KAPITEL 14
DER GEIST DER GEWALT

Der Wendigo verfolgte ihn, und Jack London rannte um sein Leben. Er sah sich nicht um – einmal hatte er ihn schon nachts gesehen. Der Sturm hatte ihn ein wenig vor dem Anblick verschont, aber er hatte überhaupt keine Lust, dieses Ding am helllichten Tag zu erblicken. Er sah zwar nicht hin, dennoch waren seine anderen Sinne hellwach, und er wusste, das Ungetüm hatte ihn jetzt im Visier. Als der Wind die Richtung geändert hatte, konnte er nicht nur den Geruch wittern, sondern auch das Knirschen des Schnees und das Knacken der Sträucher hören. Selbst die Luft schien anders zu schmecken, da sie nicht mehr durch den Wintersturm gefiltert und gesäubert wurde, sondern erfüllt war vom Hauch des Todes.

Er könnte sich umdrehen und schießen, obwohl er sicher war, das es nichts nützen würde. Trotzdem behielt er die Waffe in der Hand, nur, um dem Ding zu signalisieren, dass er noch nicht aufgegeben hatte.

Wie viele Reisende, Entdecker und Goldsucher hatte der Wendigo wohl schon vor seinem Angriff in Panik ausbrechen sehen, die Gepäck und Waffen nach allen Seiten von sich warfen und blindlings dem Tod entgegenstürzten? Jack konnte und wollte es gar nicht wissen. Wenn er heute hier sterben würde, dann erhobenen Hauptes.

Ich muss es bis zu den Bäumen schaffen, dachte er, die ersten Umrisse eines Planes im Kopf. Was auch immer Lesya mit ihm vorgehabt hatte, er musste ihr für vieles dankbar sein, nicht zuletzt für das Essen, das sie für ihn zubereitet hatte. Sonst wäre er längst zusammengeklappt und elend krepiert. Trotz seiner Panik staunte Jack tief im Innersten, wie stark er war, wie schnell er laufen konnte. Er fragte sich, ob alle Opfer auf der Flucht vor ihren Feinden sich einen Moment lang so fühlten.

Als Jack den Schutz der Bäume erreichte, änderte er sofort die Richtung. Er tastete mit dem Geist um sich und entdeckte einen Fuchs, der sich hundert Schritte entfernt furchtsam zusammengekauert hatte, und nicht weit davon lag der Wildwechsel, den der Fuchs und seine Familie zum Fluss nahmen. Er lenkte seine Schritte diesen Pfad entlang, beschwor seine neuerworbenen Fähigkeiten und gab im Laufen ein fuchsartiges Bellen von sich. Der Weg stieg vom Fluss aus an, und sein Schritt verlangsamte sich … Dann hörte er hinter sich, wie Bäume und Äste vom Wendigo geknickt wurden.

Er hätte mich jederzeit kriegen können, dachte Jack, schlug einen schnellen Haken und sprang über das Loch, in dem die Fuchsfamilie sich versteckte. Er ist mir durch den Schneesturm gefolgt und hätte mich in Stücke reißen können.

Er sprang über einen Graben und schoss nach links, vom Fuchspfad weg. Er behielt im Laufen die pelzige Wärme des Fuchses im Gedächtnis und das Knurren, das in seiner Kehle rumorte, war nicht sein eigenes. In der Eile der Verfolgungsjagd hatte sein Plan noch keine konkreten Formen angenommen: Er wollte den Wendigo bloß verwirren. Wenn das gelang, würde sich vielleicht eine Gelegenheit zum Entkommen ergeben.

Jack lief wieder im Zickzack nach links und rechts und blieb tief gebückt in Bodennähe. Er wich einem umgestürzten Baum aus und widerstand der Versuchung, sich dahinter zu verstecken. Selbst wenn er sich perfekt tarnen könnte, würde die Bestie ihn finden. Er könnte sich vielleicht unter Blättern verbergen oder so tun, als wäre er ein Fuchs. Doch seine Talente waren noch frisch, und er könnte bestimmt nicht seinen menschlichen Geruch oder seinen Pulsschlag vertuschen.

