KAPITEL 15
RÜCKKEHR AUS DER WILDNIS

Jack wärmte sich die Hände am Feuer, das die Dunkelheit in Schach hielt. Er empfand das Feuer als sauber und reinigend. Die Dunkelheit war zwar erfüllt von den ihm jetzt schon so vertrauten Lauten der Wildnis, doch sie kamen ihm nicht bedrohlich vor. Er hatte sich dem Schlimmsten gestellt, das dieses Land zu bieten hatte, und hatte überlebt.

Dennoch empfand er keinen Triumph. Im Moment empfand er gar nichts. Er war wie ein verletztes Tier, das seine Wunden leckte. Der Schock hatte ihn immer noch im Griff.

Und er hatte viele Wunden. Sobald das Feuer brannte und er sich hinsetzen konnte, untersuchte Jack zum ersten Mal seinen Körper und war erstaunt, was er da alles fand. Seine Hände waren blutig aufgerissen und voller Schrammen und verbeult. Vermutlich hatte er sich einige der Schnitte mit dem eigenen Messer zugefügt, andere stammten von Dornen und abgebrochenen Zweigen. Er verbrachte eine ganze Weile damit, im flackernden Feuerschein die Splitter unter seiner Haut zu entfernen, die teilweise so lang wie sein halber Finger waren. Der Schmerz war scharf und schneidend, und er versuchte gar nicht erst, sein Aufstöhnen zu unterdrücken.

Eine Gesichtshälfte war voller Grind und Schorf, und noch nie in seinem Leben hatte er sich so sehr einen Spiegel gewünscht. Er konnte die Wunden unter den Händen spüren, aber wie sie auf seinem wohlvertrauten Gesicht aussahen – so jung, stürmisch, zuversichtlich – konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Seine Haut fühlte sich so viel älter an, sein Gesicht war bestimmt auch gealtert.

An Armen und Beinen hatte er überall blaue Flecken, drei Zehen an seinem linken Fuß verfärbten sich dunkel, fast alle Zehennägel waren ihm ausgefallen. Sein Magen rumorte. Seine Rippen taten weh, wahrscheinlich waren ein paar gebrochen. Er hustete sich in die Hand und untersuchte die Spucke lange im Feuerschein, bis er sich vergewissert hatte, dass kein Blut darin war.

Der Mond tauchte am Himmel auf und die Sterne erschienen. Jack begann, den Schock abzuschütteln. Er wickelte sich in die Decken, die er im zerstörten Lager gefunden und notdürftig am Feuer getrocknet hatte, und war sich ganz sicher, dass er jetzt niemals einschlafen könnte.

Doch schon Augenblicke später schlummerte er ein, den Kopf auf den Satteltaschen voll Gold. Und als ob das sagenumwobene gelbe Metall ihn bis in seine Träume verfolgte, sah er sich bald darauf in besseren Tagen wieder.

Ihm war bewusst, dass er träumte. Dennoch hatte er keine Kontrolle über die Bilder, die ihn durch den Schlaf begleiteten. Es waren Erinnerungen an seine Vergangenheit. Verletzt und blutend hier im wilden hohen Norden, erkannte er einige der Schlüsselmomente seines Lebens wieder: Er ging zu Fuß die Landstraße entlang, streckte den Daumen heraus, um mitgenommen zu werden, und erkundete Amerika von ganz unten. Er war arm, aber glücklich. Er hatte wenig, doch es fehlte ihm an nichts, und jedes Gefährt, das anhielt, um ihn mitzunehmen, verhieß ein neues Abenteuer. In seinen Träumen begegneten ihm so einige harte Kerle, manche davon waren sogar richtig grausam und fies, doch am Ende stand Jack immer ein bisschen älter und klüger da und wusste wieder etwas mehr über die Menschen und sich selbst. Es ging ums Erwachsenwerden.

