Jack brachte seine ganze Energie auf, um loszurennen. Er musste dabei an seine Flucht durch den Wald vor dem Wendigo denken, aber diese Bedrohung hier war finsterer, unbekannter. Es versteckte sich in den Schatten unter den Bäumen, unter den Blättern des letzten Herbstes am Waldboden, hinter jedem Baumstamm. Selbst als er spürte, dass die Bedrohung weit hinter ihm lag, lief er weiter.
Er sah sich kein einziges Mal um. Er versuchte, sich einzureden, dass es besser war, nach vorne zu sehen, um nicht in eine Senke oder einen tückischen, spitzen, abgebrochenen Ast zu laufen. Doch in Wahrheit hatte er Angst davor, was er hinter sich erblicken könnte.
Er hoffte, er lief in Richtung Hütte. Sein sonst so untrüglicher Orientierungssinn war verwirrt und verschwommen. Die Bäume hatten ihn in eine bestimmte Richtung gelenkt, doch sobald er außerhalb ihrer Reichweite war, änderte er die Richtung, durchquerte eine kleine Schlucht, die von einem längst vertrockneten Fluss stammte, bog dann wieder nach links ab, an fünf umgestürzten Bäumen vorbei, die wie tote Liebende ineinander verschlungen waren. Er brachte sich selbst ganz durcheinander, hoffte jedoch, dass es seinen Verfolger, was immer das auch sein mochte, noch mehr verwirrte.
Dann hörte Jack irgendwo rechts von sich Gesang. Es war die seltsamste, lieblichste Stimme, die er je gehört hatte, obwohl sie auch etwas unheimlich war. Er musste an den Wind denken, der durch ausgehöhlte Knochen pfiff. Sein Blut gefror, doch die Stimme war nicht bedrohlich.
Er merkte, wie er unwillkürlich darauf zuging, ohne etwas dagegen tun zu können. Die andere Richtung!, dachte er. Ich sollte in die andere Richtung gehen! Aber die Stimme lotste ihn weiter, die Worte des Gesangs trösteten ihn. Er verstand sie zwar nicht, doch es war eine Sprache, die Lesya benutzte, wenn sie im Schlaf murmelte. Er bahnte sich einen Weg zwischen ein paar kleinen Bäumen durch und schloss die Augen, als ein dünner Ast über seine Wange kratzte. Doch die Anordnung dieser Bäume war rein natürlich, es ging keine Bedrohung von ihnen aus.
Er erreichte die Lichtung dahinter und sah Lesya. Er hielt am schattigen Waldrand an und versuchte zu begreifen, was sie tat. Zuerst konnte sein Verstand es nicht erfassen, er hörte nur immer wieder ein Wort in sich: Zauberei, Zauberei, Zauberei …
Lesya war der Mittelpunkt von allem. Sie stand im Zentrum der Lichtung, die Arme zur Seite ausgestreckt, den Kopf leicht geneigt, als lauschte sie. Sie war schöner denn je. Es war ihre Stimme, die die Luft erfüllte. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen – sie stand von ihm abgewandt –, aber er konnte an ihrem Gesang hören, dass sie lächelte.
Jack hatte schon von Schlangenbeschwörern gehört, aber noch nie einen gesehen. Einmal hatte er gesehen, wie ein Mann einen Stier bezirzte, seinem Kommando zu folgen. Jack selbst hatte die nicht gerade einfache Kunst gelernt, die Aufmerksamkeit eines Hundes zu lenken. Doch nicht mal in seinen wildesten Träumen hätte er sich so etwas wie das hier vorstellen können.
Lesya hatte den Wald in ihrem Bann. Um sie herum schienen die Blumen jeder ihrer Bewegungen zu folgen, und die Äste schwankten im Takt ihres Gesangs. Zu ihren Füßen wehte das Gras, und ein paar wagemutige Halme schlängelten sich den Boden entlang, ihre Beine hinauf, um ihre Hüften und noch höher. Sie sah zu den Sprösslingen hinab, die sich nur zögerlich zurückzogen.
Ihr Lied veränderte sich fast unmerklich, Schatten flitzten über die Lichtung. Jack war sich nicht ganz sicher, was es war – Tiere vielleicht, aber sie waren zu schnell, um sie zu erkennen. Wenn er einer der Gestalten hinterhersah, verschwand sie, ehe er etwas erkennen konnte, und schon erblickte er die nächste Gestalt aus dem Augenwinkel. Er zwinkerte mehrmals fest und sah dann wieder hin, aber die Gestalten waren immer noch nicht mehr als die Andeutung eines Wesens.
Er konnte sie hören und riechen. Vielleicht staunten sie genauso über Lesya wie er.
Jack runzelte die Stirn und dachte daran, wie der Wald ihn eingeschlossen hatte, ihn zu zerquetschen drohte, in eine bestimmte Richtung drängte … aber das hier war völlig anders. Hier war keine Bedrohung, nur Ehrfurcht vor dem, was Lesya verkörperte. Das vorhin war etwas ganz anderes, dachte sich Jack und sah über seine Schulter in den regungslosen Wald hinter sich.
Als er sich wieder der Lichtung zuwandte, erblickte er im Schatten der Bäume hinter Lesya etwas Graues.
