KAPITEL 9
DER SCHÖNHEIT IN DIE HÄNDE

Als er nicht länger zuhören konnte, als ihm die schmatzenden und zerfleischenden Geräusche, die der Wendigo bei seinem Festmahl machte, zuviel wurden, sprang Jack auf und floh. Der Wolf ließ ihn entkommen. Die ganze Welt schien unter seinen Füßen zu kippen und um ihn herum zu verwischen, es fühlte sich so an, als sei er irgendwie vom Wachzustand in einen schrecklichen Albtraum gesunken, ohne den Übergang ins Reich der Träume bemerkt zu haben. Er konnte das Grauen, das er mit angesehen hatte, nicht mit seiner eigenen Lebendigkeit in Einklang bringen.

Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Er schlitterte über den unebenen Boden und rannte nicht nur um sein Leben, sondern auch um seinen Verstand. Halbverhungert und schwer verprügelt, mit geprellten Rippen, tauben Beinen, einer vor Anstrengung brennenden Brust und einem Körper, der vor Erschöpfung zitterte, lief Jack London um sein Leben, und der Wolf lief mit ihm. Manchmal rannte das Tier an seiner Seite, dann lief es wieder mühelos vorneweg, schoss einen Blick zurück, um ihn weiter voranzutreiben.

Das Geräusch seines unregelmäßigen Atems erfüllte seinen Kopf. Die Finsternis war bedrückend, das Mondlicht schwand, und seine Sicht verschwamm, als er den Kopf zur Seite drehte und dort die Bäume aufragen sah. Es war aber nicht derselbe Wald, in dem er sich zuvor versteckt hatte. Den hatte er schon hinter sich gelassen. Wie weit war er gelaufen? Mindestens einen Kilometer, aber immer noch hörte er das Schnüffeln und Knurren des Wendigos.

Das Gebrüll kam über ihn wie ein Windstoß, wehte feucht und kehlig gegen seinen Rücken, viel näher als vorhin … und er wusste, der Wendigo hatte das Lager verlassen. Jack versuchte, sich dieses schwarze Maul vorzustellen, mit Blut und Gedärmen verschmiert, er öffnete den Mund und gab einen tonlosen Schrei von sich.

Lauf, Junge, lauf!, sagte er sich. Es entging ihm auch nicht, dass er für diesen Augenblick des absoluten Grauens sein Selbstbewusstsein als Mann verloren hatte und sich selber mit den Augen der restlichen Welt betrachtete, die nur sein Alter sah. Ein Junge.

Und das akzeptierte er nicht.

Er hatte der Wildnis getrotzt, war in ihrer Umarmung gestorben und lebte trotzdem. Er hatte die Natur herausgefordert, ihm ihr Schlimmstes anzutun, und dennoch überlebt. Jack hatte den Sieg nicht nur aus den Klauen der Niederlage, sondern aus dem Griff des Todes selbst an sich gerissen. Er war nicht einfach ein Junge.

Er lief immer weiter. Die Nacht umhüllte ihn und wich immer wieder zurück, wenn er aus dem Schatten in den Mondschein lief. Äste peitschten ihm ins Gesicht, sobald er in den Wald eintauchte. Auf steinigen Abhängen und Anhöhen stolperte er mehrmals, knallte auf die Knie und schürfte seine Hände auf. Und wusste schon, bevor er wieder aufstand, dass seine Blutspur eine Fährte hinterlassen würde, der der Wendigo mit Leichtigkeit folgen könnte.

Dennoch gab er nicht auf. Wenn er langsamer wurde, fiel es ihm kaum auf. Die frostige Nacht ließ ihn bis auf die Knochen frieren, sein leerer Magen verknotete sich zu einer schmerzhaften Faust, seine kaputten Rippen ächzten. Vor Schmerz biss er die Zähne zusammen. Als er schließlich den Wendigo wieder brüllen hörte – vielleicht war es auch nur das Heulen des peitschenden Windes –, schien er weiter weg zu sein.

Und ständig lief der Wolf voraus oder kam wieder zu ihm zurückgeeilt. Er knabberte an seinen Händen, wenn er schwächelte und ihn die Dunkelheit am Rande seines Bewusstseins zu überwältigen drohte. Dreimal stolperte und schwankte er mit gesenktem Kopf, am ganzen Körper zitternd, und drei Mal schnappte sich der Wolf seine rechte Hand mit dem Maul. Seine Reißzähne stachen ihm in die Haut, weckten ihn und zerrten ihn vorwärts, bis er wieder humpelnd und mit knirschenden Knochen zu laufen begann.

Wie weit war er gekommen? Meilenweit sicherlich, in keine bestimmte Richtung.

