KAPITEL 12
DER FRIEDHOF DER LEBENDEN

Sie versuchte, ihn zu beruhigen. Nachdem Leschiji unter Blätterrascheln und Holzknacken aus der Hütte geflohen war, ging Lesya ans Fenster und murmelte etwas, das sich wie ein Zauberspruch anhörte. Dann kam sie zu Jack zurück, nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Sie setzte sich im Bett auf, damit er in ihrem Schoss liegen konnte.

Ihr Geruch war stark, aber nicht mehr nur sinnlich. Nun hatte er auch etwas Düsteres, Gefährliches, Geheimnisvolles. Jack akzeptierte ihre tröstenden Worte und das sanfte Wiegen, weil er Trost brauchte, wenn er ehrlich war. Doch als die Nacht verflog und die Dämmerung in die Hütte drang, konnte er keinen Schlaf finden. Er starrte den Holzsplitter an, den er aus der Wand gehebelt hatte, und das frische, lebende Holz darunter. Er spürte Lesyas Furcht in ihrer Stimme, ihrer Berührung.

Er wusste, er musste fliehen.

An dem Morgen machte Lesya zum Frühstück Eier und Speck mit Brot, es war ein richtiges Festmahl.

Hier in der Gegend gibt es doch keine Schweine, dachte Jack, obwohl es vermutlich Wildschweine gab. Hühner hab ich auch nie gesehen. Doch die Eier konnten von jeder Art Vogel stammen. Es gab überall Enten, man musste also nur wissen, wo sie ihren Nistplatz hatten.

»Tut mir leid wegen meinem Vater«, sagte sie. »Er ist schon sehr lange nicht mehr in dieser Form erschienen. Ich dachte, er sei viel schwächer und weiter weg.«

»Hast du deshalb Angst?«

Lesya starrte ihn mit einem sanften Lächeln in ihrem beinahe makellosen Gesicht an. »Ich habe keine Angst, Jack.«

Er nickte und aß weiter.

»Wenn er wiederkommt …«

»Danke«, sagte Jack und lächelte ebenfalls. »Er hat mich wirklich erschreckt, und wenn du nicht aufgewacht wärst …«

»Er hätte dich umbringen können.«

»Stimmt. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Lesya. Ich nehme deinen Schutz an und mache, was du für richtig hältst.« Er sah zum Fenster hinaus und brauchte seine Angst nicht zu spielen. Ich bin mir immer noch nicht sicher wegen der ganzen Sache.

Lesya beugte sich über den Tisch und streichelte seine Wange. »Ich liebe dich wirklich, Jack.« Er lächelte sie an und berührte ihre Hand, doch er antwortete nicht. Sie wandte ihren Blick ab, und einen Moment lang tat sie ihm leid. Ich könnte sie lieben, dachte er, auch nach allem, was passiert ist. »Du bist etwas sehr Besonderes«, sagte er. Sie seufzte und machte sich an den Abwasch.

»Ich gehe zur Quelle, mich waschen«, meinte Jack.

»Ich kann dir hier drin warmes Wasser aufsetzen, wenn du willst?«

»Die Kälte tut mir gut!« Er rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Sie hilft mir, wach zu werden und die Albträume zu verjagen.«

Lesya nickte. »Also gut. Später zeige ich dir, wie man Fährten von Schlangen und Gifttieren verfolgt.«

Jack zog sich seine Stiefel an und ging zur Tür, wo er stehen bleiben musste. Das ist meine Flucht, sagte er sich. Und wenn ich es wider Erwarten schaffe …

Er drehte sich um und sah Lesya ein letztes Mal an. Sie stand am Herd, behielt den Wasserkessel auf dem Feuer im Auge und fuhr mit dem Finger ihren Teller ab, um den Specksaft und das Eigelb aufzuwischen. Ihr schlichtes Kleid stand ihr perfekt, und ihre vom Schlaf zerzausten Haare umrahmten weich ihr Gesicht. Sie war so schön, die schönste Frau, die Jack jemals gesehen hatte und vermutlich je sehen würde, und er wollte sie genau so in Erinnerung behalten.

Sie sieht so normal aus, staunte er, weil er wusste, dass sie alles andere als das war.