»Oh!«, rief Jack, weil er dachte, es sei ein Wolf.
Lesya drehte sich um. Sie hörte auf zu singen. Der Wald war auf einmal wieder nur ein Wald, nichts bewegte sich mehr, die Schatten blieben stehen, Wachstum und Verfall folgten wieder ihren eigenen unmerklichen Abläufen. Die graue Gestalt verschwand.
Einen kurzen Augenblick lang wurde Lesyas Gesichtsausdruck steinhart und leer.
»Da ist etwas im Wald«, stellte Jack fest, denn er hatte keine Ahnung, wie er es überhaupt anfangen sollte, sie zu fragen, was sie eben gemacht hatte.
Lesya kam zu Jack, berührte sein Gesicht und sah über seine Schulter in den Wald hinter ihm. Sie seufzte.
»Komm mit. Es ist Zeit, dir einige Dinge zu erzählen.«
»Über dich? Wieso der Wald mich umbringen will?«
Lächelte Lesya? Jack war sich nicht sicher, aber falls ja, gefiel es ihm nicht besonders. Er hatte noch nie Hohn und Spott in ihren Augen gesehen, bis jetzt.
»Wenn er dich umbringen wollte, hätte er es getan«, erklärte sie. »Ich muss dir von meinem Vater erzählen.« Sie ging über die Lichtung, ohne sich umzusehen. Jack blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Und Lesya erzählte, während sie weitergingen. Erstaunt, aber auch erleichtert hörte Jack ihr zu. So unglaublich wie das, was sie ihm erzählte auch war, erklärte es zumindest ein bisschen, was in den letzten Wochen mit ihm passiert war. Zauberei, dachte er noch mal, aber hier war etwas noch Älteres am Werk.
»Mein Vater ist Leschiji, ein uralter Waldgott, der seit dreihundert Jahren in diesen Wäldern wohnt. Er kam in den Herzen und Köpfen russischer Entdecker hierher und führte hier ein angenehmes Leben, bis die Russen langsam an diesem Land zugrunde gingen: an Hunger, Kälte, Gewalt, Eingeborenen. Nach drei Jahren waren sie alle tot. Mein Vater aber blieb, denn für ihn war es das Paradies. Er machte sich diese Wälder zu eigen, hegte und pflegte sie und erfreute sich an den Orten, wo selten Menschen hinkamen.«
Lesya und Jack machten an einem Bach halt. Leichtfüßig sprang sie ans andere Ufer hinüber. Als er ihr folgen wollte, hielt er inne.
»Es ist zu weit«, meinte er und versuchte, sich vorzustellen, wie sie das gemacht hatte. Er runzelte die Stirn, denn seine Erinnerung daran verschwamm.
Lesya lächelte ihn an und deutete nach unten. »Dort im Bach liegen drei Steine, auf die du treten kannst«, sagte sie. Jack wagte sich hinüber. Noch ehe er sie erreicht hatte, sprach Lesya schon weiter.
»So weit von zu Hause weg zu sein, schwächte meinen Vater jedoch. Die Stämme hier kannten seinen Namen nicht. Sie glaubten an andere Geister und schwächten ihn durch ihren Unglauben jedes Jahr mehr. Als der Sommer kam, verdörrte er fast. Dann kam der dunkle Winter, und er wurde in dem Geisterglauben der Männer und Frauen wieder stärker. Es widerstrebte ihm zwar, von ihren Ängsten zu zehren, aber nur so konnte er wieder zu Kräften kommen. Er revanchierte sich dadurch, indem er ihre Rinderherden beschützte und sie warnte, wenn es einen besonders schlimmen Winter geben würde.
»Dann war er es also, der mich umbringen wollte?«, fragte Jack. Er war zwar Zeuge von Zauberkräften und beinahe unglaublichen Dingen geworden, aber er war dochnoch weit davon entfernt, es zu glauben. Die Frage war dennoch nicht unsinnig und Lesyas Antwort darauf sehr ernüchternd.
»Mein Vater ist wütend nach so langer Zeit hier«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Und ich spüre, dass er auf dich und mich eifersüchtig ist. Wir haben Glück, dass er durch die lange Zeit des Unglaubens geschwächt ist.«
»Wenn ich an ihn glaube, wird ihn das stärker machen?«
Lesya blieb stehen und drehte sich mit finsterem Gesicht zu ihm. Aber ihre Augen funkelten immer noch. Ich könnte sie wirklich lieben, dachte er und hielt den Atem an. Er erwartete schon, die Bäume würden sich um ihn schließen und seine Liebe erdrücken.
»Bitte, ich kümmere mich schon um meinen Vater«, entgegnete sie. Sie kam ganz nah auf ihn zu, berührte sein Gesicht und betrachtete das Blut auf ihrer Fingerspitze. »Ich beschütze dich.«
»Und was ist mit dir?«, wollte Jack wissen. »Wenn er dein Vater ist, was…?« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Was bist du dann?, hatte er eigentlich sagen wollen, aber er tat es nicht. Sie war einfach zu schön.