Und dann, mit halb geschlossenen Augen, verlor er einen Moment lang die Spur des Wolfes und hielt auf das niedrig stehende goldene Auge des Mondes zu. Ein Fuß vor den anderen – links, rechts, links –, bis der Boden plötzlich unter seinen Füßen verschwand. Er setzte seinen rechten Fuß ab, aber da gab es keinen Boden mehr. Seine Ferse fand etwa einen halben Meter tiefer als erwartet Halt, doch es war zu spät. Sein Schwung trug ihn über den Rand einer Schlucht, und er stürzte, mit den Armen wild in der Luft rudernd, den steinigen Abhang hinab, bis er unten aufschlug.

Jack versuchte, sich zu erheben, aber dieses Mal verweigerte sich sein Körper. Der eisige Wind peitschte die Schlucht hinauf, und er zitterte, doch dann versagten ihm sogar solche reflexhaften Reaktionen.

Er hörte in der Nähe den Wolf heulen, konnte aber diesem Ruf der Wildnis nicht folgen. Diesmal nicht. Er lauschte nach einem Brüllen, das die Antwort des Wendigos signalisieren würde, und schwebte so in die Bewusstlosigkeit.

Am Rande seiner Wahrnehmung formierte sich die Dunkelheit, und er konnte nicht anders, als sich ihrer Umarmung hinzugeben.

Er wachte mit Schmerzen auf. Wie hundertmal zuvor, wenn er verletzt oder betrunken orientierungslos aus dem Schlaf aufgewacht war, wurde ihm wieder alles klar, sobald er die Augen aufmachte. Der Schmerz hielt seine Erinnerung wach. Seine Gedanken waren so klar, die Orientierungslosigkeit, die er während seiner Flucht vor dem Wendigo gespürt hatte, war so weit weg, dass er einen Moment lang bezweifelte, jemals das Bewusstsein verloren zu haben.

Dann sah er das Mädchen, und die Welt geriet wieder aus den Fugen.

Er fühlte ein weiches Fell an seiner Wange, doch es war nicht der windschnittige Pelz des Wolfes, auf dem er lag. Stattdessen war er wie ein Kleinkind zum Wärmen in Tierhäute gewickelt, die plüschigen Pelze fühlten sich auf seinem geschundenen, geschlagenen Körper wunderbar weich an. Ein Quartett aus Bäumen bildete ein stummes Publikum, und durch die Äste hindurch sah er, wie der Himmel als Vorahnung der Dämmerung heller wurde.

Das Mädchen stand neben einem der Bäume und beobachtete ihn wie ein schüchternes Kind, das sich hinter dem Rockzipfel der Mutter versteckt. Ihre schwarzen Haare hingen ihr über die Schultern, so fein wie Seidenfäden, und im ersten Hauch des Morgens funkelten ihre Augen wie neue Kupfermünzen in den feinen Konturen ihrer exotischen Züge. Sie trug Stiefel wie die der Einheimischen und dazu ein elfenbeinfarbenes Kleid, sonst nichts. Trotz der Kälte hatte sie weder Jacke noch Mantel an, und obwohl sie atmete, sah er ihren Atem in der kühlen Frühlingsluft nicht.

Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so eine schöne Frau gesehen. Sie war vielleicht sechzehn oder auch zwanzig, er konnte es nicht sagen. Bei ihrem Anblick musste er sich fragen, ob er wirklich so klar bei Verstand war, wie er eben noch gedacht hatte.

Er atmete gleichmäßig und mühelos, und obwohl er den Schmerz in seinen Rippen noch spürte, kam er ihm plötzlich weit weg vor. Ein seltsamer Geschmack erfüllte seinen Mund. Er tastete mit der Zunge und bemerkte eine körnige, erdige Substanz darauf. Jack spuckte aus, und ein üppiger Geruch erfüllte seine Nase. Es schmeckte nach Kräutern.

Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite wie ein neugieriger kleiner Vogel. Er begriff, dass sie das gewesen war, die ihm die Kräuter in den Mund getan hatte – als Heilmittel vielleicht? Oder war es jemand anderes gewesen? Sicherlich konnte hier mitten in der Wildnis kein wunderschönes Mädchen – unglaublich, atemberaubend schön – so ganz allein ohne Mantel herumlaufen?

Er versuchte, sich aufzurichten und sich umzusehen, aber er hatte nicht genug Kraft. Seine Arme trugen ihn nicht, und sein gebeutelter, geprügelter, geschundener Körper heulte bei der leisesten Anstrengung vor Protest auf. Einen Augenblick lang flatterten seine Augenlider, doch er zwang sie, offen zu bleiben. Er weigerte sich, wieder das Bewusstsein zu verlieren, nun, da er es wieder erlangt hatte.