Das Meer wogte unter seinen Füßen, als er das erste Mal Amerika verließ und sich zur Robbenjagd in den Pazifik wagte. Er stand bis zu den Knien in Blut und Gedärmen, der Himmel strahlte auf ihr brutales Treiben hinab, und die Jungs und Männer um ihn herum waren ein schweigsamer, brutaler Haufen. Jack hielt sich von ihnen fern, beobachtete aber jeden Einzelnen von ihnen und konnte sie in seinem Traum alle wiederfinden: Jeff, der Wortkarge, der sich als erstaunlich belesen erweisen sollte, Peters, der Europäer, der nur Englisch sprach, wenn es ihm passte, und der, der sich Gespenst nannte.

Man jagte ihn und schrie hinter ihm her. Seine Schaluppe war voll geklauter Austern, und er wusste ganz genau, dass er die Seiten wechseln und selber Austernpiraten jagen würde, wenn sie ihn schließlich erwischten. Vielleicht war dieser Verrat in Wahrheit das düsterste Kapitel seiner Biographie, während diese Erinnerung die ehrlichere, strahlendere Seite war: wie er über die Wellen segelte, den Fischereibeamten auswich und zwischen Nebelbänken und Küstengewässern, die nur er kannte, seinem Gewerbe als Dieb nachging.

Er träumte auch andere Träume – von anderen Orten, und bei jeder Erinnerung ging es ihm besser. Er durchlebte noch mal sein hartes, aber voll gelebtes Leben, ergötzte sich an seinen Erlebnissen außerhalb des wilden Yukon. Es kam ihm vor, als bereitete sich sein Körper so darauf vor, in diese andere Welt zurückzukehren.

Er träumte weiter und sah noch mehr von sich: wie er dem Jungen in Dawson zu Hilfe gekommen war. Wie er entsetzt mit angesehen hatte, als der Wendigo hier, an genau dieser Stelle, wo er schlief, seine Freunde und Feinde gleichermaßen zerfetzt hatte.

Und dann Lesya.

Bevor der Traum fertig war, wachte Jack mit einem Schrei auf. Er wollte den Traum nicht zu Ende träumen, falls danach nichts mehr kam. Sein bisheriges Leben war außergewöhnlich gewesen, aber es gab noch so viel zu erleben, so viel zu sehen. Er konnte nicht hier liegen bleiben und zusehen, wie sich die Höhepunkte seines Lebens vor seinem geistigen Auge abspulten, bis alles gelaufen war. Es gab noch kein Ende für ihn, noch nicht, und er würde gegen die Finsternis ankämpfen, solange er konnte.

Er setzte sich auf und betrachtete die vom Mond beschienene Landschaft. Er schauderte vor dem Gefühl des nahenden Todes, fühlte sich aber zugleich lebendiger denn je. Das letzte Mal, als er sich so neu belebt gefühlt hatte, war oben auf dem Chilkoot-Pass gewesen, als Merritt und Jim das erste Mal mit ihm Kaffee getrunken hatten, die ganze goldene Zukunft zu ihren Füßen.

Jack legte Feuerholz nach, stand auf und heulte den Mond an. Er benutzte weder Lesyas Lehren noch ihren Zauber, um seine innere Wolfsstimme zu finden, stattdessen ließ er sie ganz aus eigenem Antrieb aufsteigen. Es war ein Ausstoß reiner Freude und Freiheit, und als die Antwort irgendwo aus der Ferne kam, hielt Jack inne und sank langsam auf die Knie. Da bist du ja, dachte er, denn er kannte diese Stimme. Sein Schutzgeist war zwar verletzt, doch er würde immer da draußen in der Wildnis auf ihn warten, solange Jack noch atmete. Und er brauchte keine Zauberkräfte, um ihn zu finden, nur sein eigenes Herz.

Denn in der Wildnis hatte er sein wahres Wesen gefunden.