»Stimmt was nicht?«, fragte sie, als sie plötzlich merkte, dass er sie beobachtete.

»Nein«, meinte Jack. »Ich hab nur gerade gedacht, dass ich dich liebe.«

Ihr Lächeln war umwerfend.

Und trotz allem, was er vorhatte, war Jack sich keiner Lüge bewusst.

Er ging in Richtung Quelle über die Lichtung. Sie war ganz nah am dunklen Waldrand, aber nicht zu nah. Sein Herz raste, seine Beine zitterten vor Erwartung.

An der Quelle begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Er blickte zur Hütte zurück. Lesya war am Fenster gerade noch zu erkennen. Das Licht der Morgenröte erhellte ihr Gesicht durchs Glas. Er winkte ihr, sie winkte zurück, dann ging sie tiefer in die Hütte hinein.

Jack rannte zu den Bäumen.

Schlagartig veränderte sich alles. Die Möglichkeit seiner Flucht war nun Realität geworden, die Gefahr war ernst und drängend. Bei jedem polternden Schritt erwartete er, Lesyas warnendes Rufen hinter sich zu hören: Vorsicht vor meinem Vater, Jack.

Jack hatte schon beschlossen, diese Warnung nicht zu beachten, falls sie kommen sollte. Es war eine Wette mit dem Schicksal, von der sein Leben und seine Zukunft abhing, doch seitdem Leschiji gestern Nacht erschienen war, war ihm einiges klar geworden. Seine Familie wartete daheim in Kalifornien auf ihn, dort war sein richtiges Zuhause. Das hier, alles, was er hier gesehen und getan hatte … das gab es nicht wirklich.

Die Luft um ihn herum war still bis auf Jacks regelmäßiges Atmen. Von der Lichtung zu seiner Rechten erhoben sich ein paar Vögel in die Luft. Er widerstand der Versuchung, im Geist nach ihnen zu suchen. Er musste sich um seine eigene Flucht kümmern.

Erst als er die ersten Bäume erreichte, hörte er Lesyas Stimme. Sie brüllte und wütete nicht, sondern schrie, ein hoher, unsäglich lauter Schrei, der Jack durch Mark und Bein fuhr und ihn schneller als je zuvor laufen ließ. Die Äste der Bäume peitschten ihm ins Gesicht, er rannte durch ein Spinnennetz, das sich so fest wie Schnüre anfühlte, sein Herz schien doppelt so schnell wie sonst zu schlagen. Ihm brach der Schweiß aus.

Wieder kam der Schrei, noch lauter als zuvor, und am Ende davon hörte er das Wort JACK!

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er lief Schlangenlinien zwischen den Bäumen, fühlte und suchte nach Ungewöhnlichem im Wald um sich herum. Was wird sie tun?, fragte er sich. Wie wird sie mich bestrafen, wenn sie mich erwischt? Sein Weglaufen war die Absage an ihre Liebe und entlarvte das Versprechen, ihr zu vertrauen, das er ihr heute Morgen gegeben hatte, als Lüge. Am Anfang war sie ihm wie ein süßes junges Mädchen vorgekommen, aber nun war sich Jack nicht mehr so sicher. Jemand mit solcher Macht …

Vor ihm rechts begann ein Baum zu fallen. Er hörte das Knacken seines Stammes nah am Boden wie Kanonendonner, dann geriet das gesamte Blattwerk in Aufruhr, als der riesige Baum umknickte. Er wich nach links und rechts aus, ehe er erkannte, dass es kein Entrinnen gab. In einer hilflosen Geste hob er die Arme vor sein Gesicht …

… da hört der Baum auf zu fallen.

Unter dem zerborstenen Stamm wuchs ein zweiter Baum empor und breitete die oberen Äste aus, um den umstürzenden Baum aufzufangen. Dieser neue Baum teilte sich in zwei Stämme, und die Gabelung war sehr stark. Die aufrechten Äste schienen sich im Morgenlicht fast zu kräuseln.

Jack rannte weiter. Auf einmal wehte ein kräftiger Wind durch den Wald, wirbelte Blätter auf, pfiff ihm in den Ohren und erfüllte alle seine Sinne mit heftiger Wucht. Lesya!, dachte er, doch dann fühlte er eine kräftige Hand seinen rechten Arm packen und spürte die lederige Haut eines alten Mannes.