Er lag auf der Seite, ließ seinen Kopf zur Seite rollen und suchte die Bäume und Landschaft nach Anzeichen anderer Stammes- oder Familienmitglieder ab, die zu dem Mädchen gehören konnten, doch er sah niemanden.

»Wer bist du?«, krächzte er mit heiserer Stimme. »Hast du …?« Er fuhr mit zitternder Hand über die Felle, mit denen er zugedeckt war. »Hast du das getan, mich hierhergebracht?«

Sieben Meter entfernt kam das Mädchen nun hinter dem Baum hervor, wobei sie jedoch eine Hand auf seinem Stamm ließ, als beziehe sie daraus Trost. Sie lächelte ihn an, und er sah solch eine natürliche Unschuld in ihr, dass es ihm nur vom Hinsehen das Herz brach. Er verfluchte seine Schwäche und Verletzungen, weil er nicht auf der Stelle aufstehen und zu ihr gehen konnte.

Jack hatte keine Maßstäbe, um Liebe zu erkennen. Er war schon ein- oder zweimal verknallt oder fasziniert gewesen von einem Mädchen, sogar hypnotisiert. Aber noch nie verliebt. Auch jetzt dachte er nicht, dass es Liebe war, was er verspürte. Es war mehr das schiere Staunen.

Er musste ihr Lächeln aus seinem Kopf verbannen. Im selben Augenblick, in dem seine Augen geschlossen waren, dachte er an den Wolf, das Geisterwesen, das er für seinen Schutzengel hielt. Der Wolf hatte ihn in Sicherheit gebracht, doch nun, da der Himmel im Osten die schwarzblaue Nacht mit dem ersten Licht der Dämmerung vertrieb, war das Tier nirgends zu sehen.

Nur das Mädchen. Es fiel ihm auf, wie merkwürdig es war, dass sie keinen Mantel trug, nur dieses Leinenkleid und die Stiefel, und für einen Moment sorgte er sich, dass mit seinem Verstand etwas nicht in Ordnung wäre. Bildete er sich das nur ein? Könnten der Wolf und das Mädchen ein und dasselbe Wesen sein?

Sie lachte leise und hob eine Hand vor ihren Mund, als hätte sie seine Gedanken gelesen oder zumindest die Frage in seinen Augen gesehen.

Jack merkte, wie er wieder wegglitt und das Bewusstsein verlor. Was auch immer sie ihm gegeben hatte, es war nicht genug, um gegen die Erschöpfung anzukommen, die ihn aussaugte, die Ruhe und Erholung, die sein Körper nach der Misshandlung dringend benötigte. Er hatte von Pferden gehört, die tot umgefallen waren, weil man sie zu lange und zu hart geritten hatte, und er vermutete, dass es Menschen bei zu großer Belastung genauso ergehen konnte. Er spürte den Tod zwar noch nicht in der Nähe lauern, doch sein Körper schien reif, sich zu ergeben. Ohne Hilfe, ohne Nahrung, ohne Schutz vor den Elementen würde er hier draußen sicher sterben.

Oder auch nicht. Das hing von diesem Mädchen und ihrem Stamm ab.

Doch von einem Stamm war immer noch keine Spur zu sehen.

»Wer bist du?«, fragte er wieder.

Der Wind drehte wieder, ein Windstoß ließ die Äste über seinem Kopf rauschen, und Jack erstarrte. Der Wind trug einen vertrauten Geruch zu ihm: der ekelerregende Gestank von frischem Blut und fauligem Fleisch, den er vergangene Nacht kennengelernt hatte, Auge in Auge mit dem verfluchten Teufel des Yukon.

Das Mädchen erstarrte ebenfalls, ihre Nasenflügel weiteten sich, ihre Augen auch und sie spannte die Beine ein wenig an. Als er sie anstarrte, musste er an ein scheues Reh denken, dass kurz vor der Flucht stand.

»Lauf«, sagte er. Er schluckte kräftig. Was auch immer sie ihm in den Mund getan hatte, es schmeckte wie Zimt. Furcht und Entsetzen hatten ihn ausgelaugt, er wusste, dass er nicht mehr die Kraft hatte wegzulaufen. Jemand hatte ihn in der Nacht bewegt und hierhergebracht, doch der Wendigo hatte seine Fährte aufgespürt und war schon nah.

Nah genug, ihn zu riechen.

Jack fühlte sich merkwürdig von sich selbst losgelöst. Wenn die Wildnis ihn an diesem frostigen Frühlingsmorgen holte, dann sollte es so sein. Er würde sich zwingen aufzustehen, und wenn er noch die Arme heben konnte, würde er kämpfen und hier sterben – als ein weiteres Opfer des Wendigo.