Am nächsten Morgen ging Jack auf die Jagd und fing ein kleines Kaninchen. Er brauchte es nicht zu schießen oder eine Falle zu stellen. Er setzte sich einfach eine Weile auf einen umgestürzten Baum, stieß kurze Kaninchenlaute aus und versetzte sich geistig in die kleinen Wesen im Gras. Eines von ihnen tauchte aus dem Busch auf und sprang auf den Baumstamm, starrte ihn an, schnüffelte und versuchte, seinen Geruch zu identifizieren. Ehe es die Täuschung riechen konnte, streckte Jack die Hand aus, packte das Tier und brach ihm das Genick, bevor es wusste, wie ihm geschah. Jack empfand einen Augenblick lang eine merkwürdige Orientierungslosigkeit, während er die Kaninchensinne abschüttelte. Als wäre das tote Tier auf seinem Schoß einer der Seinen, und eine tiefe Trauer ergriff ihn. Dann kehrte er ins Lager zurück, häutete das Kaninchen fachgerecht, brach es auf und spießte es über dem Feuer auf.

Während das Kaninchen briet, räumte Jack das Lager auf. Im Gras lagen noch Gepäck und Ausrüstung der toten Männer, und die Spuren des Massakers waren überall am Boden verstreut. Er wollte so weit wie möglich den vorherigen Zustand wiederherstellen, einerseits im Andenken an die Männer, die hier ihr Leben gelassen hatten, andererseits als Zeichen, dass der Wendigo nicht mehr existierte. Der Wendigo gehörte nun untrennbar zur Geschichte dieses Ortes, doch der Ort seines letzten grausigen Festmahls musste auch darüber hinwegkommen.

Jack legte den Sattel, in den er seinen erbitterten Nachruf eingeritzt hatte, zuoberst auf den Haufen mit Überresten. Er schien ihm ein passendes Mahnmal zu sein, auch wenn er in diesem unwirtlichen Klima kaum mehr als ein oder zwei Jahre überdauern würde. Doch die Worte waren Jack für immer ins Gedächtnis geritzt.

Das Verzehren des Kaninchens schien die Erinnerung an das Fleisch des Wendigo aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Seine Hände waren schmierig vor Bratfett, das Fleisch füllte seinen Magen. Bis er seine Sachen zusammensammelte und nach Dawson aufbrach, war sein Hunger gestillt. Er ging südostwärts, überzeugt, in dieser Richtung die Spuren der Zivilisation zu finden. Über den Schultern trug er die Satteltaschen voll Gold.

Der Schneesturm des Vortages war vorbei. Am Boden lag zwar noch Schnee, doch die Sonne ließ ihn rasch schmelzen. Der Herbst war gekommen, aber das strengste Wetter war noch mehrere Wochen entfernt. Zum ersten Mal seit langem fühlte Jack sich in Sicherheit. Er sah seine Zukunft vor sich: die Rückkehr nach Dawson, dann über den Chilkoot-Pass nach Dyea und per Schiff nach San Francisco. Dort würde er versuchen, Jims und Merritts Familien ausfindig zu machen, das Gold über seiner linken Schulter war für sie bestimmt. Das Gold auf seiner rechten … für seine eigene Familie. Es war genug, um Shepards Auslagen für die Reise zu erstatten und, wenn damit nicht alle Schulden seiner Mutter abzubezahlen waren, dann konnten die Gläubiger zumindest eine ganze Weile besänftigt werden. Es war mehr als genug. Außerdem hatte Jack seine eigenen Ideen, wie er von seinen Abenteuern profitieren könnte.

Er wusste, er könnte niemals seine eigenen schrecklichen Erlebnisse erzählen. Aber es gab jede Menge andere Dinge, die er erzählen konnte. Geschichten, die er aufgeschnappt hatte. Lektionen, die er gelernt hatte. Einblicke in das Herz der Wildnis, aber nicht in ihre Schattenseiten.

Gegen Mittag begegnete ihm eine Gruppe von Männern und Frauen, die nach Norden wollten. Als er sie von ferne sah, machte er ein kleines Feuer, in der Hoffnung, dass sie ihren Kaffee mit ihm teilen würden. Dann setzte er sich auf einen Stein und wartete. Er hatte seine Waffen griffbereit, machte sich aber immer weniger Sorgen, je näher sie kamen. Es waren Goldsucher – um ihre Hälse baumelten die Schürfpfannen –, und ihre freundlich lächelnden Gesichter beruhigten ihn.