Er hielt inne und konzentrierte sich. Seine Einfühlung schwenkte vom Fuchs zu einem Kaninchen, und er rannte wieder los. Kann er so was riechen oder erkennen?, fragte er sich. Nimmt er sie überhaupt zur Kenntnis? Er wusste vom Wendigo nur, dass er allein nach Menschenfleisch gierte. Tiere waren höchstens Nebensache. Aber er musste es wenigstens versuchen.

Beim nächsten umgestürzten Baum blieb Jack stehen und schaute sich zum ersten Mal um.

Der Wendigo raste den Hang nach oben. Er kam mit seinen Riesenarmen peitschend und um sich schlagend zwischen den Bäumen durch und sah einen Moment lang wie ein lebender Baum aus. Die Größe kam jedenfalls hin. Jedes Mal, wenn er ein Bein hob, um einen Schritt zu machen, hallte ein scharfes reißendes Geräusch durch den Wald, als würden Wurzeln aus der Erde gerissen. Die Luft um ihn herum schien mit Blut befleckt zu sein – die Atmosphäre war davon vernebelt, die Baumstämme damit bespritzt –, und Jack erkannte, dass das Geräusch von den Wunden am Leib der Bestie herrührte, die ständig neu aufgerissen wurden.

Er suchte nach dem Gesicht des Ungeheuers und war erstaunt, wie sehr es leiden musste. Doch selbst am helllichten Tag verhüllten Schatten sein Antlitz.

Der Wendigo brüllte. Vielleicht sah er ihn oder spürte seinen Blick, jedenfalls verstummte er nach einem Moment, holte laut schnaufend Luft und schnüffelte nach ihm. Äste zersplitterten, als er den Kopf nach links und rechts drehte, Blätter fielen, und dann spürte Jack seine volle Aufmerksamkeit auf sich gerichtet.

Er versuchte zu atmen, konnte es aber nicht. Als er sich umdrehte und weiterlaufen wollte, erkannte er seinen schrecklichen Irrtum: Vor diesem Etwas kann man nicht davonlaufen!

Irgendwann würde er sich ihm stellen müssen.

Zuerst musste er jedoch seine Gedanken sammeln, dafür würde er ein Versteck brauchen.

Im Laufen tastete er voraus und um sich. Er versuchte Lesyas Lektionen und die kleine Gabe der Zauberkraft zu benutzen, um die Eigenschaften der wilden Tiere zu beschwören. Dabei begriff Jack, wie wenig er von seinen seltsamen Talenten verstand, denn beim ganzen Schrecken seiner Flucht hatte er keine Möglichkeit, einzuschätzen, wie viel sie tatsächlich bewirkten. Heute würde er keine zweite Chance bekommen.

Er umklammerte fest sein Gewehr, das Gewicht des Goldes hinderte ihn. Trotzdem kämpfte er sich weiter. Bald spürte er eine Höhle irgendwo vor sich und die letzten Spuren der ehemaligen Bewohner. Rasch schlug er diese Richtung ein und schaute sich ängstlich um, falls die früheren Bewohner in dem Moment zurückkehrten. Solche Befürchtungen waren jedoch so unsinnig, dass er fast lachen musste. Er blickte sich nach dem Wendigo um, der ihn verfolgte – sah jedoch nur Bäume am Hang hin- und herschwanken – und lief dann zur Höhle.

Es war eine alte Schwarzbärenhöhle. Schell wälzte sich Jack in den Überresten am Boden der Höhle. Er stellte sich vor, er sei der Bär, der tief in seiner Kehle knurrte und grollte, mit den Pfoten in der Erde wühlte und sein Fell wütend und abwehrend vor der nahenden Gefahr aufstellte. Er hörte den Wendigo näherkommen und verhielt sich ganz still.