»Meine Mutter war ein Mensch«, erklärte sie. »Vor langer Zeit, als Vater noch stark genug war, in menschlicher Gestalt zu erscheinen, traf er eine Indianerfrau, die sich in den Bergen verlaufen hatte. Er nahm sie bei sich auf und kümmerte sich um sie. Er ahnte schon, dass der Unglauben ihn mit der Zeit schwächen würde. Vielleicht dachte er, ein Menschenweib zur Frau zu nehmen, würde es aufhalten.« Sie zuckte die Achseln. »Sie starb bei meiner Geburt.«
»Das tut mir leid«, sagte Jack, und Lesya lächelte traurig.
Sie wandte sich ab und ging weiter. Kurze Zeit später erreichten sie die Lichtung bei ihrer Blockhütte.
Einen Moment lang fühlte Jack sich schwindlig. Er lehnte sich an einen Baum und sah an Lesya vorbei auf die Hütte. Das wird mir alles zuviel, dachte er. Lebende Häuser, Waldgötter, und Lesya … Lesya, meine Liebste, was hat sie dort auf der Lichtung gemacht? Er hatte Angst vor ihr, und es wurde ihm klar, dass diese Angst schon immer Teil seiner Verwirrung gewesen war. Lesya war etwas, das er nie ganz begreifen würde, und ihre Schönheit – die Vorstellung, dass sie ein Liebespaar sein könnten – vernebelte seinen Verstand.
»Von allen Menschen kannst du das am besten verstehen«, sagte Lesya, als antwortete sie auf seine Gedanken. »Es gibt so viele Wunder auf der Welt!«
Sie fiel auf die Knie, beugte sich vor, legte die Hände auf die Erde und lächelte zu Jack hoch.
Er blinzelte.
Lesya war ein Polarfuchs, lief über die Lichtung und verschwand hinter dem Haus.
»Lesya?« Er starrte ihr ungläubig hinterher. Er konnte nicht fassen, was er da gerade gesehen hatte. Er hatte sich zwar damit abgefunden, dass den Dingen ein Hauch von Magie anhaftete, aber nun wurde es immer unglaublicher.
Hinter der Hütte trat ein Karibu hervor und trottete zu Jack hinüber, ohne in die zahlreichen Blumenbeete zu treten, die das Haus umgaben. Es blieb schnaubend vor ihm stehen, roch nach Zimt und Wildnis. Er blinzelte …
… und Lesya stand wieder vor ihm. Sie atmete schwer, als hätte sie gerade einen Sprint hingelegt. Hier und da haftete an ihrem schlichten Kleid noch Fell. Ihr breites Lächeln war nur für ihn bestimmt, galt ganz allein nur ihm. Er schloss die Augen, doch das war nicht genug gegen solche furchterregenden Wunder.
»Du musst keine Angst haben, Jack«, erklärte sie.
Jack öffnete die Augen wieder und immer noch stand Lesya vor ihm, die unfassbar schöne Frau, in die er sich so leicht verlieben könnte. »Wirklich?«, fragte er, immer noch zweifelnd.
»Wirklich.« Sie kam näher, ihr exotischer Duft auch, und küsste ihn sanft auf den Mund.
Ich glaube dir, wollte er sagen, brachte es aber nicht heraus. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.
Sie führte ihn in die Hütte, und als er auf dem Bett lag, kümmerte sie sich um seine vielen Schürf- und Schnittwunden.
»Ich habe dein Buch verloren«, fiel ihm ein. Er hatte den Dumas-Roman auf seiner Flucht durch den Wald fallen gelassen.
»Egal«, meinte sie. »Ich hab es schon so oft gelesen.«
»Woher hast du …«, setzte Jack an. Doch sie legte ihm wie beim ersten Mal die Finger auf die Lippen.
»Still, Jack. Leg dich hin, sei ganz ruhig, ich kümmere mich um deine Wunden. Mein Vater kennt viele Tricks und Tücken. Er hat dich dieses Mal laufen lassen, doch wo sein Geist wirkt, beherrscht er alles völlig. Vom größten Baum bis zur kleinsten Kreatur. Ich muss sichergehen, dass er dich nicht mit irgendwas infiziert hat.«
»Infiziert?«
»Pilzsporen, Fliegenlarven, Giftpflanzenextrakte, Eiter von toten Tieren … der Wald steckt voller Gefahren.« Sie lächelte milde, als dächte sie an etwas sehr Persönliches.
»Ich kann mich selbst waschen …«, begann er, unterbrach sich aber. Sie benutzte ein weiches, feuchtes Tuch, das sie in irgendeine dickflüssige warme Salbe tauchte. Wo auch immer sie seine Haut berührte, kribbelte es und wurde warm. Es fühlte sich angenehm reinigend an. Selbst seine Schürfwunden schmerzten nicht mehr so, wenn sie sie berührte.
Also machte er die Augen zu und ließ sie machen. Dabei dachte er über alles nach, was passiert war. Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf, verschiedene Bilder blitzten auf, so viele großartige Wunder, dass es schwer war, sich auf eines zu konzentrieren. Der Schrecken, den er verspürt hatte, als er von diesen Bäumen umzingelt war, die blinde Panik, die ihn klettern ließ, das Raunen und Rauschen, das wie eine Verschwörung der Bäume klang, ihn umzubringen … das alles wurde durch die Wunder, die er auf dieser Lichtung gesehen hatte und was Leysa ihm erzählt hatte, wieder ausgeglichen. So unglaublich und fantastisch ihre Geschichte auch war, war sie doch die einzige Erklärung für alles, was ihm hier widerfahren war.