»Guten Tag, Freund«, rief einer. Jack spürte plötzlich ein Brennen in der Kehle. Seit dem Angriff des Wendigos hatte er mit keinem Menschen mehr gesprochen, das war … wie lange her? Es fiel ihm schwer, die Zeit zu schätzen, die vergangen war. Monate jedenfalls.

»Guten Tag«, antwortete Jack. »Seltsame Jahreszeit, um von Dawson aufzubrechen.«

»Wir wissen schon, was wir tun«, sagte eine der Frauen. Sie ließ ihr Gepäck neben Jack fallen, und er sah, dass sie Waffen am Gürtel trug, Messer und zwei Pistolen.

»Dem Winter hier draußen ist es egal, ob ihr das wisst oder nicht«, mahnte Jack. Die Frau funkelte ihn an, wandte dann aber ihren Blick ab. Was sieht sie wohl in mir?, fragte sich Jack. Was starrt sie mich so an?

»Wird nur ein kurzer Ausflug«, sagte ein anderer. »Wir sind schon viermal aus Dawson aufgebrochen, ohne was zu finden. Wir wollen es noch einmal versuchen, bevor wir uns auf den Heimweg machen.«

»Dann viel Glück«, wünschte Jack ihnen.

»Hast du Glück gehabt?«, wollte die Frau wissen. Sie blickte auf seine Satteltaschen, dann wieder in sein Gesicht. Er lächelte, und sie schaute wieder weg. Er wusste, es sollte ihm nicht soviel Spaß machen, sie derart in der Hand zu haben, aber er konnte nicht anders.

»Schon«, meinte er. Er blickte von der Gruppe weg den Weg hinauf, den er gekommen war. Einen Moment lang überlegte er, was Glück war und was es bedeutete.

»Kannst du uns dann die richtige Richtung zeigen?«, fragte der erste Mann.

»Nein«, meinte Jack. »Da lang gab es weit mehr Unglück als Glück.«

Die sechs Goldsucher schwiegen einen Augenblick, warfen ihre Rucksäcke ab und ließen sich zu Boden sinken. Zwei von ihnen kümmerten sich weiter ums Feuer und setzten Kaffee auf. Jack reichte ihnen seine Blechtasse, und einer von ihnen stellte sie zu ihren Tassen auf den Boden. Jack nickte dankbar.

»Du siehst aus, als wärst du schon eine Weile da draußen«, sagte die Frau. »Solche wie dich hab ich schon öfters gesehen. Mit einem wilden Blick, als wenn sie Dinge gesehen hätten, die man nicht sehen sollte.«

Jack zuckte die Achseln und blickte ins Feuer.

»Hab auch schon Verrückte gesehen, die so ausgesehen haben«, fügte sie hinzu.

Jack zuckte wieder die Achseln, doch diesmal ließ er ein Lächeln über seine Lippen wandern. Wer weiß?, hätte er fast gesagt, aber er wollte diese Leute nicht vor den Kopf stoßen. Sie wirkten recht gutmütig und teilten ihren Kaffee mit ihm, aber sie waren alle bewaffnet. Außerdem konnte er erkennen, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatten, was da draußen in der Wildnis alles lauerte.

Sie saßen einige Stunden zusammen, tranken Kaffee und redeten über das Gold, die Wildnis und das genauso wilde Dawson. Jack spitzte die Ohren, als einer von ihnen von ein paar Verrückten in Dawson erzählte, die in Kneipen abhingen und »irgendwelchen Mist über fleischfressende Ungeheuer und tote Menschen erzählen«. Als Jack wissen wollte, wie sie hießen, fragte die Frau: »Sind das etwa Freunde von dir?« Die Frage belastete die Stimmung am Lagerfeuer, danach war die Situation zwischen ihnen nicht mehr dieselbe.

