame Wärme des Dings, doch als es seinen Bauch berührte, war es kalt und nass.
Er machte die Augen auf. Schatten umringten ihn, die im Licht des fast erloschenen Lagerfeuers völlig geräuschlos und kaum sichtbar waren. Er hielt die Luft an und setzte sich auf. Als die Schmerzen von der Tracht Prügel ihn wieder überkamen, wusste er, dass es kein Traum war.
Um ihn herum standen zehn Schlittenhunde und starrten ihn an. Sie hatten ihn mit der Schnauze wachgestupst, doch nun, da er wach war, sahen sie ihn einfach nur an. Diese Tiere waren genauso wie Jack und Merritt die Sklaven von William, Archie und ihrer Bande. Sie hatten die Hunde gestohlen, so wie sie Hals räudigen kleinen Köter klauen wollten, als Jack und Merritt ihnen zum ersten Mal begegnet waren.
Er sah von einem zum anderen. Das Mondlicht spiegelte sich in den dunklen, feuchten Augen der Hunde. Keiner von ihnen gab auch nur einen Laut von sich. Keiner sah weg, nicht mal kurz, auch als er seine Arme unter den Tierhäuten hervorstreckte und über seiner Brust verschränkte. Es ist so irrsinnig kalt, dachte er und sah zum Feuer. Man hatte es niederbrennen lassen. Um es herum konnte er die Gestalten seiner schlafenden Mitgefangenen erkennen. Um sie standen wiederum die Zelte der Sklaventreiber als bleiche Schatten im Licht der Sterne. Und irgendwo jenseits der Zelte, so wusste er, hielten mindestens drei Sklaventreiber Wache.
Oder hätten Wache halten sollen.
»Eigentlich hätten sie schon längst nachsehen sollen, was hier los ist«, flüsterte er. Einer der Hunde kam vorsichtig näher.
Jack wich vor ihm zurück. Er wusste, wie bissig Schlittenhunde sein konnten. Doch dann merkte er, dass keine Bedrohung von dem Hund ausging, und atmete erleichtert auf. Sie umgaben ihn, aber umzingelten ihn nicht. Er streckte probeweise eine Hand aus, und der Hund wiegte seinen Kopf in Jacks offener Hand.
»Braver Junge«, flüsterte Jack. »Was gibt’s denn?«
Der Hund winselte sanft und leise. Jack spürte seine Stimme in der Handfläche vibrieren. Die anderen Hunde kamen auch näher. Einer schnüffelte an ihm, woraufhin ein anderer nach dem vorwitzigen Hund schnappte.
Was ist hier los?
Der Mond tauchte hinter seiner lockeren Wolkendecke auf. Es war Halbmond, sein silbernes Funkeln fiel wie frischer Schnee über die Landschaft. Die Zelte wurden heller, die Schatten dahinter weniger düster. Jack sah sich um und versuchte, die umhergehenden Gestalten von Williams Wachen zu erkennen, aber er sah sie nicht. Vielleicht saßen sie irgendwo, beobachteten das stille Lager und waren sich sicher, jede verdächtige Bewegung sofort zu bemerken.
Die Hunde wendeten sich ab. Jack spürte ein kurzes Bedauern, als sie weg waren, und wollte sie fast wieder rufen. Doch welche Rolle sie auch immer an diesem Abend zu spielen hatten, sie war jetzt vorbei, und er war neugierig, was als nächstes kommen würde. Irgendetwas geht hier vor, dachte er. Er versicherte sich, dass er nicht schlief, aber die Unmittelbarkeit seiner Wahrnehmung überzeugte ihn, dass er wach war. Sein Schädel dröhnte, und sein Hals, seine Arme und Beine und seine Rippen schmerzten von den Prügeln, die die Sklaventreiber ihm verpasst hatten. Doch die Schmerzen waren frisch und lebendig und so überraschend wie das plötzlich zurückkehrende Gefühl, nachdem man fast erfroren war.
Er sah über das Lager hinaus und wusste intuitiv, was immer als nächstes geschah, würde von außerhalb kommen. Und da sah er den Wolf.
Er stand unterhalb des Waldrandes, etwa dreißig Meter vom Lager entfernt, einen steilen Hang hinauf, der vom Fluss zu den höher gelegenen Hügeln reichte. Er stand an genau der richtigen Stelle, um vom eben hervorgetretenen Mond beschienen zu werden. Sein gefleckter grauer Pelz schien zu leuchten.