Es brüllte in der Ferne.

»Lauf, verdammt noch mal!«, befahl er dem Mädchen heiser.

Sie lief aber nicht weg. In drei Pulsschlägen war sie bei ihm und fiel auf die Knie. Sie hielt ihm mit der linken Hand den Mund zu und machte Psst! Jack wollte sich wehren. Er hörte den Wendigo jetzt kommen, unweit von ihnen knisterten und knackten die Zweige der Bäume. Er musste ganz in der Nähe sein, denn Jack glaubte, schon sein tiefes Knurren zu hören und das Klackern seiner Zähne in dem geifernden Maul.

Dummes Ding. Was hatte sie nur vor? Er wollte sie anflehen und anschreien, damit sie fortlief.

Er zwang sich auf die Knie hoch, wankend, und schaffte es, einen Fuß unter sich zu setzen. Der plötzliche Schmerz schwappte mit solcher Wucht über ihn, als hätte er durch unsichtbare Schläge jeden einzelnen blauen Fleck neu verpasst bekommen. Zähneknirschend und ganz bewusst atmend, da er sonst befürchtete, kotzen zu müssen, begann er sich zu erheben.

Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Anstrengendes machen müssen.

Doch das Mädchen zog ihn wieder zu Boden. Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Er wollte sie anschreien, ihr sagen, dass der Wendigo sie beide umbringen würde. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr seine Lunge, als er zu Boden ging, doch das Mädchen blieb nicht liegen, sondern rollte ihn wieder in die Felle ein, in die sie ihn schon in der Nacht eingepackt hatte. Nun deckte sie sie beide damit zu, kletterte auf Jack, als ob sie ihn mit ihrem Körper schützen wollte. Sie war so nah, so vertraut, ihr Atem an seinem Hals so herrlich warm, ihr ganzer Körper roch nach Zimt.

»Nein«, wisperte er.

Sie fixierte ihn mit einem Blick, der ihn besänftigte, ein Blick voller Weisheit und Sicherheit. »Sei still«, sagte sie. Er staunte, dass sie seine Sprache konnte.

Jack schwieg.

Gemeinsam lagen sie unter den Fellen, ihre Herzen klopften so nah beieinander. Trotz all seiner Schmerzen, all seinem Entsetzen, zitterte er beim Gefühl ihrer Nähe, ihres Körpers so eng an seinem. Und diesmal nicht aus Angst.

Dann röhrte der Wendigo wieder, jetzt so nah, dass er in der Lichtung zwischen diesen vier Bäumen sein musste, direkt über ihnen. Das Licht des Morgens hätte ihn vielleicht endlich beleuchtet, den mysteriösen schwarzen Umhang abgeworfen, der ihn umgab. Allerdings befürchtete Jack, das Ungeheuer sei mehr ein Geist als Materie, ein fleischgewordener Fluch. Und sehen wollte er ihn gar nicht.

Beim Gestank der Bestie würgte es ihn. Er biss sich auf die Unterlippe, damit er sich nicht übergeben musste und keinen Laut von sich gab. Der Wendigo würde jede Sekunde die Felle wegreißen, sie packen und mit diesen krummen Klauen zerfetzen, ihr Fleisch abreißen und an ihren Knochen nagen. Hier sollen wir uns verstecken, zitternd unter einer Pelzdecke? Das Mädchen muss wahnsinnig sein.

Er machte die Augen zu und beruhigte sich mit tiefen, langsamen Atemzügen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Er befeuchtete mit der Zunge seine trockenen, aufgeplatzten Lippen, bebte, mit dem Mädchen auf sich, lauschte dem Grunzen und Geifern des Wendigos und hörte zwischen diesen Lauten ein leises Kichern, wie die geheimen Freuden eines Verrückten. Irgendwann war dieses Monster ein Mensch gewesen, sein unersättlicher Hunger entsprang den tiefsten Abgründen der seelenlosen menschlichen Triebe.

Das Monster suchte nach ihnen. Es schabte an Wurzeln und pochte gegen Baumstämme. Doch seltsamerweise, obwohl sie offen dalagen, nur von Fellen bedeckt, und die Dämmerung mit jedem Augenblick mehr der Morgenröte wich, konnte der Wendigo sie nicht entdecken.

Völlig ungläubig, als ob jeden Moment ihr Glück ein Ende haben würde, machte Jack die Augen auf und sah das Mädchen an. Sie kam ihm unglaublich schön vor wie nicht so ganz von dieser Welt. Sie neigte den Kopf etwas zur Seite, ihre Augen funkelten leicht belustigt. Wieder presste sie ihm einen Finger auf die Lippen, damit er still blieb, doch dann strich ihm dieser Finger über den Bart, der ihm während der Reise gewachsen war.