Er sah nach unten. Dort war nichts, was Jack festhielt. Dennoch spürte er, dass er folgen sollte.

Hinter ihm kam ein weiterer Schrei – viel näher diesmal –, und er hörte nun, dass er verfolgt wurde. Schwere Schritte im Wald, Bäume krachten vor seinem Verfolger aus dem Weg, dann erreichte Jack den oberen Rand einer Schlucht, strauchelte und bewahrte gerade noch das Gleichgewicht … bis ihn ein Windstoß hinabstieß.

Du musst es sehen, flüsterte ihm im Fallen eine Stimme zu. Jack stürzte, umfasste mit beiden Armen seinen Kopf, um die Stimme nicht wahrnehmen zu müssen. Sie klang zu alt und zu unmenschlich, um sie zu akzeptieren, und sie lag zu weit außerhalb seines Erfahrunghorizonts, um sie anzuerkennen. Er landete am Boden der Schlucht und setzte sich langsam auf, während der Lärm, den sein Sturz verursacht hatte, allmählich abebbte. Dann sprach die Stimme wieder zu ihm.

Du musst es sehen.

Hastig wich Jack vor der Stimme zurück, doch als er aufsah, war nichts und niemand zu sehen. Nur die Bäume.

Und dann sah er es, und begriff, warum er es sehen sollte.

Die Bäume trugen ungewöhnliche Früchte.

Während er in dieser Schlucht verzweifelt auf der Suche nach einem Fluchtweg war, um das nicht anschauen zu müssen, was er dort sah, hörte Jack zwei gewaltige Mächte um ihn ringen. Im Wald über ihm stürzten Bäume um, die Erde bebte, und ab und zu hörte er Lesyas schreckliche Schreie über das Schlachtfeld hallen. Ihr Geistervater Leschiji wehrte sie ab, damit Jack es sich ansehen konnte. Mit jedem Herzschlag begriff er mehr.

Wo Zauber gewesen war, war jetzt nur noch Schrecken.

Wo Jack die seltsamen Regungen der Liebe gespürt hatte, empfand er jetzt nur noch Abscheu, Furcht … und Mitleid. Bei allem, was Lesya getan hatte, tat sie ihm doch leid, denn sie war etwas, das nicht sein sollte. Ein Wesen aus Fleisch und Blut und etwas Unnatürliches, eine Missgeburt in der natürlichen Ordnung dieser Wildnis. Sie wollte doch nur überleben, genau wie er. Und sie musste so einsam gewesen sein.

In der Schlucht zählte er fünfzehn Bäume, die hier nicht natürlich gewachsen waren. Jeder dieser Bäume hielt einen menschlichen Körper gefangen. Er wurde von dem Baum umschlungen, als wäre der Baum von Anfang an um ihn gewachsen. Bei manchen ragten Gesichter unter der Rinde hervor. Bei anderen war der Körper kaum mehr zu erkennen: Ein Arm hier, ein Fuß da. Es waren Lesyas frühere Liebhaber, Männer, die hierhergekommen und von der Schönen mit ihrer unglaublichen Hütte bezirzt worden waren. Manche waren von der Kleidung her wohl Russen, andere Franzosen. Einige wohl Indianer, und auch Schwarze. Er dachte, sie wären alle tot und irgendwie durch Lesyas Zauber vor der Verwesung konserviert worden. Bis einer blinzelte.

Jack schrie auf. Bisher hatte der Schrecken ihn noch kalt gelassen, doch diese aufblitzenden Augen durchbrachen seine Abwehr und entfachten das Entsetzen in ihm. Er taumelte vor dem Gefangenen zurück – nur sein Gesicht und sein linker Arm waren außerhalb des Baumes sichtbar –, doch der nächste Baum schnitt ihm den Fluchtweg ab.

Er drehte sich um und sah in die grünen Augen eines Verwandelten. Der Mann machte langsam den Mund auf, aber es kam kein Laut. Borkenkäfer krabbelten ihm um die wenigen verbliebenen Zähne. Er hatte furchtbare Schwielen und Wunden in seiner Mundhöhle, aber trotz der offenen Wunden war sein Blut nicht rot. Es war dicker, zähflüssiger Sirup.