Jack stand als Erster auf und wünschte den anderen eine gute Reise. Er spürte ihre Blicke, als er die schweren Satteltaschen auf seine Schultern hievte, spürte aber auch, dass von diesen Leuten keine Bedrohung ausging. Sie waren wie kleine Kinder, die den Erwachsenen bei der Vorbereitung zur Jagd zusahen – was angesichts seiner Jugend eine große Ironie war. Jack sollte ihnen zumindest einen Rat mit auf den Weg geben.

»Ich würde nach Westen gehen«, erklärte er. »In die niedrigeren Hügel. Da gibt es eine Indianersiedlung und viele Flüsse und Bäche.«

»Uns hat man gesagt, nach Nordwesten«, entgegnete die Frau. »In die wilden Wälder und Täler zwischen den Bergen.«

»Nein«, sagte Jack und blickte jedem von ihnen nacheinander in die Augen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Auf dieser Gegend liegt ein Fluch.« Auf ihre gestammelten Fragen zuckte er nur die Achseln, wandte sich von den naiven Goldsuchern ab und machte sich auf den Weg.

Er legte an dem Tag eine weite Strecke zurück und schlug am Abend sein Lager an einem Bachlauf auf, wo schon mehrere Feuerstellen waren. Er erlegte eine Ente und aß reichlich. Danach lag er unter dem Sternenhimmel und hörte die nächtlichen Geräusche näher kommen. Nichts davon konnte ihm mehr Angst machen. Wolfsgeheul begleitete ihn in den Schlaf, und im Geist heulte er mit, brachte seine eigene Stimme ein in die Geschichte der Wildnis.

Am nächsten Tag marschierte er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Er stieß auf etliche weitere verlassene Lager, und je weiter er nach Südosten ging, desto greifbarer wurde der Einfluss von Dawson. Die Wildnis war nicht mehr unberührt – die Spuren der Menschen waren in dieser Gegend nun sichtbar. So sehr er sich auf die Heimreise und das Wiedersehen mit seiner Familie freute, so war Jack doch auch traurig, dass dieser Abschnitt seines Lebens nun zu Ende ging. Es war, als ließe er einen Teil von sich zurück. Am Abend saß er am Lagerfeuer und heulte wieder wie ein Wolf. Es kam keine Antwort – die Wölfe blieben weit im Norden und Westen von hier, weit weg von den Gewehren und Jägern der Zivilisation –, doch auch in seinem Kopf kam keine Antwort. An dem Abend ging er traurig schlafen, und das Gefühl blieb ihm auch am nächsten Tag, als er endlich Dawson erreichte.

Das Letzte, was er von Dawson gesehen hatte, war dieses heruntergekommene Hotelzimmer gewesen, in dem Archie und William ihn mit Fäusten und Knüppeln angegriffen hatten. Es kam ihm vor wie vor einer halben Ewigkeit, aber als er in der Ferne Dawson erblickte, das im Schoß einer sanften Talsenke gebettet war, wusste er, dass solche Orte sich nie wirklich veränderten. Erbaut auf Ehrgeiz und Abenteuerlust würde es dort immer genug Habgier und Zynismus geben, um die Menschen zu verderben. Diesmal würde er Dawson mit wachen Augen betreten, doch er schwor sich, dass er die Hoffnung in seinem Herzen nicht verlieren würde. Nicht alle Menschen waren böse. Das hatten ihm Merritt und Jim gezeigt.

In Dawson war viel los, als Jack dort ankam, und man beachtete ihn kaum. Er war einer von vielen, die aus der Wildnis zurückkehrten, und obwohl er mehr gesehen hatte als die meisten, war zumindest an seiner äußeren Erscheinung nichts Ungewöhnliches. Die Zeit, die er bei Lesya verbracht hatte – wo er sich rasieren und seine Wäsche waschen konnte und genug zu essen hatte, um Hunger und Krankheit abzuwehren –, hatte ihn vor den schlimmsten Auswirkungen der Wildnis bewahrt. Viele von den Heimkehrern waren kaum mehr als wandelnde Skelette.