»Da bist du ja«, raunte Jack, und beim Klang seiner Stimme kam der Wolf auf ihn zu gelaufen. Aufs Lager zu. Nein!, dachte Jack. Nein, sie werden dich sehen, sie werden dich abknallen! Er sah sich hektisch nach den Schlittenhunden um, doch die hatten sich bereits in ihre Schlupfwinkel im Lager verdrückt wie Schatten in der Mittagssonne.
Jack konnte nur den Kopf des Wolfs und die Spitze seiner Rute sehen, während er mit sicherem Schritt und ohne das geringste Zögern näher kam.
»Sie werden dich sehen«, flüsterte er und sah sich verzweifelt nach den Wachposten um. Doch es war immer noch keine Spur von ihnen zu sehen. Nichts rührte sich zwischen den Zelten. Nichts rührte sich am Feuer.
Der Wolf verschwand zwischen den Zelten und tauchte nah bei einem verschlossenen Zelteingang auf. Er schnupperte am Zelt und ging dann auf Jack zu. Er war wunderschön. Seine Bewegungen waren elegant. Der Mondschein fiel in rollenden Wellen auf sein Fell, und die Schatten tanzten wie Rauchwolken darüber. Seine Augen leuchteten hell, heller als das ausgehende Feuer, und wichen nie von Jacks Gesicht.
»Da bist du«, sagte Jack, als der Wolf drei Meter vor ihm stehenblieb. Jack schnupperte und roch den Tiergeruch, er machte die Augen zu und konnte den Wolf atmen hören.
Der Wolf kam noch näher und drückte die Schnauze gegen Jacks Hals.
Jack riss die Augen auf und sah dem Wolf direkt ins Gesicht. Langsam öffnete der das Maul und biss in Jacks Jackenkragen. Dann zog er daran.
Er will, dass ich mitkomme, begriff Jack. »Aber …«
Der Wolf knurrte sehr leise und stürzte sich dann auf Jacks Füße. Sekunden später hatte er die Fesseln durchgebissen, mit denen Jacks Füße zusammengebunden waren, und einige Herzschläge später hatte er auch das Seil durchgebissen, mit dem Jack an den Pfosten gebunden war. Er drehte den Kopf und sah an Jack vorbei zum Wald, aus dem er gekommen war. Wieder knurrte er. Diesmal etwas lauter.
»Merritt«, entgegnete Jack. »Wenn ich abhaue und er zurückbleibt, bringen sie ihn um.«
In einer blitzartigen Bewegung packte der Wolf seine Hand mit den Zähnen. Er spürte seine feuchte Zunge, seine innere Hitze und den Druck, wo ihm die Zähne ins Fleisch bohrten. Er will mich schleppen!, erkannte er erschreckt, und wusste, er konnte sich unmöglich dagegen wehren. Doch der Wolf biss einmal leicht zu, ließ ihn dann los und ging ein paar Schritte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Jack ging in die Hocke und verzog das Gesicht vor Schmerzen, als das Blut in seine Beine zurückkehrte. Sie hätten ihn und den Wolf schon längst erwischen können, aber scheinbar tat sich ihm hier eine Gelegenheit auf – die Gelegenheit abzuhauen und Hilfe zu holen. Der Mann in Dawson hatte gesagt, dass die kanadischen Mounties in diesen ewigen Weiten des Nordens patrouillierten. Vielleicht konnte er ja abhauen und einen finden, hierherbringen, und vielleicht …
Die Nackenhaare des Wolfs stellten sich auf, er blickte zwischen Jack und dem Wald hin und her. Er trottete wieder zu den Zelten zurück … nahm dann eine der Zeltklappen zwischen die Zähne und zog daran.
»Nein!«, rief Jack lauter als beabsichtigt. Niemand rührte sich, der Wolf ließ die Klappe los und starrte ihn an. Ich kann abhauen, dachte Jack. Ich kann ihm so leicht aus dem Lager folgen, wie er hereinspaziert ist, und sobald ich abgehauen bin, kann ich den anderen helfen. Hilfe holen. In dem Moment, da er diese Chance gegen die Wahrscheinlichkeit abwägte, Williams Bande jemals überwältigen zu können – egal, wie gut sie sie beobachteten, wie viel sie über sie wüssten –, war ihm klar, es gab kein andere Wahl.