Es gab kein Anzeichen von Bewusstsein oder Erkenntnis in den Augen des Mannes.

So wie der Wendigo, als er mir in meiner eigenen Gestalt begegnet ist … unnatürlich und abartig!

Jack rannte weiter, diesmal in blinder Panik, krabbelte die Schlucht hinauf, seine Finger krallten sich in die weiche Erde, und seine Füße strampelten wie wild. Er hatte jede Orientierung verloren – er hätte genauso gut direkt auf die rasende Lesya zuklettern können anstatt von ihr weg.

Der Wald hat noch jede Menge Bäume, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, die er nicht einordnen konnte. Vielleicht war es seine Angst, die ein Eigenleben anzunehmen begann. Aber wo auch immer die Stimme herkam, sie machte Jack eines klar: Wenn Lesya ihn erwischte, wäre das auch sein Schicksal.

Schließlich würde sie ihm nie wieder vertrauen können. Sie besaß zwar nach außen ein zivilisiertes Gewand, wie der Wendigo es nie hatte, doch das Monster war wenigstens ehrlich in seiner rasenden Gier. Lesya log und betrog, und dahinter verschlang sie die Menschen genauso.

Jack erreichte den oberen Rand der Schlucht und blickte nach unten. Die Blätter dieser ungeheuerlichen Bäume sahen voll und natürlich aus, von hier oben konnte er die abscheulichen Gestalten in ihren Stämmen kaum erkennen. Die Panik hatte ihn im Griff, dennoch blickte er sich schnell um und holte tief Luft. Er hörte das Chaos um sich wüten. Er hoffte, dass er die richtige Seite der Schlucht emporgeklettert war, drehte sich um und rannte weiter.

Der Wald hier war immer noch dicht, doch hier war er nie mit Lesya gewandert. Natürlich hatte sie ihn von dieser schrecklichen Schlucht ferngehalten, also hatte er keine Ahnung, wo er jetzt hinlief … während um ihn herum der Wald zum Leben erwachte. Tiere, groß und klein, liefen mit Jack mit, und einen Augenblick lang war er verwirrt. Scheuche ich sie etwa auf? Doch dann begriff er, dass es nicht an ihm lag, dass ihre Fluchtrichtung auch für ihn eine gute Wahl war.

Der ganze Wald hatte Angst.

Hasen und Füchse rannten, Vögel und Insekten flogen, etwas weiter hörte er schweres Stapfen, vermutlich eines Bären.

Entsetzliche Laute erklangen hinter ihm. Ein fürchterliches Stöhnen wie von einem Baum, der samt allen Wurzeln ausgerissen wird, das donnernde Krachen eines Baumstammes, der zerbrochen wird, ein gellender Schrei, der mit einem Schluchzen endete und nur von Lesya stammen konnte.

»Es tut mir leid«, flüsterte Jack und fragte sich, ob sie ihn wohl hören konnte. Sie konnte genauso gut dieser Vogel da sein, dieser Käfer oder der fliehende Luchs, den er gerade links von sich gesehen hatte. Als Luchs könnte sie ihn leicht einholen. Als Bär könnte sie ihn zerfetzen. In seiner Panik erkannte Jack, dass er nicht unbedingt allein sein musste.

Während er lief, über umgestürzte Bäume sprang und die Tiere bestaunte, die mit ihm flohen, versuchte er, mit seinem Geist vorauszutasten. Zuerst fühlte er gar nichts und fragte sich, ob sein Verrat ihm die Fähigkeiten, die Lesya ihm beigebracht hatte, rauben würde. Doch dann spürte er selbst auf der Flucht eine Veränderung vor sich. Er konzentrierte sich auf den Wald um sich herum, doch er spürte auch den Wind, den Geruch und die Weite von offenem Grasland.

Er hörte das Knurren eines Wolfs und schickte ihm seine eigene Stimme entgegen.

Während er lief, fühlte er sich, als ob er aus einer Trance erwachte. Der Wald, seine Anstrengung und die wachsende Entfernung zur Blockhütte befreiten ihn davon – von dem Ort, der seine Zuflucht und sein Gefängnis gewesen war.