Irgendwo draußen vor der Höhle blieb der Wendigo stehen.

Jack atmete kehlig und schwer wie ein Bär. Er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Der glaubt das nie, dachte er, und sein Selbstvertrauen schwand gerade in dem Moment, als die Beine des Monsters sichtbar wurden.

Die Öffnung der Höhle war niedrig und mit Hängepflanzen überwuchert. Selbst wenn sie nicht da gewesen wären, hätte Jack weder den Oberkörper noch den Kopf des Ungeheuers sehen können, weil es so riesig war. Seine Beine waren wie blutende Baumstämme, dünn, knorrig und hier und da mit tiefen Wunden übersät. Seine Füße glichen unförmigen Fleischklumpen. Dort, wo Jack die Zehen vermutete, ragten zersplitterte Knochen heraus. Aus den Wunden und Schwielen flossen Blut und andere Körperflüssigkeiten, und an mehreren Stellen an den Beinen ragten merkwürdige spitze Wucherungen hervor, wie Haare, nur dass sie so dick waren wie Jacks Finger.

Als Jack bewusst wurde, dass er den Atem anhielt, musste er nach Luft schnappen. Der Wendigo grunzte, die Beine verdrehten sich, irgendwo außerhalb von Jacks Sichtweite drehte sich wohl auch der Oberkörper. Er hat mich gehört, dachte er. Plötzlich kam ihm die Höhlenöffnung sehr weit weg vor und sehr kostbar. Sie war der einzige Lichtfleck in seiner ständig dunkler werdenden Welt. Durch diese Öffnung würde aber auch der Tod zu ihm kommen. Er kniff die Augen noch mal fest zusammen, dachte sich auf Lesyas Lichtung zurück, sah ihr wunderschönes Gesicht vor sich und konzentrierte sich ganz stark auf die Geräusche und Gerüche eines Schwarzbären. Sie lächelte und nickte zustimmend. Als Jack dann etwas zu ihr sagte, klang es wie ein Brummen.

Er öffnete die Augen. Der Wendigo schien vor der Bärenhöhle erstarrt zu sein. Jack stellte sich vor, wie er den Kopf zur Seite legte, als würde er auf weitere Geräusche lauschen. Jack brummte also wieder, ein tiefer, kehliger Laut, der auch eine Spur ängstlich klang. Denn er vermutete, dass jeder Bär, der sich diesem Ding gegenüber sah, auch Angst empfinden würde.

Der Wendigo heulte laut auf – ein Geräusch voller Schmerz und Elend – und stapfte davon.

Jack stieß erleichtert die Luft aus und kroch rasch wieder zum Höhleneingang. Lange kann ich ihn nicht abschütteln, sagte er sich. Bald wird er die Täuschung bemerken, riechen, und wenn er wiederkommt, werde ich die Überraschung nicht mehr auf meiner Seite haben. Was er vorhatte, war vielleicht unklug und könnte seinen Tod bedeuten, aber er war es auch müde, immer wegzulaufen. Irgendwann würde das Ungeheuer ihn sowieso einholen und sich über ihn hermachen, und er würde voller Angst und Erschöpfung sterben, und sonst gar nichts. Doch auf diese Weise würde er zumindest erst einmal die Oberhand in diesem Kampf haben.

Er kroch aus der Höhle und stand langsam auf, wobei er für den Moment die Satteltaschen zurückließ. Der Wendigo befand sich bergauf vor ihm und zog sich an Baumstämmen den Hang hinauf. Sein Kopf war die monströse Parodie eines Menschenkopfes, und ganz kurz dachte Jack, er bestehe aus vielen Körpern, die ineinandergerollt und verschlungen waren. Er blinzelte rasch und versuchte, diesen Eindruck abzuschütteln, doch er wurde die Vorstellung nicht ganz los.

Er ging in die Hocke, legte das Gewehr an, atmete tief durch und zielte auf die Rückseite dieses massigen Kopfes.