»Was hast du auf der Lichtung gemacht?«, wollte er wissen.
»Mit dem Wald kommuniziert. Ich besitze viele der Fähigkeiten meines Vaters, aber als halber Mensch habe ich auch Bedürfnisse.«
»Bedürfnisse?«
»Diese Hütte, der Garten. Mein Vater muss nicht essen, ich schon.«
»Ich hab dich gesehen … als Fuchs. Als Karibu.«
»Noch eine von Leschijis Gaben. Er kann die Erscheinung von Tieren und Pflanzen nachahmen. Ich jedoch bin nicht nur Geist und Windhauch, sondern Fleisch und Blut, deshalb kann ich mich ganz in sie verwandeln und ihre Gestalt annehmen.«
»Klingt unglaublich.«
»Es ist sehr, sehr einsam.« Sie wandte den Blick ab und seufzte, als bedauerte sie, zuviel gesagt zu haben. Ich bin doch da, wollte Jack sagen, doch er konnte nicht. Wie könnte er einem Wesen wie Lesya wirklich Trost spenden? Sie sah so menschlich aus, doch sie war in Wahrheit etwas ganz anderes. Egal, wie menschlich ihr Aussehen, wie betörend ihre Wirkung und wie schön ihr Lächeln war, eine Frau war sie nicht. Was bist du eigentlich?, wollte er sie fragen, aber er konnte es nicht laut sagen. Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen.
Mein Wolf, dachte er, und einen Moment lang schlug sein Herz höher. War das möglich? War es diese wunderschöne Frau gewesen, die ihn die ganze Zeit draußen in der Wildnis begleitet hatte? Doch er machte die Augen zu und war sich sicher, sie war es nicht. Der Wolf war ganz anders gewesen, ganz anders als Lesya und umgekehrt. Er hätte es gemerkt. Wie er dort lag und ihren Duft einatmete, das war etwas, das er noch nie vorher erlebt hatte.
»Ich kann’s dir zeigen«, sagte sie sanft.
»Mir was zeigen?« Er öffnete die Augen und war wieder hingerissen von ihrem Anblick. Ein Lächeln breitete sich langsam in ihrem Gesicht aus. »Ja«, nickte sie, »Ja, ich kann’s dir zeigen!« Sie nahm seine Hände und zog ihn vom Bett. »Komm nach draußen, Jack! Komm mit!« Sie wirbelte herum und rannte zur Tür hinaus.
Jack schwankte auf der Stelle, ihm wurde schwindlig. Ihre plötzliche Begeisterung wirkte jedoch ansteckend, er fühlte sich plötzlich wieder wie neu belebt. »Was willst du mir zeigen, Lesya?«
Sie stand in der Tür, die Sonne warf ihren Schatten von draußen in die Hütte. Jack stellte sich vor, wie dieser Schatten sich dehnte und verwandelte. In einen Bären, einen Fuchs, eine Schlange.
»Ich zeige dir, wie du dem Ruf der Wildnis antwortest.« Damit war sie aus der Tür nach draußen verschwunden.
Jack folgte. Lesyas Lachen lockte ihn weiter. Sie nahm ihn mit, neben ihr unter dem Apfelbaum zu sitzen, er roch den Duft seiner Blüten, was hier im Yukon eigentlich vollkommen ausgeschlossen war.
»Das ist der Ruf der Kojoten«, sagte sie und machte einen Laut in ihrer Kehle, den kein Mensch zustande brächte. Beunruhigt wich Jack zurück. Doch als Lesya inne hielt, den Kopf neigte, und aus weiter Ferne eine Antwort kam, musste er lächeln.
»Jetzt du«, sagte sie zu ihm.
»Was, ich?«
»Wieso nicht? Hier, ich helfe dir.« Sie schmiegte sich eng an ihn, berührte seine Kehle mit ihrer linken Hand und seine Brust mit ihrer rechten. »Der Ruf kommt von hier drin, in der Brust. Hol ihn durch deine Kehle nach oben, dreh den Kopf … etwa so … und lass es herausströmen, anstatt zu schreien. Versuch’s mal.«
Jack versuchte es. Lesya drückte mit den Händen gegen seine Brust, bis zu seinem Hals, drehte seinen Kopf etwas und streichelte seinen Kehlkopf. Er spürte etwas in sich nachgeben, als öffnete sich eine Tür, dann regte sich etwas … und erwachte. Woraus auch immer Lesyas Zauber bestand, Jack konnte nicht anders, als zu glauben, dass sie ihm ein bisschen davon eingepflanzt hatte.
Sie streichelte weiter seine Kehle, als lenkte und leitete sie den Ruf aus ihm heraus, er öffnete den Mund, um ihn herauszulassen. Das Ergebnis war eine schlechte Imitation ihres Rufes, trotzdem riss Jack überrascht die Augen auf.