Ihr unmögliches Versteck zu zweit war wie Zauberei.

Er spürte die Gegenwart des Wendigos, als sei seine bloße Existenz genug, um Jack dort gefangen zu halten. Doch dann hörte er Vögel zwitschern, ihr Gesang mischte sich mit der hungrigen Pirsch des Ungetüms, und dessen Geräusche veränderten sich auch. Der Wendigo knurrte verwirrt, vielleicht wunderte er sich, die Fährte verloren zu haben, der er die ganze Nacht gefolgt war. Oder möglicherweise beunruhigte ihn der anbrechende Morgen, denn solch ein Ungeheuer war sicher eine Kreatur der Finsternis.

Äste knackten und Vögel flogen alarmiert auf, doch Jack hörte, wie die Schritte sich entfernten, und nun war klar, dass das Monster die Jagd aufgegeben hatte.

Bald hörte er nur noch die Vögel und den Wind und das sanfte Atmen des Mädchens. Er spürte nur noch das Pochen ihrer Herzen und den Schmerz, der in Wellen wieder über ihn hereinbrach.

»Jetzt habe ich dich«, hauchte sie. »Bei mir bist du in Sicherheit.«

Sie küsste ihre Fingerkuppen und berührte damit seine Stirn wie bei einem Segen. Eine Segnung. Dann warf sie die Felle ab, und er musste im gleißenden Morgenlicht die Augen schließen, was er als sehr angenehm empfand.

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Sein Körper verlangte nach Ruhe. Mit dem Mädchen an seiner Seite, die zärtlich seine Haare streichelte und ihm Dinge in einer Sprache zuflüsterte, die wie keine klang, die er je im Land des Nordens gehört hatte, ließ er sich endlich fallen. Als ihn die Bewusstlosigkeit überkam, schoss ihm nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Er fragte sich, wie dieses Mädchen, dieses zarte Geschöpf, ihn aus der Schlucht, wo er gelegen hatte, zu dieser Lichtung mit den vier Bäumen getragen haben konnte.

Dann verstummten seine Gedanken, der Vorhang seines Verstandes ging zu, das Licht in seinem Kopf verlosch. Nur süßes Vogelgezwitscher und die Berührungen ihrer zarten Hände geleiteten ihn in die Dunkelheit.

Er wachte in einem Märchen auf.

Zuerst spürte er nur das Fell an seiner Wange, doch als das Bewusstsein langsam zurückkehrte, merkte er, dass ihm – zum ersten Mal seit Tagen – warm war. Wärmer sogar, als damals in der Dawson Bar. Jack fühlte sich sogar wärmer, als es je seit vergangenem Sommer in San Francisco der Fall gewesen war. Er lag auf dem Fell und genoss die Wärme.

Er machte die Augen auf und sah einen offenen Kamin vor sich, in dem ein Feuer loderte. Er befeuchtete mit der Zunge seine trockenen Lippen. Seine Gesichtshaut fühlte sich trocken und straff an in der strahlenden Hitze des Feuers, und jede Bewegung, jedes Zucken verursachte ihm Schmerzen. Trotzdem lächelte er und zog die Decke bis unter sein Kinn hoch – denn jemand hatte ihn im Schlaf zugedeckt.

Nun war er völlig wach und merkte, dass ihm tatsächlich zu heiß war. So absurd die Vorstellung auch war, warf er dennoch die Decke ab und freute sich über den kühlen Windhauch, der über den Fußboden strömte.

Jack setzte sich auf und sah sich um. Steif und schmerzgeplagt, wie er war, fühlte er sich, als wäre er hundert Jahre alt. Doch sobald er seine Umgebung wahrnahm, war sein Schmerz vergessen. Zu Hause hätte er das hier für eine sehr schlichte Hütte gehalten, aber hier im rauen Yukon war es beinahe fürstlich. Die Hütte bestand nur aus einem einzigen Raum, doch der war etwa zwölf Meter auf jeder Seite lang, seine Bohlen und Bretter strahlten wie frisch geschlagen und ihre Fugen waren so gerade und glatt wie von einem Meisterhandwerker verlegt.

Der große offene Kamin war mittig in der einen Wand eingelassen, während an der Wand gegenüber ein schwerer, schwarzer Schwedenofen stand, mit einem Kaminrohr zur Decke. Hinten und vorne hatte die Hütte Türen und neben jeder – was Jack am meisten erstaunte, so weit entfernt von allem, was man Zivilisation nennen konnte – ein hohes Glasfenster, das aus vielen kleinen unregelmäßigen, mundgeblasenen Glasscheiben bestand. Durch diese beiden Fenster strömte das Sonnenlicht herein, und dahinter konnte man den Wald erkennen.