Als der Wendigo stehen blieb, um nach dem nächsten Stamm zu greifen, drückte Jack ab.

Der Knall war unglaublich laut. Er machte Jack deutlich, wie totenstill der Wald geworden war. Die Kreaturen des Waldes beobachteten ihn und den Wendigo schweigend. Vielleicht hatten sie dieses Schauspiel bereits viele Male gesehen. Das verfluchte Ungeheuer jagte einen Menschen aus Fleisch und Blut durch die Landschaft, und wie es vermutlich ausgehen würde, wussten sie nur zu gut. Aber wenn die Legende des Wendigo so verbreitet war, musste es unter seinen Opfern wenigstens ein paar Überlebende gegeben haben. Aber da es immer noch als Aberglauben und Märchen abgetan wurde … konnten es nicht allzu viele gewesen sein.

Jack war sich sicher, dass seine Kugel getroffen hatte, doch ihre einzige Wirkung war, dem Wendigo zu verraten, wo er sich befand. Mit einer Geschwindigkeit, die für seine Größe unglaublich war, wirbelte das Ding herum und kam auf Jack zu. Es brauchte keine Pause, hielt nicht inne, um den Menschen in seiner Nähe ausfindig zu machen … Es kam einfach den Hang herabgestürzt wie eine Lawine aus Fleisch und Knochen. Und damit begann der größte Kampf in Jacks Leben.

Wieso um alles in der Welt habe ich gedacht, ich könnte dieses Ding besiegen?, fragte er sich, ließ das Gewehr fallen und blieb wie angewurzelt stehen. Doch die Antwort wusste er bereits. Es hatte weniger mit den Täuschungen und Nachahmungen zu tun, die Lesya ihm beigebracht hatte, sondern mehr mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Natur, das er empfand. Dieses Gefühl war mehr und mehr in ihm gereift, seit sie in Dyea an Land gegangen waren. Es passte alles irgendwie. Jack hatte schon lange aufgehört, an der Schicksalhaftigkeit der Mächte zu zweifeln, die seine Reise in Bewegung gesetzt hatten.

Er hatte die Wildnis weder besiegt noch gezähmt. Er war ein Teil von ihr geworden und sie von ihm.

Jack stieß einen Schrei aus. Es war weder ein spezieller Tierlaut noch ein menschlicher Schrei. Es war der Ruf der Wildnis, und er legte jedes letzte bisschen Kraft hinein, um seiner geballten Wut Ausdruck zu verleihen. Es durchzuckte seinen ganzen Körper, er richtete den Schrei in den Himmel. Seine Haare standen zu Berge, seine Haut kribbelte und seine Knochen schienen mit dem Schrei im Takt zu vibrieren.

Der Wendigo verlangsamte auf Schritttempo, kam jedoch trotzdem weiter auf ihn zu. Sein unförmiger Kopf neigte sich zur Seite, diese Augen eines Wahnsinnigen betrachteten Jack wie einen Leidensgenosssen. Und hatte er da so Unrecht? Jack schrie erneut, diesmal direkt an das Monster gerichtet. Als das Ungeheuer einen Moment zu zögern schien, machte der schreiende Jack einen Schritt auf ihn zu.

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Der Wendigo wich zurück, hustete überrascht, kauerte sich hin und streckte den Kopf vor. Er schnupperte und blähte die großen feuchten Nüstern in seinem Schädel. Jack ballte die Fäuste. Sein Herz pochte, das Blut pumpte so rasend durch seinen Körper, dass ihm ganz schwindlig wurde in diesem ungewöhnlichen Sturm.

Und jetzt verrieten die Augen des Wendigos das ganze Ausmaß seines Wahnsinns. Er kreischte und geiferte beim Geruch von Jacks Fleisch und Blut, die Hände schossen vor und griffen nach ihm, wobei er die Äste von den Bäumen abschlug. Die Arme des Untiers waren länger, als Jack gedacht hatte, die Finger noch länger. Jack stürzte nach hinten und spürte die kühle Berührung der Fingerspitzen an seinem Gesicht kratzen. Blut rann ihm über die Lippen in den Mund.