Außerdem wäre das nicht das erste Mal, dass der Wolf ihm das Leben gerettet hatte.
Sobald ich das Lager verlasse, wird er weg sein, verstand er. Er wird wieder dorthin verschwinden, woher er auch gekommen ist. Leise und zügig ging Jack los, vorbei an zwei Zelten, in denen er die Männer schnarchen hören konnte. Der Wolf stand vor ihm, strahlend schön in seinem vom Licht der Sterne funkelnden Pelz. Er folgte ihm, und während er durchs Gras in den Wald ging, erwartete er jeden Augenblick den Peitschenschlag eines Schusses und eine Kugel zwischen den Schulterblättern. Doch es passierte nichts.
Der Wolf blieb nicht stehen. Er führte ihn den Hang hinauf, aus dem Tal in die Wildnis, die dahinter lag. Doch Jacks Freude an der Freiheit währte nicht lang.
Wenige Minuten, nachdem er den Wald betreten hatte, merkte er, dass er verfolgt wurde.
Und wenige Minuten danach merkte er, dass das, was auch immer dort durch die Dunkelheit pirschte, nicht einmal annähernd menschlich war.
Er konnte es riechen: fauliges, verwesendes Fleisch, als wenn die Gedärme nach außen gestülpt wären. Es verfolgte ihn, er drehte sich um, um dem Ding ins Gesicht zu sehen. Doch egal, wie schnell er sich drehte, es war immer hinter ihm. Es machte kein Geräusch, war aber immer da. Jack rannte. Der Wolf lief ihm voraus, und immer, wenn er befürchtete, er würde ihn abhängen, verlangsamte der Wolf seinen Schritt, damit er aufholen konnte. Keine Sekunde glaubte er, dass das Ding, das ihn verfolgte, einer von Williams Männern wäre. In dem Fall wäre er stehengeblieben, um zu kämpfen. Doch dieses Ding verbarg sein Gesicht vor ihm und umschwirrte ihn wie sein eigenes Echo. Und Jack rannte.
Der Hang war steil, doch er grub Hände und Füße in die weiche Erde und schleppte sich empor. Der Wolf war dicht vor ihm, so nah, dass er ihn wieder riechen konnte, und als er sich umsah und aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahrnahm, gab der Wolf ein trauriges, leises Heulen von sich, als wäre Jack schon tot.
Tief im Tal unter sich sah er die Glut des Lagerfeuers.
Der Hang wurde etwas flacher, Jack kam schneller voran. Sein Verfolger war so dicht an ihm dran, dass er vermutlich geschrien hätte, wenn der Wolf nicht bei ihm gewesen wäre. Er konnte den üblen Gestank riechen, glaubte fast schon zu spüren, wie er bei jedem Baum und in jedem Schatten, der mit seinem verschmolz, nach ihm griff. Er sah sich wieder um, wieder verschwand das Ding, das ihn verfolgte, außer Sicht. Einen Moment lang blieb er stehen, sah sich nach links und rechts um, durch die Äste zu den Sternen hoch und auf den Schlamm zu seinen Füßen hinab. Und immer noch blieb sein Verfolger unsichtbar.
Im Lager war ich sicher!, dachte er. Menschen und Feuer um mich herum, dort war ich sicher!
Dieses Ding, was auch immer es war, spielte mit ihm. Es hätte jeden Augenblick zuschlagen und ihn töten können, wenn es gewollt hätte.
Jack schrie. Seine Stimme hallte über den Flusslauf, ein wortloser Schrei aus Wut, Furcht und Verzweiflung. Welche Albträume werde ich in den Köpfen dieser schlafenden Männer säen?, dachte er. Dann erschien sein eigener Albtraum vor ihm.
Zuerst glaubte er, es wäre sicher ein Traum, dass er bestimmt schlafen würde. In dem Fall wäre es der lebensechteste Traum aller Zeiten. Aber er würde bald aufwachen, grün und blau von den Schlägen und zitternd vor Angst wegen seinem Albtraum. Dann würde er wieder zum Fluss gehen und weiter nach Gold schürfen. Er fand diese Vorstellung irgendwie tröstlich, denn da waren die Gefahren zumindest vertraut und abwägbar: menschliche Grausamkeit. Doch hier im dunklen Wald stand eine völlig unbekannte Gefahr vor ihm und starrte ihn mit Augen an, die ihm allzu vertraut waren. Die Gefahr war völlig unbekannt.