In seinem Kopf lächelte seine Schwester Eliza ihn an, Shepard ergriff seine Hand und erinnerte ihn an die Versprechen, die er noch einzulösen hatte, und sogar seine Mutter war da. Obwohl sie nicht wirklich lächelte, verfluchte sie ihn nicht mehr gar so sehr. Für euch, wenigstens für euch, dachte er.

Er stolperte über eine Ranke und stürzte hart zu Boden. Die Luft blieb ihm weg, als er gegen einen Baumstamm prallte. Voller Furcht sah er zu dem hoch gewachsenen Ungetüm auf, als würde es gleich die Wurzeln erheben und ihn darunter begraben. Doch während er den Baum als vermeintlichen Gegner im Auge behielt, wickelte sich die Ranke um seine Beine … und schnürte sich fest.

Jack brüllte vor Schmerz. Er zerrte an der Ranke, zog und kratzte, aber je mehr er kämpfte, desto enger schlang sie sich.

Erst jetzt bemerkte er, dass die Geräusche in der Ferne verklungen waren. Kein Schreien oder Brüllen mehr, kein Widerhall von kämpfenden übernatürlichen Wesen. Die Tiere waren alle geflohen und hatten ihn allein zurückgelassen. Der Wald wurde stiller, als er ihn je erlebt hatte.

Stiller als ein Grab, dachte er, und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, Teil eines Baumes zu sein, sein Blut durch Pflanzensaft ersetzt, wie schmerzlich das unendliche Verstreichen der Zeit sich anfühlen würde …

Eine blassblaue Gestalt bewegte sich weit weg zwischen den Bäumen.

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Noch mehr Ranken schlängelten sich über den Waldboden und packten ihn an Armen und Beinen. Ein Luftstoß wehte Blätter und Flugsamen auf, die eigentlich erst im Herbst in die Lüfte gehen sollten. Es roch nach Zimt und Erde, nach dem frischen Duft von Lesyas Atem und dem vertrauten Geruch von vermoderndem Laub. Er versuchte wieder mit seinen Sinnen nach außen zu tasten, doch er war klein, ein Nichts, kaum mehr als ein Echo in dieser Landschaft, die voll von unglaublichen Wundern war.

»Hilfe!«, rief er, doch der Wald verschluckte seine Stimme.

Und dann stand Lesya vor ihm. Sie tauchte zwischen den Bäumen auf – verwandelte sich vom Waldgeist in eine neue Gestalt. Sie war immer noch wunderschön, aber auf furchtbare Weise. Ihre Haut war immer noch samtweich, doch sie besaß nun eine Strahlkraft, die keinem Naturgesetz gehorchte. Zorn leuchtete ihr aus den Augen, ihre Mundwinkel waren in einer bitterbösen Parodie ihres üblichen Lächelns nach unten gerichtet. Sie trug ihre Schönheit nicht mehr wie ein Geschenk, sondern als natürlichen Auswuchs ihres Wesens. Es war jedoch ihre Wut, die ihre Schönheit mit dem Makel des Hässlichen entstellte.

»Ich dachte, du wärst derjenige«, sagte sie zu ihm.

»Lesya …«

»Ich dachte, es wäre Liebe

»Ich gehöre nicht hierher. Ich kann der Wildnis zwar sehr nah sein, aber …«

»Ich habe dir Dinge gezeigt«, meinte Lesya, ihre Stimme wurde wieder sanfter. Sie kam näher, mit diesem Gang, der ihn immer betört hatte. Mit wallenden Haaren und den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Ich habe dir einen Teil von mir geschenkt, eine Gabe der Zauberkraft, die ich nie wieder bekommen kann. Ich habe dir Dinge gezeigt, die ich sonst keinem anderen je gezeigt habe.«

»Ich weiß, welche anderen du meinst«, sagte Jack und bereute es, sobald er es gesagt hatte.

»LESCHIJI!«, knurrte Lesya. Die Bäume um sie herum erzitterten, der Boden bebte, die Luft selbst schien vor Furcht zurückzuweichen.

Jack stockte der Atem, er schnappte nach Luft, während sie auf ihn zukam. Ihre Hände hielt sie wie Krallen vor sich, die Haut unter ihren Fingernägeln war nicht mehr rosa, sondern grün.