Er leckte die Lippen, schmeckte sein Blut und dachte: Das ist es, was er will.

Der Wendigo kam auf ihn zu, Jack zog das Messer aus seinem Gurt. Er wich dem Hieb eines Armes aus, sprang aus dem Weg und hackte nach einem Fuß. Das Ungeheuer hob ein Bein und stampfte damit auf, während Jack zurückwich. Das Biest würde ihn liebend gern erst zerquetschen und dann verspeisen. Sein Blut wäre danach immer noch frisch genug.

Er lief hinter das Ungeheuer, duckte sich dabei unter etwas hindurch, dass entweder ein Ast oder ein Schwanz war, beugte sich auf das Monster zu und zog das Messer von links nach rechts durch. Er spürte warmes Blut, als die Klinge das Fleisch durchschnitt. Der Wendigo schien es vor all den eiternden Wunden und Schwielen an seinem Körper kaum zu bemerken und griff stattdessen zu Jack hinunter

Jack sprang zwischen seinen staksigen Beine hindurch, schlug einen Haken nach rechts und stolperte dabei über eine Wurzel, die unter dem Schnee versteckt war. Jetzt würde der Wendigo ihn langsam und genüsslich auseinanderreißen, seine beiden Körperhälften umstülpen und sich sein Blut ins Maul schütten. Jack konnte sich das Bild nur allzu gut ausmalen, während er hinter einen Baum in Sicherheit kroch, gerade außerhalb der Reichweite.

Der Gestank des Wendigos war ekelerregend: Gammeliges Fleisch, Tod, Verwesung, Schmutz und Eiter strömten ihm aus der ledernen Haut. Die Geräusche, die er machte, waren genauso widerlich: einerseits das Knurren, während er ihn suchte, andererseits auch ein fernes, tiefes Rumoren aus seinem Bauch, der Widerhall eines endlosen Hungers, der niemals gestillt werden konnte. Irgendwo dort drinnen rieben sich die Knochen von Jacks Freunden und Feinden aneinander.

Als der Wendigo um einen Baum herum nach ihm griff, stach er mit dem Messer wieder zu. Diesmal schrie der Wendigo auf.

Ohne darüber nachzudenken, gab sich Jack seinem Instinkt hin, verwarf Verstand und Vernunft und gehorchte nur noch seinen Urtrieben. Die meisten Menschen verachteten die letzten Überreste unserer animalischen Natur und hielten sich für etwas Besseres, doch nun spürt Jack die geballte Gewalt seiner menschlichen Urahnen, ihre Gedanken, Gefühle und ihren Überlebenswillen. Tausende Jahre vor ihm hatten die Urmenschen die Natur herausgefordert und besiegt, und nun tat Jack es ihnen nach.

Sein Messer war Zahn und Klaue, die Geschwindigkeit sein Verbündeter, Furchtlosigkeit sein Antrieb. Er hatte den Tod im Nacken und jeder Herzschlag konnte sein letzter sein. Doch die Gefahr gab ihm Kraft, denn der Kampf um Leben und Tod war die treibende Kraft der Natur.

Der Kampf verschwamm in seinem Bewusstsein. Der Wendigo schrie, und Jack schrie auch. Himmel und Erde standen Kopf, Äste schlugen ihm ins Gesicht, der überwältigende Mundgeruch des Monsters blies ihm in die Augen und drang ihm in den Rachen. Seine Hand war heiß vor Blut und glitschigen Innereien. Sie hielt immer noch das Messer umklammert, er spürte jedoch nicht mehr den Griff in seiner Hand, so als wären er und das Messer eins.