»Versuche dir vorzustellen, du wärst ein Kojote«, erklärte sie. »Lass den Ruf von tief unten aufsteigen, ganz natürlich, ohne Zwang. Und sei nicht so schüchtern.«
»Schüchtern? Ich?«, spottete Jack. Schüchtern war ja wohl das Letzte, was er je gewesen war. Aber Lesya hob eine Augenbraue, und er wurde rot.
»Unsicher«, sagte sie. »Du musst dich frei und natürlich fühlen, nicht beobachtet. Ich bin’s ja nur.«
Er lächelte, nickte und versuchte es noch mal. Lesyas Hände und Finger taten ihren Anteil, doch diesmal fühlten sie sich fast wie ein Teil von ihm an … nicht wie von jemand anderem. Diesmal wurde sein Ruf von dem fernen Kojoten erwidert.
»Habe ich gerade … die Sprache der Kojoten gesprochen?«, fragte Jack staunend.
»Das hast du.« Lesya lachte. »Soll ich dir auch die Sprache der Vögel beibringen?«
An diesem Nachmittag und den folgenden Tagen zeigte ihm Lesya unglaubliche Dinge.
Jack hatte schon immer schnell gelernt. Er konnte beinahe schon lesen, bevor er sprechen konnte, und hatte in seinem kurzen Leben Tausende von Büchern verschlungen, sowohl Sachbücher als auch Romane. Er sog das Wissen auf wie ein Schwamm, wo immer er es kriegen konnte. Doch seine wahre Begabung lag darin, wie er sich dieses Wissen zunutze machte. Sein Gehirn war nicht nur ein Informationsspeicher, sondern eine Werkstatt, in der dieses Wissen sortiert und neu vermischt wurde. Er war gierig nach Wissen, und nach all der Zeit, die er nun im Yukon verbracht hatte, stillte sein Aufenthalt hier bei Lesya diese Gier mehr als je zuvor.
Sie brachte ihm bei, die Flugarten der Vögel zu unterscheiden, ihre Bahnen vorauszusehen und ihre Gewohnheiten und Eigenarten zu erkennen. Manche ihrer Rufe waren recht einfach zu erlernen, andere wiederum sehr schwer. Lesya übte sie mit ihm, und er spürte, wie ihre Zauberkraft mehr und mehr Türen in ihm öffnete. Manche Dinge, die sie ihn lehrte, hatten mit Zauberei nichts zu tun. Es waren vielmehr die merkwürdigsten, banalsten Bemerkungen, die plötzlich bei ihm Klick machten. Denk an geschmolzene Butter in der Pfanne, sagte sie etwa, und das nächste Mal, als er den Ruf des Grauwürgers probierte, hätte er der Vogel selbst sein können. Rieche den Duft der Maid-Marion-Rose, schlug sie vor, und als er pfiff, hörte er die Goldwaldsänger aus den Bäumen um die Lichtung herum antworten.
Sie gingen in den Wald, wo sie ihm noch mehr Rufe beibrachte – die der Elche, Bären, Büffel, Karibus, Wapitis und Berglöwen. Manche waren schwieriger als andere, aber es lag nie an seinem Mund oder seiner Kehle. Lesya half ihm, die natürlichen Grenzen zu überwinden, die die Natur ihm auferlegt hatte, und brachte ihm bei, die seelische Verbundenheit tief in seinem Inneren zu spüren, die es zu diesen Tieren gab. Er streckte sich ihnen entgegen, lauschte ihrer Stimme unterwegs, und manchmal kam der Kontakt schnell zustande. Sobald die Verbindung hergestellt war, konnte er den Geruch des jeweiligen Tieres erkennen, hörte, wie es am Boden nach Fährten seiner Beute schnüffelte oder zwischen den Backenzähnen zähe Gräser zerkaute. Vor seinem geistigen Auge sah er das Tier. Und wenn er den Ruf übte, röhrte und kreischte oder knurrte auch das Tier. Er konnte die Hand ausstrecken und sein Fell oder seinen Pelz in den Händen fühlen, und zugleich stellten sich seine eigenen Haare auf. Er spürte den kühlen Boden unter seinen Füßen, ohne ihn zu sehen.
Andere Male war es sehr viel schwieriger, ein Tier ausfindig zu machen, und er erkannte, dass die Tiere sich listig vor ihnen versteckten. Lange suchte er nach einem Puma, und als sich die Sonne über den Hügeln und Wäldern im Westen senkte, begann er zu verzweifeln, jemals einen zu erwischen. Er hatte das Brüllen des Grizzlybärs und den traurigen Ruf des Wolfs gelernt, aber selbst solche unglaublichen Errungenschaften bedeuteten ihm nichts, wenn er den Berglöwen nicht zu fassen bekam. Er schimpfte sich einen Dummkopf, so zu denken, vielleicht war er vor lauter neu entdecktem Talent überheblich geworden, doch das Gefühl des Versagens am Ende dieses Tages behagte ihm überhaupt nicht.
»Vielleicht sind sie einfach zu weit weg«, sagte er. »Vielleicht sind gar keine in der Nähe, die ich …« Er hatte noch keinen Ausdruck für das, was er tat, denn er verstand es immer noch nicht wirklich.