Er starrte sich selbst ins Gesicht. Er war hungrig, schwach und ausgezehrt, seine Haut war so dünn, dass sie fast durchsichtig war, und er hatte Lücken in seinem blutigen Zahnfleisch. Von seiner schlaffen Kopfhaut lösten sich die Haare büschelweise , Hals und Backen hingen ihm wie Säcke herab. Und Jack Londons Augen – denn es waren seine Augen, in die er sah – waren älter und dunkler, als er es je für möglich gehalten hatte. Es war das Gesicht eines Mannes, der in den Abgrund der Hölle geblickt und den Wahnsinn mit zurückgebracht hatte.
Der Wendigo, dachte Jack erstaunt und erschreckt, und im selben Moment biss ihm der Wolf ins Fußgelenk. Er schrie und stürzte, und als er wieder aufsah, war das Ding weg. Er erhaschte einen Blick auf etwas weiter weg, das sich bergab aufs Lager zubewegte und dabei größer und größer wurde, bis es seine wahre, ungeheuerliche Größe erreicht hatte. Das Unterholz raschelte im Vorbeilaufen. Baumstämme knickten.
Jack wusste, was das Ding vorhatte. Jeder im Lager, auch …
»Nein«, sagte er. »Merritt! Nein!«
Jack rannte, diesmal bergab. Er hatte keinen Schimmer, was er dort unten anstellen sollte, was er tat, war nicht wirklich logisch, aber er wusste, dass er Merritt nicht im Stich lassen konnte. Nicht mit diesem … diesem …
Wieso hat mich der Wendigo verschont?, fragte er sich.
Wieder heulte der Wolf hinter ihm. Jack hörte ihn hinterherjagen, und diesmal wusste er, was kam. Er hatte ihm das Leben gerettet, ihn vom Lager weggezerrt, wo er sicher gestorben wäre … aber er hatte nicht geahnt, wie nah der Tod wirklich war.
»Nein!«, rief er, seine Stimme bebte mit dem Aufprall seiner Füße. »Nicht Merritt!« Er stürzte den Hang nach unten durch den Wald, der nur schwach vom Mondlicht erhellt wurde. Er hätte jeden Augenblick über einen Stein stolpern und sich das Bein brechen oder gegen einen Baum knallen und sich den Schädel spalten können. Doch der Wolf war hinter ihm, und sein Schutzgeist wachte über ihn. Obwohl er sich im Moment von ihm abgewandt hatte, vertraute er seinem Einfluss immer noch.
Das Ungeheuer bahnte sich seinen Weg zwischen den Bäumen vor ihm, war aber schon weit weg, viel weiter den Hang hinunter. Es verschwand, als er blinzelte, und einen Moment später spürte er, wie eine schwere Last auf seinem Rücken landete und ihn zu Boden warf. Der Wolf wälzte sich am Boden auf ihn drauf und drückte ihn nieder. Jack schlug um sich und wehrte sich, irgendwie schaffte er es, sich aufzurappeln und weiterzulaufen, auf den Waldrand zu, wo die Grasebene zum Lager führte.
Der erste Schrei stieg auf. Panisch, entsetzt und von einem schrecklichen nassen reißenden Geräusch abgewürgt.
»Nein!«, schrie Jack.
Wieder drückte ihn der Wolf zu Boden, diesmal war sein Gewicht zuviel. Der Wolf saß auf ihm drauf, und Jack musste hilflos zusehen, wie das Massaker begann. Die Bäume verstellten ihm teilweise den Blick, und dafür war er dankbar.
Der Mond verschwand wieder hinter den Wolken, das Lagerfeuer erlosch, da es von irgendetwas ausgestampft wurde, das durch das Lager stürmte. Einen Moment lang tanzten Funken und Flammen durch die Nacht, einige davon wurden vom Wind erfasst und bis zum Fluss geweht.
Der Schatten schoss im Lager hin und her, er war extrem schnell für etwas so Riesiges.
Schüsse fielen, erst vereinzelt und dann schnelle Salven von überall her. Jedes Mündungsfeuer erhellte den Schatten auf eine andere Art, aus einem anderen Winkel, einige von ihnen zusammen enthüllten im Aufblitzen eine schwer zu erkennende Gestalt, die im Lager umherpolterte. Sie war riesig, mit weißem Pelz, schwarzem Rachen und blutigen Klauen, wie die Krummdolche aus dem Orient.