Einer hatte keine Zähne mehr im Mund, seine Lippen waren von Geschwüren zerfressen, und ein Auge war milchigtrüb vor Schneeblindheit. Einem anderen waren beide Hände abgefroren, er ging schleppend die Straße hinauf und murmelte Worte vor sich hin, die offensichtlich keinen interessierten. Jack ging an ihnen vorbei zum Yukon Hotel, das in seiner Vertrautheit gleichzeitig deprimierend und tröstlich auf ihn wirkte. Tröstlich, weil er dort mit Freunden glücklich gewesen war, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, deprimierend, weil die Rückkehr das Ende seiner unglaublichen Abenteuer bedeutete.

»Jack London«, sagte er zu dem Mann hinter dem Tresen.

»London«, erwiderte der Mann. »So? Den Namen vergisst man nicht leicht. Tut mir leid, Kumpel, aber der Junge, den du suchst, ist tot.«

Jack blinzelte mehrmals und versuchte, keine Miene zu verziehen. Erst dachte er, er müsste weinen, einen Augenblick später lachte er. Dem Mann fiel die Kinnlade runter und seine Augen weiteten sich, als er begriff, wer vor ihm stand.

Er erhielt eines der letzten freien Zimmer im Hotel, eine winzige Kammer voller Ungeziefer, aber zumindest hatte es ein Bett und ein Waschbecken aufzuweisen. Der Hotelier brachte ihm etwas zu essen und ließ ihn anschreiben.

»Ich bleibe nur ein paar Tage«, sagte Jack. »Ich bin auf dem Heimweg.«

»Na, dann viel Glück«, wünschte der Mann und klang, als meinte er es auch. »Mehr als genug Leute schaffen es bis hierhin und nicht weiter.«

»Sind viele zurückgekehrt?«

»Ein paar.«

»Und Gold?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Ein wenig.«

»Es ist Bauernfängerei«, meinte Jack. Der Mann nickte zustimmend und wandte sich ab, um das Zimmer zu verlassen. »Halt, Moment!«, fiel Jack plötzlich ein. »Haben Sie meine Ausrüstung noch?«

»Äh …«, der Mann blieb mit gesenktem Blick in der Tür stehen, sein Mund bewegte sich, aber es kam kein Laut heraus.

»Nein, haben Sie nicht«, stellte Jack fest. »Sie haben sie verkauft.«

»Ich dachte, Sie sind tot.«

»Und wie kommen Sie darauf?«, fragte Jack schroff. »Ein Mann geht auf Goldsuche, und Sie klauen ihm alles, was er besitzt?«

»Nachdem Sie weg waren, wurde in der Stadt gemunkelt, dass Sie verschleppt wurden, Sie und ihre Kameraden. Und nachdem soviel Zeit vergangen war, dachte ich halt …«

Jack war wütend, aber zugleich fühlte er sich plötzlich auch sehr müde. Er wedelte abwehrend mit der Hand, schloss die Augen und sagte: »Sie können es mir morgen zurückzahlen.«

»Ich gebe Ihnen soviel, wie ich kann. Und lassen Sie mich noch eines sagen, ich freue mich, dass Sie überlebt haben. Schön, dass Sie nicht der Einzige sind, der diesen blutrünstigen Bastarden entkommen ist.«

»Wieso nicht der Einzige?«, staunte Jack mit weit aufgerissenen Augen.

»Ihr großer Freund, Sloper. Sitzt den ganzen Tag in der Dawson Bar und lässt sich volllaufen.«

»Merritt?«, fragte Jack verdutzt und bemerkte es nicht einmal, als der Mann die Tür hinter sich zumachte und nach unten stiefelte. Merritt lebt! Einige Augenblicke lang war er wie vom Donner gerührt, dann erhob er sich und stand schwankend mitten im Zimmer. Er versuchte, sich an den Angriff des Wendigos zu erinnern, an das Gemetzel, das Geschrei und das Blut. Obwohl er mit dem Gesicht nach unten gelegen hatte, mit dem Wolf auf dem Rücken, der ihn davon abhielt, Merritt zu helfen, hatte er sich eingeredet, dass er gesehen hatte, wie Merritt starb. Er konnte sich nicht an den genauen Moment erinnern, aber er schrieb das einer Gedächtnislücke zu, mit der sein Hirn ihn vor dem Schlimmsten bewahren wollte.