Dicke Pelze bedeckten als Teppiche den Fußboden. Vorne am Fenster standen zwei Stühle, um das beste Licht zu bekommen, und neben der Tür war ein Regal voller Bücher. Beim Anblick dieser Bände, manche in altem Leder und manche mit goldglänzend geprägten Buchstaben, machte sein Herz einen Freudensprung.

Der hintere Teil der Hütte war als Aufenthaltsraum vorgesehen. Neben Jack und dem Kamin stand ein Bett in der Ecke. Kopf- und Fußende waren aus einfachem, aber kunstvoll geschnitztem Holz, die Matratze mit einer geblümten französischen Tagesdecke bedeckt. In der Ecke, gegenüber vom Bett am Schwedenofen, stand ein kleiner runder Tisch mit weißer Spitzentischdecke und zwei Stühlen eng daneben. Das sollte in dieser Hütte wohl das Esszimmer sein. In einem Küchenschrank standen Teller, Schüsseln und Gläser.

Der Tisch war für eine Person gedeckt, und Essensgeruch hing in der Luft, was ihm zuvor kaum aufgefallen war. Doch jetzt beim Anblick der weißen Suppenschale auf dem Tisch, Messer, Gabel und Löffel so ordentlich neben dem Teller gedeckt, brüllte sein Magen vor Hunger. Ein Krampf traf seinen Magen wie ein Faustschlag. Einen Moment lang saß er auf dem Fußboden und hielt sich einfach nur den Bauch. Als der Krampf vorbei war, rappelte sich Jack auf, denn nun war ihm das vielleicht Merkwürdigste an diesem seltsamen Ort aufgefallen.

Der Topf auf dem Herd.

Er war mehr zum Rand geschoben worden, damit er warm blieb, aber nicht weiter kochte. Jack fühlte sich ein wenig wie im Märchen von Goldlöckchen und den drei Bären, die es sich in einem verlassenen Haus gemütlich gemacht hatten. Mit den Warnungen dieser Geschichte im Sinn, spazierte er vorsichtig durch den Raum. Bei jedem Schritt fielen ihm Dinge auf, für die er zuvor zu überwältigt gewesen war, um sie zu bemerken. Seine Stiefel standen neben dem Ofen. Seine Füße schmerzten und seine Socken waren dünn und abgetragen, aber jemand hatte die Stiefel zum Trocknen hingestellt. Seine Jacke hing an der Tür, als hätte er sich hier häuslich niedergelassen.

Doch die Aussicht auf eine warme Mahlzeit verdrängte alle anderen Gedanken. Er sah den Topf an und holte einmal tief Luft, dann nahm er den Deckel ab und wurde fast überwältigt von den Düften, die ihn vor Hunger fast schwindelig werden ließen. Irgendjemand – das Mädchen? War das ihre Hütte? Wie hatte sie ihn hierhergebracht? – hatte Eintopf gekocht. Es roch so lecker und herzhaft nach Fleisch, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Ein Holzlöffel lag auf dem Ofen, er hob ihn auf und rührte damit um, Karotten, Kartoffeln und Kohl, und dazu dunkle Fleischstücke, vermutlich Kaninchen.

Jack überlege nicht lange, ob es wohl klug wäre, das Essen eines Unbekannten zu nehmen. Der Hunger besiegte jedes Zögern. Für wen sonst sollte dieser Topf schließlich hier stehen, für wen der Tisch gedeckt sein, wenn nicht für ihn? Misstrauen schien ihm auch fehl am Platz. Wenn sie ihn vergiften wollte, hätte sie sich kaum die Mühe gemacht, ihn vor dem Wendigo zu retten und hierherzubringen.

Er runzelte die Stirn. War das alles wirklich passiert, was da geschehen war? Sie hatte sich und ihn unter den Pelzen versteckt, ja, aber hatte der Wendigo sie wirklich einfach übersehen? Es schien unvorstellbar. Das Ungeheuer hätte sie sehen oder zumindest riechen müssen. Dennoch war er ihnen gegenüber völlig blind gewesen.

Die Vorstellung, das Mädchen könnte dafür verantwortlich sein, nistete sich tief in seinem Gehirn ein. Es musste irgendein Trick daran sein, vielleicht irgendein Duftstoff in den Fellen, der ihre Fährte überdeckt hatte. Welche Erklärung gab es sonst?