Er schlug, schnitt und stach, rollte sich über den blutbefleckten Schnee am Boden, fühlte, wie sich die Landschaft um ihn bewegte, während er nach allen Seiten hin- und herschnellte, in Lauerstellung ging und sprang. Die Wildnis gab ihm die Bodenhaftung, von der er seine Angriffe starten konnte, und irgendwann – vielleicht hatten sie schon Stunden gekämpft, vielleicht nur Minuten – schrie der Wendigo wieder und diesmal klang es anders.

Und in diesem Schrei hörte Jack die Angst.

Er verdoppelte seinen Angriff, Wut und Zorn brachen einer solchen Raserei Bahn, wie er sie noch nie gekannt hatte. Eine Zeit lang war er ein wildes Biest, das nur in der Gegenwart existierte, ohne einen Gedanken an die Zukunft oder die Vergangenheit zu verschwenden – er war nicht mehr Jack London, er hatte keinerlei Familie, und morgen war ein unbekanntes Wort.

Irgendwann merkte Jack, dass das Geschrei und Gekreische aufgehört hatte. Er bewegte sich immer noch über der feuchten, warmen Erde hin und her, stach zu und duckte sich wieder weg, und es dauerte eine ganze Weile, bis er merkte, dass der Boden unter seinen Füßen nicht mehr der Waldboden war. Er war voll Schweiß und Blut. Der Boden roch nach frischem Tod. Jack stand auf dem Leichnam des Wendigos.

Jack holte tief Luft, richtete sich auf und sah sich um. Er stand auf der Brust des Ungetüms, den linken Fuß in einer Pfütze aus dickem, dunklem Blut. Das Ding hatte die Arme und Beine von sich gestreckt, alles war zerschnitten und zerschunden, eine Hand fast am Gelenk abgetrennt, die Finger umklammerten einen Baum und gruben sich in die Rinde. Links von ihm lag der Kopf der Bestie, nach hinten geworfen, das monströse Maul weit aufgerissen. Dampf stieg ihm aus der Mundhöhle und aus dem, was von seinem Hals und Rachen übrig war.

Irgendetwas pfiff und blubberte, und Jack hörte den letzten Atemzug des Wendigos.

Jetzt kann ich wieder normal sein, dachte er, war sich jedoch nicht ganz sicher, denn es fühlte sich immer noch nicht richtig an. Das Herz hämmerte in seiner Brust, und seine Hand weigerte sich, das Messer loszulassen. Und dann dieser Geruch …

Der Verwesungsgestank war verschwunden und an seine Stelle der Duft von frisch zubereitetem Essen getreten, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Da wurde etwas gekocht – er roch das leckere Fleischaroma, das brutzelnde Fett stach ihm in die Nase, dazu der feine Geruch von geschmortem Gemüse. Er seufzte und fiel auf die Knie, schloss die Augen und ließ sich wieder in Lesyas Lichtung transportieren, wo er ihr beim Kochen und Zubereiten der Mahlzeiten zusah. Bei jedem Atemzug wurde der Geruch unwiderstehlicher, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen.

»Ich dachte, ich wäre nicht mehr hungrig«, wunderte sich Jack laut, doch der leckere Essensgeruch um ihn herum strafte ihn Lügen. Scheinbar hatte er mehr Hunger, als er es je für möglich gehalten hätte. Hatte Lesya ihn hungern lassen, während sie ihn ihre Zauberkünste gelehrt hatte? Hatte sie ihm nur ein Trugbild von Essen vorgesetzt? Im Laufe der Zeit Schicht für Schicht seines Körperfetts abgetragen, um an seinen innersten Kern zu gelangen …?