Während und zwischen den Schüssen erfüllten die unablässigen Todesschreie sterbender Männer die Luft. Manche schrien nur kurz, ehe ihre Stimmen verklangen. Andere hörten gar nicht mehr auf zu schreien, ihre Hilferufe wurden vom Geräusch zerbrechender Knochen und zerreißenden Fleischs unterbrochen.
Die Gestalt bewegte sich hierhin und dorthin … und wurde immer größer und größer. Je mehr sie verschlang, desto größer wurde sie.
Es fielen noch mehr Schüsse, dann sah Jack zwei Gestalten auf sich zulaufen.
»Hierher!«, rief er, ohne darauf zu achten, ob es Sklaven oder Sklaventreiber waren. Einer fiel hin und wurde von etwas Undefinierbarem zertrampelt, sein Schrei erstickte am Boden. Der andere kam etwas weiter, aber nicht viel. Seine Arme und Beine schossen vor, als sein Körper zurückgerissen wurde, und gerade, als er verschwand – er wurde von irgendetwas Riesigem verdeckt –, sah Jack, wie sein Kopf auf dem Rumpf herumgedreht wurde.
Er sah sich nach Merritt um, aber es war zu dunkel und ein zu großes Durcheinander, um einzelne Gesichter zu erkennen.
Das Chaos ging etliche Minuten weiter. Eins der Zelte wurde hochgehoben, flatterte im Wind herab und landete auf dem Rest der Feuerstelle. Das Material schmorte und qualmte, fing aber nicht Feuer. Irgendjemand betete, sein Gebet dauerte eine ganze Weile. Vielleicht weil dieser Mann nicht zu fliehen versuchte, ließ ihn das Monster erst mal in Ruhe. Es massakrierte erst die, die wegrannten. Nach einer Weile hörte das Beten auf. Es ebbte langsam ab, anstatt ausgelöscht zu werden. Augenblicke später hörte man ein Knacken.
Eine weitere Gestalt lief Richtung Waldrand. Erst dachte Jack, es sei ein Mann, dann erkannte er, dass es zwei waren, die sehr nahe beisammen liefen. Merritt!, dachte er und hoffte verzweifelt, das Gesicht seines Freundes zu sehen. Doch als sie näher kamen, sah er sie genauer – es waren Archie, nach seinem humpelnden Gang zu urteilen, und William, nach der Art und Weise, wie er dem Großen an den Schultern hing.
Es war ein absurder Anblick, aber Jack schaffte nicht mal das geringste Lächeln. Vielleicht waren Williams Beine verletzt. Vielleicht hatte Archie auch in der größten Panik seinen Boss hochgehoben und war mit ihm losgerannt, der höchste Treuebeweis angesichts solchen Wahnsinns.
Der Wolf drückte Jack immer noch zu Boden und knurrte, als die beiden Männer näherkamen.
»Hier lang!«, rief Jack, und der Wolf knurrte wieder.
Archie stolperte und fiel, William purzelte dabei ins hohe Gras. Zwischen den Bäumen, seine wahre Größe war durch die Bäume verborgen, sah Jack die drohende Gestalt des Monsters näher kommen.
Hilfesuchend streckte Archie eine Hand aus. William stand auf, zog seine Pistole und erschoss ihn. Dann drehte er sich um und lief schnurstracks auf die Baumgrenze zu, von wo aus Jack und der Wolf zusahen. Seinen Beinen fehlte nichts, wie es schien, aber als er näher kam, machte er eine Pause und kam stolpernd zum Stehen.
Sieht er mich?, fragte sich Jack. Wahrscheinlich nicht, dafür war es zu dunkel. Doch Williams Augen waren weit aufgerissen. Er hob seine Hand, als ob er auf etwas deuten wollte, da packte ihn die Gestalt mit zwei riesigen Pranken und riss ihn in der Luft entzwei.
Jack vergrub sein Gesicht in den Händen. Der Wolf lag auf ihm, als wollte er ihn verstecken. Trotzdem konnte er sehr wohl noch hören. Die Schreie hatten aufgehört, der Angriff war vorbei. Doch diese endlose Nacht war noch lange nicht zu Ende.
Das Festmahl hatte gerade erst begonnen.