Er schloss die Augen, sah wieder Eliza, Shepard und seine Mutter, und wusste, wenn er starb, würde sie versuchen, in einer ihrer schrecklichen Séancen mit ihm in Verbindung zu treten. Von Panik und Schrecken verwirrt, wie er war – sodass er es kaum noch aushalten konnte –, hatte er die Befürchtung, seine Mutter würde es schaffen.

Dann ertönten ein Brüllen und ein Geräusch, als breche die Erde auf. Lesya schrie, und er riss die Augen auf.

Zuerst begriff er gar nicht, was er dort sah. Alles bewegte sich so schnell, dass er es ganz verschwommen sah. Gestalten flitzten hierhin und dorthin. Als erstes suchte er nach Lesya. Sie war nicht mehr da, wo sie eben noch gestanden hatte, also sah er nach rechts und links und folgte den anderen grünen, blitzartigen Bewegungen mit dem Blick.

Lesya wurde zurückgedrängt. Bäume wuchsen, stürzten um und starben innerhalb von Sekunden, als würde er ihre ganzen langen Lebenszyklen unvorstellbar beschleunigt sehen. Mit jedem neuen Sprössling zwischen ihm und ihr wurde Lesya weiter zurückgedrängt. »Vater!«, rief sie und begann dann in einer uralten, lang vergessenen Sprache zu schimpfen, die Jack noch nie gehört hatte. Obwohl die Worte keinen Sinn machten, erkannte er ihre Bedeutung an Lesyas Tonfall – sie flehte und drohte und flehte und drohte, immer wieder, während Leschiji sie abdrängte.

Hinter Jack erschien ein Mann und kniete sich neben ihn. Er war unvorstellbar lang und dünn, sein Bart war aus lebendem, wehendem Gras, seine dicken Lianenhaare hingen fast bis zum Boden. Die Haut seiner Hände war glattgeschliffene Baumrinde. Er war der lebendige Wald.

»Du hast es gesehen«, sagte er und griff nach den Ranken an Jacks Beinen.

»Leschiji«, keuchte Jack atemlos.

»Geh«, sagte der Mann. Die Ranken zerfielen bei seiner Berührung oder wichen vor ihm zurück wie ein verängstigter Hund.

»Und was wird mit Lesya?«

Der Waldgott blinzelte. Die Geste verriet Jack, wie sehr es ihn schmerzte, in dieser Gestalt zu erscheinen. »Geh«, sagte er wieder. Jack nickte dankend und ging.

Während er weiterlief, brach wieder das Chaos um ihn herum aus. Er hielt den Blick auf den Boden gesenkt und widerstand der Versuchung, seine Sinne umherstreifen zu lassen, denn nun brauchte er seine ganze Konzentration. Hinter ihm ging der Kampf weiter, doch es klang nun so weit weg wie nie.

Er war vielleicht minutenlang gelaufen, vielleicht stundenlang, doch jede einzelne Sekunde seiner Flucht war gespenstisch und unheimlich. Die Tiere waren längst geflohen, die einzigen Geräusche waren seine Schritte im Laub und Mulch des Vorjahres und die krachenden, polternden, donnernden Laute, die ihn verfolgten. Er lauschte vorsichtig, um zu hören, ob sie näher kamen …

Ohne Vorwarnung endete der Wald plötzlich. Er stolperte auf den grasigen Hang eines kleinen Hügels hinaus.

Jack blieb vor Schreck die Luft weg. »Ich dachte schon, ich komme da nie raus«, flüsterte er. Die Geräusche hinter ihm waren verstummt. Alles war still. Ist sie weg? Jetzt, wo ich draußen bin, hat sie da meine Flucht akzeptiert und ist zu ihrer einsamen Hütte zurückgekehrt?

Er dreht sich um und sah zum dunklen Wald zurück, der so plötzlich aufgehört hatte. Und da erschien Lesya vor ihm, trat zwischen den Bäumen hervor und schüttelte ein paar Blätter aus den Haaren, die sich dorthin verirrt hatten.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er.

Sie lachte nun und trat unter den Bäumen hervor auf das Grasland hinaus. Ihr Duft ging ihr voraus und betörte Jacks Sinne. Sie ging in die Hocke, verwandelte sich in einen Puma und sprang.