Diese Gedanken kamen ihm in der kurzen Zeit, die es brauchte, die Suppenschale vom Tisch zu holen und mit Eintopf zu füllen, vor allem Fleisch und Gemüse und nicht nur Brühe. Er kehrte damit zum Tisch zurück, hatte seine Verletzungen kurzzeitig völlig vergessen und achtete nur darauf, keinen Tropfen zu verschütten. Er ließ sich auf einen Stuhl nieder, nahm den Löffel und führte den ersten Bissen an seine Lippen. Ein üppiges Geschmacksfeuerwerk breitete sich in seinem Mund aus, dann gewann der Hunger die Oberhand. Danach bereute er zwar die Flecken, die er auf dem weißen Spitzendeckchen gemacht hatte, doch er konnte einfach nicht anders. Jack hätte schwören können, dass er noch nie etwas derart Köstliches geschmeckt hatte. Als er den Löffel abermals in die Schale tauchte, spürte er, wie wund sein Zahnfleisch war, und das erinnerte ihn an die Schwielen an seinen Armen und Beinen, alles Symptome für Skorbut.

Jack blinzelte und starrte in die Suppenschale. Karotten. Kartoffeln. Kohl. Allesamt bekanntermaßen gut gegen Skorbut, genau das, was er jetzt brauchte. Das Mädchen, oder wer auch immer diese Suppe zubereitet hatte, ernährte ihn nicht nur, sie heilte ihn auch. Doch das war es nicht, was ihn auf einmal mit dem Löffel über der Suppe innehalten ließ.

Woher hatte sie hier im hohen Norden so früh im Jahr bloß solches Gemüse? Der Boden war eben erst vor wenigen Wochen aufgetaut.

Er tauchte seinen Löffel wieder ein und aß weiter, doch nun wurde sein Gehirn genauso gierig und hungrig wie sein Magen. Während er aß und neue Energie bekam, sah er sich wieder in der Hütte um. Sicherlich wohnte das Mädchen doch nicht alleine hier? Aber Jack konnte nichts erkennen, was auf einen Mann schließen ließ. Allein schon die Blümchendecke ließ vermuten, dass nur Frauen in diesem Bett zu schlafen pflegten. Vielleicht eine Schwester oder die Mutter, die bei ihr wohnten?

Aber wie konnten sie hier überleben?

Überleben. Das Wort hallte ihm durch den Kopf. Sein Löffel klapperte in der leeren Suppenschale, er stand automatisch auf, um sich nachzunehmen. Während er sich mehr Suppe holte, betrachtete er weiter seine Umgebung, und dasselbe unwirkliche Gefühl, das er beim Erwachen gehabt hatte, beschlich ihn wieder. Eine Hütte – ein Häuschen – im Wald, ein Feuer im Kamin, Essen für einen verirrten Fremden … es war wie im Märchen. Doch er war immer noch er selbst, Jack London. Seine Verletzungen, sein Hunger waren echt. Die Wärme, die Kamin und Ofen abstrahlten, war echt. Der üppige Geschmack der Suppe … das war auch echt.

Das ist kein Märchen, sagte er sich.

Doch überall um ihn herum waren Anzeichen des Unmöglichen. Frisches Gemüse so früh im Jahr, mitten in der Wildnis. Dann diese Hütte selbst, so perfekt konstruiert. Während Jack mit der Schale in der Hand am Herd stand, waren es die fehlenden Dinge, die ihm auffielen. An den Wänden der Hütte fehlten sämtliche Werkzeuge, die zum Überleben notwenig waren. In jeder anderen Hütte, die er je von innen gesehen hatte – zumeist in viel milderen Regionen als hier, doch auch in dem winzigen Hüttchen, wo Merritt, Jim und er überwintert hatten – waren diese Dinge vorhanden oder früher mal vorhanden gewesen.

Es hingen keine Schneeschuhe an der Wand, und es gab keine Haken dafür. Er sah weder Angelrute noch Kescher noch Jagdgewehr. Genau genommen waren gar keine Waffen zu sehen. Sicherlich musste es außen an der Hüttenwand eine Art Schuppen geben, wo Feuerholz gestapelt und Werkzeug verstaut werden konnte – Schaufel, Axt und Säge. Doch selbst in dem Fall würden die Waffen sicherlich in der Hütte aufbewahrt werden.

Als seine Neugier stärker als sein Hunger wurde, nahm Jack den Löffel vom Tisch und ging, während er aß, in der Hütte herum, die Schüssel knapp unter dem Kinn. Seine Suche brachte nichts zutage, was seinen bisherigen Beobachtungen widersprach. Immer noch über die bauliche Qualität der Hütte erstaunt, nahm er noch einen Löffel und machte am Kamin Halt, in dem das Feuer nun etwas niedriger brannte, und untersuchte die Wand. Die Baumstämme, aus denen die Wand bestand, waren perfekt zusammengefügt, jeder fast genau gleich groß. Er streifte mit einem Finger an der horizontal verlaufenden Fuge zwischen zwei Stämmen entlang.