Um ihn herum setzten wieder die Geräusche des Waldes ein. Der Vogelgesang schien ganz besonders melodiös, das Rascheln und Fiepen der Kleintiere im Unterholz ganz besonders lebhaft zu sein. Insekten summten, Fliegen flogen, Jack kam sich langsam vor wie der Mittelpunkt des Ganzen. Er sah mehrere Vögel auf Ästen sitzen, die bei seinem Kampf mit dem Wendigo abgebrochen worden waren, und lauschte ihrem Gesang. Er streckte seinen Geist nach ihnen aus und wollte in ihren Gesang mit einstimmen, doch vor ihm und um ihn herum verdunkelte irgendetwas seine Wahrnehmung und schnitt ihn von seiner Umgebung ab.

»Ich heiße Jack London«, sagte er, doch die Worte schienen keine Bedeutung zu haben. Sein Bauch rumorte und brüllte, als sympathisiere er mit dem schrecklichen Hunger, den er beim Wendigo verspürt hatte. Seine Kehle war ausgetrocknet. Fleisch wird meinen Hunger stillen, sagte er sich, Blut wird meinen Durst löschen.

Der Boden schien sich unter seinen Füßen zu bewegen, Bäume wuchsen um ihn herum in die Höhe. Er sah sich einen Moment lang verwirrt um und bemerkte dann, dass der Körper des toten Wendigos schrumpfte. Haut und Fleisch schrumpelten zusammen und zerfielen. Blut pulsierte aus dem rohen Fleisch, die Gliedmaßen zogen sich zusammen, Bauch und Brust sanken ein, und der Kopf des Untiers kippte zur Seite.

Bald würde vom Wendigo nichts mehr übrig sein. Jack musste ab jetzt Fallen stellen, Kaninchen jagen, häuten, ausnehmen und braten, doch davor würde er womöglich schon dem Hunger zum Opfer fallen, er würde unter diesem wilden Himmel einen schmachvollen Tod sterben …

Wenn er nicht …

Er ließ sich rittlings auf dem schrumpfenden Körper nieder, streckte die rechte Hand aus und schnitt ihm eine Scheibe blutigen Fleisches und Haut aus der Brust. Er hielt das Fleisch ans Licht und untersuchte es – es war dunkel und schwer und triefte immer noch vor dickem Blut. Er hielt es sich unter die Nase, nur einen Fingerbreit von der Nase entfernt, und atmete den Geruch ein. Es roch süß und roh, aber nicht bedrohlich.

Sein Magen knurrte so sehr, dass es wehtat. Er stöhnte und atmete ein. Der ekelhafte Gestank von fauligem Fleisch stach ihm in den Rachen. Ehe er sich versah, musste er sich übergeben, kippte zur Seite und warf das verwesende Fleisch auf den Boden. Er übergab sich noch einmal und rollte sich weg. Endlich löste sich Jacks Griff, und er ließ das Messer fallen. Er blieb an einem Baum liegen, keuchte blinzelnd den Himmel an, setzte sich dann und schaute sich auf dem blutgetränkten Kampfplatz um.

In der Mitte lag der tote Wendigo, dessen Verwesung immer schneller voranschritt. Eine Unmenge Fliegen ließ sich auf ihm nieder, sein Fleisch wurde schwarz, die Haut schrumpelte, und er nahm furchtbarerweise wieder die Gestalt eines Menschen an.

Jack hatte überhaupt kein Bedürfnis, genauer hinzusehen, wie der Mann ausgesehen haben könnte. Stattdessen ging er rasch Richtung Bärenhöhle und versuchte, nicht daran zu denken, was er beinahe getan hätte … was er beinahe geworden wäre. Er hob das Gewehr und die voll beladenen Satteltaschen auf und ächzte unter den Schmerzen, die der Kampf in seinen Muskeln hinterlassen hatte. Das Gewicht des Gewehrs fühlte sich gut an, jetzt, da der Wendigo tot war, denn die weiteren Gefahren, die ihm begegnen könnten, waren vermutlich alltäglicher Natur. Er brauchte etwas zu trinken. In seiner Trinkflasche war noch ein Schluck Wasser übrig. Am Fluss unten könnte er sie auffüllen. Vielleicht würde er unterwegs einen Hasen schießen können, ihn häuten und ausnehmen, heute Nachmittag zubereiten …

Er fiel auf die Knie. Fast hätte ich das gegessen! Wenn er das Fleisch des Wendigos gegessen hätte, wäre er selber einer geworden, eine verfluchte Seele, dazu verdammt, die Wildnis zu durchstreifen und sich über das Fleisch unschuldiger Reisender herzumachen. Sein Hunger wäre endlos, sein Leid ewig gewesen, bis er einen mutigen, starken Gegner getroffen hätte. Mit einem Messer.