»Merritt Sloper«, sagte er, und es fühlte sich gut an, den Namen laut auszusprechen. Jack grinste. Dann ging er ans Waschbecken, schwappte sich etwas kaltes Wasser aus dem Krug ins Gesicht und wusch sich.

Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, in dem sich Jack sehen konnte.

Ein Fremder starrte zurück. Dieser Fremde hatte dieselben wilden Haare, dieselben lachenden Augen, dasselbe schiefe Grinsen – ein Grinsen, dass ihm immer noch vom Gedanken an Merritts Überleben geblieben war –, doch den Menschen im Spiegel hatte Jack noch nie gesehen. Das hier war ein viel älterer Mann als der, den er zuletzt im Spiegel gesehen hatte. Seine Haut war wettergegerbt, die eine Gesichtshälfte völlig aufgeschürft. Die lächelnden Augen waren zugleich auf der Hut, als ob sie ständig erwarteten, etwas Schreckliches hinter dem Lächeln zu sehen.

»Ich bin Jack London«, sagte Jack, und sein Spiegelbild sagte das Gleiche.

Er wandte sich ab von dieser Version von ihm, warf sich den Mantel über und ging nach unten.

Er überquerte die Straße und blieb vor der Dawson Bar stehen. Das letzte Mal war er mit Merritt hier gewesen, an dem Abend, an dem Archie und William sie in ihrem Zimmer überfallen und niedergeknüppelt hatten. Damals hatte die Bar nach Verzweiflung gerochen, eine Wegstation zwischen Zielorten, wo manche Menschen ihr Leben im ewigen Schwebezustand verbrachten. Er hatte auf diese Menschen herabgesehen und Merritt geschworen, dass er niemals so enden würde. Nun verspürte er eine gewisse Genugtuung, dass er losgezogen war und all diese Abenteuer erlebt hatte, auch wenn er sie sich niemals so ausgesucht hätte.

Was ihn jetzt zögern ließ, waren die Worte des Hoteliers. Sitzt den ganzen Tag in der Dawson Bar und lässt sich volllaufen. Merritt war ein stattlicher Kerl mit einem großen Herzen, und Jack hatte keine Lust, ihn am Boden zu sehen.

Schlimmstenfalls würde Jack ihn da eben rausholen müssen.

Er stürmte durch die Tür in die Bar, blickt sich um und entdeckte Merritt sofort, zusammengekauert am selben Tisch in der hinteren Ecke, an dem sie vor Monaten gesessen hatten. Eine halbleere Whiskyflasche stand vor ihm. Seine verwitterten Züge wirkten durch den vielen Alkohol ganz verschwommen. Jack erkannte sofort alle Merkmale des Alkoholikers, doch Merritt schien noch mit viel mehr geschlagen zu sein – er war ein Mann, der zur Flasche getrieben wurde und es nicht aus Spaß machte.

Ihm gegenüber saß der Junge, Hal, den Jack vor Archie und William gerettet hatte. Er schaute hoch, als Jack in der Tür stand, riss die Augen auf und flüsterte: »Jack London«.

»Tot«, sagte Merritt. »Das Ungeheuer hat ihn erwischt.« Etliche von Merritts Nachbarn stöhnten auf, ein paar lachten sogar und machten sich über ihn lustig. »Lacht nur!«, meinte Merritt mit erhobener Stimme. »Wenn er dich bei den Eingeweiden packt, damit er deine Glieder abnagen kann, wird euch das Lachen noch … noch …« Er sackte wieder über den Tisch zusammen und stammelte irgendwas in die Sabberpfütze, die sich vor ihm auf dem Tisch gebildet hatte.

»Nein, Merritt«, sagte Hal, stand vom Tisch auf und lächelte. »Jack ist hier!«

Merritt schaute hoch zu Jack. Auch etliche andere Leute waren aufmerksam geworden, doch Jack hatte nur Augen für Merritt, seinen heruntergekommenen Freund. Er lächelte.