Womit hatte der Erbauer die Lücken verfugt? Er ging die gesamte Wand ab, um den Kamin herum, und bemerkte, wie eben und gleichmäßig die Stämme waren. Es gab keine Unregelmäßigkeiten, keine Lücken, die mit Stöcken oder Steinen gefüllt werden mussten, die Ritzen zwischen den Bäumen waren weder mit Lehm oder Teer abgedichtet.

Mit der Schüssel in der Hand beugte sich Jack vor und starrte die Fuge zwischen den Stämmen an. Er drückte mit dem Finger hinein und fand die Fuge glatt. Stirnrunzelnd nahm er den Löffel und schabte mit der Rückseite dort, wo die Stämme aneinandergefügt waren. Die Rinde löste sich, darunter war weiß glänzendes Holz.

Es gab keine Ritzen. Die Fugen zwischen den Baumstämmen waren dicht, weil die Stämme zusammengewachsen waren. Das Holz darunter war saftig und frisch und glänzte, weil es noch lebte.

Die vergessene Suppenschale in der einen Hand, drehte er sich langsam im Kreis und starrte die Wände und Türen an, legte dann den Kopf in den Nacken und betrachtete die Dachbalken. Auch sie lebten noch. Er stolperte ungläubig Richtung Tür, stellte die Schale aufs kleine Bücherregal und beugte sich vor, um die Buchrücken zu lesen. Englisch, Französisch, Russisch und andere Sprachen. Sein Kopf drehte sich, das Unmögliche um ihn herum machte ihn schwindlig, er blieb stehen und starrte den Boden an.

Hatten Hütten Wurzeln? Es musste so sein, wenn die Bäume, aus denen diese Hütte gebaut war, noch lebten. War die Hütte so gewachsen? Unmöglich. Unvorstellbar. Trotzdem war es so, wie er es gesehen hatte. Türen, Fenster und Möbel waren ganz normal, soweit er es erkennen konnte. Doch außen herum bestand die Blockhütte aus lebendem Holz.

Jack ging ans Fenster bei der Haustür und erstarrte. Die Hütte befand sich auf einer Lichtung, dahinter wuchs der Wald dunkel und dicht. Da draußen blühte ein Wildwuchs aus Wiesenblumen, leuchtend lila und blau, rosa und orange und rot, eine Farbenpracht, die alles Grau von Dawson auf einen Schlag vergessen ließ.

Er schüttelte den Kopf. Konnte das überhaupt real sein? Er dachte an Geschichten, die er gelesen hatte, von Männern, die sich in der Wildnis verlaufen hatten, sich im Reich der Feen und Elfen wiedergefunden hatten und ihrem Gefühl nach wenige Tage dort blieben, doch nach ihrer Rückkehr feststellen mussten, dass viele Jahre vergangen waren.

Jack umklammerte mit beiden Händen seinen Kopf und versuchte, zu bestreiten, dass dieser Ort Realität wäre, doch es war zu spät. Wie lange hatte er geschlafen? Wo war er denn nun eigentlich aufgewacht? Wie war er hierhergekommen?

Er nahm seine Jacke vom Haken an der Tür und zog sie an, während er zum Ofen stolperte, um seine Stiefel zu holen. Er schlüpfte hinein, ohne sie zuzubinden, und ging an die Rückseite der Hütte, doch auch da erstarrte er am Fenster vor Schreck. Diesmal war es der Anblick eines wuchernden Gemüsegartens, ein halber Hektar war übersät mit einer irrsinnigen Vielfalt an Pflanzenarten. Jenseits des Gemüsegartens standen Apfel- und Birnbäume, und Rebstöcke, schwer vor Trauben.

»Heiliger Strohsack«, flüsterte er.

Dann streifte eine Brise seinen Nacken. Er drehte sich um und merkte, dass er nicht einmal gehört hatte, wie die Tür aufging.

Das Mädchen war gerade eingetreten, das Sonnenlicht strahlte um sie herum , umrahmte perfekt ihren Körper unter dem Baumwollkleid. Trotz seiner Furcht und Verwunderung machte ihn ihre Schönheit sprachlos.

Und dann lächelte sie so süß und unschuldig, blinzelte überrascht und fiel dann regelrecht in sich zusammen, voll echter Trauer, als sie begriff, dass er gerade gehen wollte.

»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte sie. »Hat dir die Suppe nicht geschmeckt?«