Jack hatte sich noch nie so wild und brutal erlebt wie in seinem Kampf mit dem Wendigo. Es hatte sich alles so richtig angefühlt, doch danach hatte die Wildnis ihn fast dazu gebracht, das Fleisch seines besiegten Gegners zu essen. Etwas hatte ihn davon abgehalten. Irgendein Rest von Menschlichkeit, wofür er ewig dankbar sein würde.

»Ich heiße Jack London«, sagte er laut, »und ich bin ein Mensch.« Der Wald antwortete ihm mit einer kurzen Stille, doch als er den Hang hinabstieg, erwachte der Wald wieder zum Leben. Zu ganz normalem, ungestörtem Leben.

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Der Sturm ließ nach, als er den Fluss erreichte, und er konnte seine Fußstapfen noch in der dünnen Schneedecke erkennen, da, wo er vor dem Wendigo geflohen war. Es kam ihm vor, als wären seitdem Wochen vergangen, aber es konnten kaum mehr als wenige Stunden gewesen sein. Er sah auch die Spuren des Wendigos, was ihm zu denken gab. Die Jagd und der Kampf kamen ihm jetzt schon wie ein böser Traum vor. Es schockierte ihn, hier solch handfeste Beweise der Existenz des Ungeheuers zu entdecken. Er betrachtete das Blut an seinen Händen und unter seinen Fingernägeln und fragte sich, was passieren würde, wenn er etwas davon verschluckte. Panik stieg in ihm auf. Er spürte, wie das frische Blut in seinem Gesicht und an seinem Hals festtrocknete. Als es vorhin im Wald so reichlich geflossen und gespritzt war, musste er einfach etwas davon in den Mund bekommen haben, keine Frage.

Er fiel am Flussufer auf die Knie spritzte sich mit beiden Händen das eiskalte Wasser ins Gesicht und über den Kopf. Er erschrak vor der Kälte, doch er war auch dankbar für die reinigende Wirkung des Wassers. Verwässerte rosa Blutspritzer befleckten den Schnee um ihn herum. Er wusch sich ab, schrubbte seine Hände, kratzte mit der Messerspitze unter den Fingernägeln und scheuerte so fest, dass er seine Haut aufschabte. Er wusch sich, bis Blut kam, und machte sich dann mit seinem Gepäck wieder den Fluss entlang auf die verzweifelte Suche nach einer Unterkunft für die Nacht, wo er warm und geborgen wäre. Er musste sich ausruhen und seine Kleider trocknen. Es war zwar noch nicht Winter, aber wenn er es vor Wintereinbruch aus dem Yukon schaffen wollte, musste er sich beeilen.

Er war froh, Abstand zwischen sich und diesen Wäldern zu gewinnen. Irgendwo dort hinten spukte Lesya in ihrem Wald herum, und noch viel näher lag der tote Wendigo. Vielleicht war er inzwischen völlig verrottet, aber da waren immer noch seine Knochen, und der Geist seines unstillbaren Hungers würde vermutlich für immer zwischen diesen Bäumen herumspuken.

Er spürte, dass sein Abenteuer hier vorbei war. Jack erreichte wieder das Lager, wo der Wendigo so viele Menschen getötet hatte. Und bevor es völlig dunkel war, hatte er die Feuerstelle mit dem Fuß freigeschaufelt. Nun machte er sich daran, ein neues Feuer zu entfachen.