Etwas schoss an ihm vorbei und traf die springende Raubkatze. Von links und rechts blitzten andere Gestalten herbei, und Jack dachte nur noch: Wölfe! Sie knurrten und grunzten und schossen hin und her. Da begriff Jack, was sie vorhatten – sie trieben Lesya in Pumagestalt wieder in den Wald zurück. Sie schlug nach einem und streckte ihn nieder. Dann riss sie ihm mit einem Biss ihrer Reißzähne und einem Zucken ihres Kopfes die Innereien heraus.

Plötzlich war sein Wolf bei ihm. Er nestelte mit der Schnauze an seiner Hand und versuchte ihn wegzuziehen. »Ich weiß nicht, wie viel ich davon noch aushalte«, sagte Jack. Das Tier zerrte an ihm, bis er sich umdrehte und wieder weiterlief.

Der Wolf ließ von ihm ab und stürzte sich wieder ins Getümmel. Jack sah einen Moment lang zu, wie Lesya kurz in ihrer menschlichen Gestalt erschien. Sie starrte mit überraschter Miene seinen wölfischen Begleiter und Beschützer an. Das Letzte was er von ihr sah, war, als sie sich wieder in einen Puma verwandelte, ihr Grinsen zu einem Brüllen wurde und sie sich wieder in die Schlacht warf.

Jack lief und lief. Er hatte keine Ahnung, woher er die Energie nahm, aber er verließ sich auf sie. Er rannte nach Süden, ohne zu wissen, ob das die richtige Richtung war. Aber jeder Schritt in diese Richtung brachte ihn näher an sein Zuhause. Je weiter er lief, desto wichtiger erschien ihm das.

Es kam ihm so vor, als habe er durch seinen wochenlangen Aufenthalt in der Hütte bei Lesya sein Zuhause verraten. Schon jetzt kam ihm die Zeit dort wie ein Traum vor, obwohl seine Schrammen und Wunden durchaus echt waren. Die Landschaft um ihn herum war zwar unwirtlich, aber doch irgendwie vertraut und nicht mehr durch Lesya beeinflusst oder verdorben. Erst jetzt, außerhalb des Waldes, wurde ihm klar, dass ihr Einfluss immer erkennbar gewesen war. Auch wenn er auf den ersten Blick nicht so offensichtlich war wie eine besondere Farbe oder ein spezielles Schimmern, oder die Art, wie die Schatten geworfen wurden. Aber er genoss es, wieder in der echten, unberührten Natur zu sein. Die Natur enthielt mehr als genug Zauber, fand er.

Irgendwann konnte er nicht mehr weiterlaufen. Auf halber Strecke über eine weite Ebene setzte er sich ins hohe Gras, weit weg von allen Bäumen, und ließ sich auf den Rücken fallen. Er sah zum Himmel hoch und versuchte nach außen zu fühlen, wie es Lesya ihm beigebracht hatte. Er tastete mit allen Sinnen um sich und suchte seinen Wolf. Er erwartete nicht, dass es funktionierte – vielleicht war es die ganze Zeit nur ihr Zauber gewesen –, doch dann hörte er ein Knurren, roch feuchtes Fell und spürte heißes Blut auf seinem Bauch und seinen Beinen.

»Nein«, flüsterte Jack. Er setzte sich auf und blickte nach Norden, von wo er gekommen war. Nein.

Er hätte nie gedacht, dass sein Begleiter und Beschützer verwundbar wäre. Doch nun war er verletzt. Mit jedem Herzschlag seines eigenen Herzens fühlte er den Schmerz des Wolfs wie einen leichten Nebel. Vielleicht konnte ein Wesen aus Rauch und Dunst nur durch ein Zauberwesen wie Lesya verletzt werden.

Die Versuchung umzukehren war enorm. Doch was würde das bringen? Egal, wie verletzt der Wolf war, er hatte sich für ihn geopfert. Er selbst durfte das jetzt nicht wieder aufs Spiel setzen.

Erschöpft, kalt, hungrig, verletzt und noch mehr am Ende, als nach dem Angriff des Wendigos vor etlichen Wochen, machte sich Jack wieder auf in die Wildnis.