Aber Lesya schüttelte den Kopf und ihre Haare glänzten im Abendlicht. »Jetzt im Moment beobachtet uns einer.«
Jack hielt die Luft an und starrte sie an. »Wo?«
Lesya machte die Augen zu und flüsterte: »Such ihn mit mir.«
Jack versuchte es. Er streckte sich danach, tastete mit allen Sinnen um sich. Dieses Mal blickte er tiefer, dorthin, wo nichts zu sein schien. Lesya nahm seine Hand in ihre, er spürte ihre Krallen. Dann berührte er den Puma, knurrte leise tief hinten in der Kehle, sah vom hohen Berg ins Tal hinab, fixierte die kleine Lichtung und die Menschen darauf.
Er stutzte, öffnete die Augen und lehnte sich gegen den Baum zurück.
»Siehst du?«, sagte Lesya und schwieg dann.
»Ja«, nickte Jack, »Aber ich kann es immer noch nicht wirklich glauben.«
»Warte hier«, meinte sie. »Ich gehe jetzt das Abendessen vorbereiten. Etwas Besonderes zur Feier des Tages und ein Glas Wein, um darauf anzustoßen, was wir nun sind.« Sie ging und Jack schaute ihr hinterher. Was wir nun sind, hatte sie gesagt.
Jack runzelte die Stirn und erschauderte.
Was wir nun sind.
Jack wartete auf der Lichtung und beobachtete den Sonnenuntergang. Dabei dachte er darüber nach, was mit ihm geschehen war und was sie gemeinsam getan hatten. Er fühlte sich wie neugeboren, wiedererschaffen als größere, aufwändigere Version seiner selbst. Er hatte Unglaubliches getan. Das wird dir nie einer glauben, dachte er, aber es kümmerte ihn nicht. Das war nicht etwas, das man mit der Welt teilte. Das man an die große Glocke hängen und womit man an kalten Nächten am Lagefeuer prahlen konnte. Das war etwas ganz Persönliches und es bekräftigte seine Verbindung zur Wildnis.
Die Sonne ergoss sich über dem bewaldeten, hügeligen Horizont, der durch die Wipfel und Gipfel zackenförmig gebrochen war. Jack warf in seinem Kopf wieder sein Netz aus, wie Lesya es ihm beigebracht hatte, und versuchte, den Wald zu spüren, den sie bewohnten. Er verspürte dabei einen Angstschauer, denn bei allem, was sie ihn gelehrt hatte, hatte sie einen gewissen Punkt nie überschritten. Es ist zu gefährlich, sagte sie dann, oder: Soweit reicht es nicht. Doch Jack war einer, der alles immer selbst herausfinden musste.
Auch Lesyas Wort war kein Ersatz für eigene Erfahrungen.
Deshalb tastete er sich weiter, mit halb geschlossenen, halb offenen Augen, um die Hütte zu beobachten. Da drinnen brannten die Petroleumlampen, er sah umherhuschende Schatten, Lesya kochte für sie. Vielleicht spürt sie mich, überlegte er, ließ sich davon aber nicht abschrecken. Ein Teil von dem, was er für sie empfand, war in der Tat Furcht, und es gab etwas an ihr, das er nicht so deutlich wahrnehmen konnte, wie er wollte … dennoch war er sein eigener Herr.
Er preschte vor, weiter und weiter, jenseits des vertrauten Walds in unbekanntere Gefilde. Und dann spürte er irgendwo da draußen ein Wesen, das er sehr gut kannte – den Wolf! Der schreckte bei seiner Anwesenheit auf, jaulte, und war so weit weg, dass Jack das Heulen hier in der Abenddämmerung nicht hören konnte.
Jack strahlte erfreut und versuchte eine Verbindung zu seinem Schutzgeist aufzubauen. Doch dann verfinsterte sich seine Miene. Der Wolf war noch da, doch er streifte in seinem Geist unruhig hin und her, immer am Rand von Lesyas Reich, als würde er es gerne betreten, konnte es aber nicht. Jack spürte Sorge und Angst und eine heftig aufflammende gewaltige Enttäuschung.
»Was ist denn?«, murmelte er, und der Wolf knurrte in seiner Vorstellung.
Er setzte sich auf, öffnete die Augen und blickte über die Lichtung zur Blockhütte.
»Jack!« Ihr Tonfall klang dringend.
»Was denn?« Er versuchte, schläfrig zu klingen. »Ich muss eingenickt sein.«
»Eingenickt«, wiederholte sie. »Also, das Essen ist jetzt fertig, wenn du dich aufraffen kannst.«
Damit verschwand sie wieder nach drinnen.
Jack stand auf, streckte sich und versuchte, den Wolf wiederzufinden. Vielleicht war es die Störung oder seine Angst, entdeckt zu werden, aber er fühlte sich jetzt seltsam blockiert, er konnte mit seinen Sinnen nicht über diese Lichtung hinausblicken, als wäre der Zauber, den Lesya ihm eingepflanzt hatte, gar nicht unter seiner Kontrolle.
Wieso kommst du nicht zu mir?, fragte er. Er dachte an das Knurren des Wolfs, sein ungeduldiges Hin- und Herlaufen, und ihm wurde klar: Genau das versuchte der Wolf ja.
Lesya hatte ihm Fleisch gebraten – Jack hielt es für Hammel, obwohl er hier in der Gegend noch nie Schafe gesehen hatte – und dazu geschmortes Gemüse. Es schmeckte vorzüglich. Sein Magen rumorte, während sie am Tisch saßen und aßen. Lesya war schweigsam und nachdenklich. Dennoch sah sie wunderschön aus, und Jack wusste, dass kein Gesichtsausdruck je ihre Schönheit schmälern konnte.
»Was hast du?«, fragte er schließlich. Sie hatten ihre Teller leergegessen und ihre Becher mit Wein gefüllt, saßen aneinandergeschmiegt auf dicken, flauschigen Teppichen vor dem Kamin. Beide blickten ins Feuer.
»Ich will nicht, dass es diesmal wieder schiefgeht«, flüsterte sie.
Jack runzelte die Stirn. Spricht sie mit mir? Die Flammen züngelten, der Saft in einem der Holzscheite explodierte mit einem lauten Knall.
»Jack«, sagte sie und wandte sich endlich zu ihm. »Ich liebe dich.«
Sein Herz schlug wild, er zwinkerte mehrmals, um klar sehen zu können.
»Du musst jetzt bei mir bleiben.«
»Was? Bleiben?« Ich gehöre nicht hierher, dachte er. Das ist nicht mein Zuhause, ich muss wieder nach Hause, und andere ähnliche Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf, als hätten Lesyas Worte eine Schleuse in seinem Hirn geöffnet, hinter der er sein wahres Wesen gefangen gehalten hatte.
Wie lange war er jetzt schon hier? Sicher waren es viele Wochen. Oder Monate? Die ganze Zeit hatte er den Gedanken verdrängt, dass er eines Tages heimkehren musste, und vor kurzem hätte er noch geschworen, am liebsten ewig bei Lesya bleiben zu wollen. Doch etwas war nun anders. Er fühlte sich beklommen und unbehaglich.
»Ja, Jack«, sagte sie und beugte sich zu ihm, sodass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Ihre Augen waren groß, und er sah Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe glänzen. War Lesya tatsächlich nervös? »Weil ich dich liebe, und weil du mich liebst, und weil ich dir so viele Geheimnisse verraten habe.«
»Liebe«, wiederholte er und ließ sich das Wort auf der Zunge schmecken, wie den Wein in seinem Becher. Und wo kommt dieser feine Wein eigentlich her?
»Dieser Ort hier … er ist zauberhaft und er gehört mir, aber … ich bin oft so schrecklich einsam.« Stirnrunzelnd wandte sie ihren Blick ab.
»Lesya, ich weiß nicht, ob ich …«
»Er wird dich umbringen«, flüsterte sie. »Wenn du allein in den Wald gehst, bringt er dich um. Ich spüre schon länger seinen Zorn wachsen, seine Eifersucht. Er ist vielleicht schwach, aber der Wahnsinn verleiht ihm Kraft.«
»Du hast gesagt, du beschützt mich vor deinem Vater.«
»Das stimmt. Aber nicht, wenn du alleine da rausgehst.«
Da war es also. Eine Drohung. Es kam Jack so vor, als würde ein Vorhang geöffnet und ganz neue Seiten von Lesya enthüllt, die sie ihm noch nie gezeigt hatte. Er nickte langsam und drehte sich wieder zum Feuer, damit sie nicht lesen konnte, was in seinen Augen stand.
Lesya legte die Hand auf sein Bein und schmiegte sich an ihn, als gehörten sie zusammen. Ihr Duft überwältigte ihn, ihre Haare waren ein sinnlicher Hauch an seinem Hals und seiner Wange, und er hörte den gleichmäßigen, einlullenden Takt ihres Atems. Liebe, überlegte Jack und versuchte, das Wort in Einklang zu bringen mit dem, was er für Lesya fühlte.
Nicht, wenn du allein da rausgehst …
»Was denkst du?«, fragte sie und klang beinahe verzweifelt.
»Ach, nichts«, sagte Jack. Ein Gefangener, dachte er, und wieder knallte das Holz explosionsartig – wie ein feuriges Lachen im Stakkatotakt.
Am nächsten Tag ging Jack nach dem Frühstück am Rand der Lichtung spazieren. Er spürte, dass Lesya dagegen war, und fühlte die ganze Zeit ihren wachsamen, abwartenden Blick auf seinem Hinterkopf. Obwohl sie ihm in den letzten Tagen viele wundervolle Dinge gezeigt hatte und er sich erfüllt wie nie zuvor fühlte, hatten Lesyas Warnungen vom Vorabend die beiden entfremdet. Sie spürte es vielleicht nicht – er vermutete, sie hatte keine wirkliche Vorstellung, was sie gesagt und getan hatte –, aber jetzt im Moment brauchte er Zeit für sich.
Er setzte sich auf einen Stein und schaute zur Hütte. Er winkte und Lesya winkte zurück. Sie kümmerte sich um ihren Gemüsegarten, drehte ihm aber dabei nie den Rücken zu.
Ich werde bewacht, dachte er. Sie bewacht mich ständig. Also lehnte er sich gegen den Stein zurück, sah in den Himmel, machte die Augen zu und zwang sich, sich zu entspannen. Der Gedanke wegzulaufen kam ihm, doch dann kreuzte etwas anderes durch seinen Kopf.
Jacks Augen flogen auf. Er atmete tief durch, öffnete alle seine Sinne, ließ die Geräusche und Gerüche herein, das Gefühl und den Geschmack der Luft, genau wie Lesya es ihm gezeigt hatte. Und da wusste er, drei Meter hinter dem Stein lauerte ein Vielfraß.
Er versuchte gleichmäßig zu atmen, obwohl sein Herz vor Aufregung raste. Jetzt kannst du es versuchen, dachte er und tastete mit seinen Gedanken vorwärts, begrüßte die Sinne des Tieres wie seine eigenen. Es hörte zu schnuppern auf und spürte seine Gegenwart, obwohl es ihn weder sehen noch riechen konnte. Jack erstarrte. Dann kreischte das Tier erschreckt auf, machte kehrt und floh zwischen die Bäume.
Jack war erschöpft. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, der Rücken war nass. Es kam ihm so vor, als sei er gerade kilometerweit gelaufen. Keuchend lehnte er sich an den Stein und machte die Augen wieder zu.
Er hörte ihre Schritte kommen und wusste, sie wollte, dass er sie hörte.
»Es dauert eine Weile«, sagte sie.
Jack öffnete die Augen. »Nach gestern mit dem Puma dachte ich …«
»Da habe ich dir geholfen, Jack, weißt du noch?«
»Stimmt«, sagte er, »das weiß ich noch«.
Es dauert eine Weile. Aber vielleicht hatte er keine Zeit mehr. Diese erneuten Gedanken an die Zeit, die verstrich, erinnerte ihn an die Lage, in der er sich befand.
Er lächelte Lesya an und ihm wurde klar, dass er mit seiner Flucht nicht mehr lange warten durfte.
In dieser Nacht ging Jack allein in den Wald, und Leschiji kam, um ihn umzubringen. Der Gott des Waldes pflanzte Bäume um ihn herum, fing ihn in der Dunkelheit und stürzte Äste und Baumstämme auf ihn, während er die ganze Zeit Lesyas wunderschönen Gesang in der Ferne hörte. Er rief um Hilfe nach ihr, aber sie hörte ihn nicht. Leschiji zeigte sich als Finsternis zwischen den Schatten. Er war so alt, wie sie gesagt hatte, ein zorniger und eifersüchtiger Gott.
Jack versuchte, mit seinen Sinnen jenseits des hölzernen Käfigs zu fühlen, wie er es gelernt hatte, aber er war nur ein sterblicher Mensch.
Und als Leschiji ihm die spitzen Äste entgegenjagte und seine Füße damit durchbohrte, öffnete Jack den Mund, um zu schreien.
Er schreckte auf, schnappte nach Luft und starrte die Dachbalken der lebenden Hütte an. In einem hölzernen Käfig gefangen!, dachte er. Lesya bewegte sich im Schlaf neben ihm. Gottseidank. Es war nur ein Traum.
Jack atmete heftig und hastig, spürte immer noch den Schmerz in seinen Füßen, wo Leschiji ihn im Traum aufgespießt hatte, und versuchte sich zu beruhigen. Nur ein Traum. Es war nur …
Da bewegte sich etwas.
Jack versuchte, sich aufzusetzen, doch nun spürte er eine Last auf seinen Beinen, die ihn niederdrückte. Unter der Bettdecke bewegte sich etwas, der Schrecken knäulte sich in seinem Magen zu einem dicken Knoten. Der Atem blieb ihm im Halse stecken, und er langte mit einer zitternden Hand hinunter, um die Decke zurückzuschlagen.
Im Mondlicht, das durchs Fenster schien, sah er das Ding, das ihn festhielt, über seinen Unterkörper gleiten und kriechen. Es schien in den lebenden Holzbohlen des Hauses verwurzelt zu sein. Die Gestalt blickte zu ihm auf, und er sah ihr Gesicht, aus Zweigen und Blättern, Moos und Rinde, und wusste, wer ihn gefangen hielt.
Leschiji.
Schlingpflanzen wickelten sich um Jacks Füße und Sprunggelenke. Er machte den Mund auf, um zu schreien, doch Leschiji hob eine Hand aus Zweigen, legte ihm einen knorrigen Finger über die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Pssst … Es erinnerte Jack so sehr daran, wie Lesya ihn vor dem Wendigo gerettet hatte, dass ihm der Schrei im Hals stecken blieb. Leschijis Augen, dunkle Höhlen, die von Blättern umrandet waren, schlugen weit auf … und drehten dann zur Seite.
Der Waldgott war nicht gekommen, um ihn zu töten. Doch wieso war er dann hier?
Lesya erwachte und begann, ihren Geistervater anzuschreien. Dann kam endlich auch Jacks Schrei, doch es war nicht mehr der herzerdrückende Schrecken, den er eben noch verspürt hatte. Er war eher erstaunt, wie wütend sie war und wie Leschijis Augen sich plötzlich enttäuscht verdüsterten.