»Jack London ist tot«, meinte Merritt.

»Ich bin hier, Merritt«, sagte Jack. »Und es kommt mir ganz so vor, als wärst du hier der Scheintote.«

Jack setzte sich zu ihnen an den Tisch und nahm den Drink an, den Hal ihm anbot. Der Junge starrte ihn wie gebannt an und brachte außer einem ehrfürchtigen Geflüster kaum ein Wort heraus. Jack saß eine Weile still da und ließ sich von dem betrunkenen Merritt begutachten. Der kräftige Mann hatte sich sehr verändert, aber das galt ja auch für ihn selbst, fiel ihm ein. Der unheimliche Fremde im Spiegel verfolgte ihn immer noch.

Schließlich glitt Merritt in einen unruhigen Schlaf, der Geräuschpegel in der Bar beruhigte sich wieder, und Hal starrte Jack blinzelnd an.

Jack musste sich erst klarmachen, dass Hal nur wenige Jahre jünger war als er. Er sah noch aus wie ein Kind – er war noch ein Kind –, aber Jack freute sich, ein freundliches Gesicht zu sehen, auch wenn er wütend war, dass Hal nicht nach Skagway zurückgegangen war und Alaska verlassen hatte.

»Also, was ist los?«, fragte er schließlich. Er sprach zwar zu Hal, aber schaute zu Merritt in der Hoffnung, dass sein Freund aufwachen und ihn erkennen würde, aber der war zu weit weg. Morgen vielleicht.

»Na ja … Merritt erzählt die wildesten Geschichten«, erklärte Hal. »Er redet immer von …«

»Von Ungeheuern?«, wollte Jack wissen.

Hal nickte.

»Tja, wenn man zu tief ins Schnapsglas blickt, sieht man allerlei übles Zeug.«

»Aber er hat gleich nach seiner Rückkehr davon geredet, nicht erst, seitdem er trinkt.«

»Das ist der Wildniswahnsinn.« Jack nahm einen Schluck, schloss die Augen und genoss den beißenden Geschmack.

»Dann ist er aber nicht der einzige Wahnsinnige da draußen«, meinte Hal.

Jack sah den Jungen an. Hielt sein Glas hoch und atmete den Whiskygeruch ein. Ich habe sie alle sterben sehen!

»Dieser Dreckskerl Archie ist wieder in Dawson«, stellte Hal leise fest. »Ist jetzt lang nicht mehr so brutal, das hat man ihm mit der Kugel ausgetrieben, wie es heißt. Aber er hat wieder eine Bande zusammengetrommelt, und es heißt, sie machen weiter wie bisher.«

»Archie«, staunte Jack. »Bist du sicher?« William hat ihn erschossen, ihn vermeintlich tot zurückgelassen, der Wendigo hat William umgebracht, und dann…? Doch da endete seine Erinnerung.

»Sicher bin ich sicher«, meinte Hal, aber er konnte Jacks Blick nicht länger als ein paar Sekunden standhalten.

Jack lehnte sich zurück, sah sich um und nahm noch einen Schluck. Es sah ganz so aus, als wären seine Abenteuer noch nicht vorbei. Hal schenkte ihm noch mal ein, die Musik spielte, Männer und Frauen tranken und rauchten, und obwohl die Bar ziemlich deprimierend war, hatte die vertraute Umgebung eine entspannende Wirkung auf Jack. Neben ihm am Tisch schnarchte Merritt leise, und das hier könnte jede x-beliebige Bar irgendwo auf der Welt sein.

Später, als Hal und Jack den Whisky fast ausgetrunken hatten, beugte sich Hal zu ihm rüber. Jetzt kommts, dachte Jack. Jetzt fragt er mich, was ihm schon den ganzen Abend auf der Zunge brennt.

»Erzähl mir, was passiert ist«, meinte Hal.

Jack runzelte die Stirn, starrte eine Weile unbestimmt in die Ferne und versuchte dort Wolfsgeheul zu vernehmen. Vielleicht lag es am Whisky, aber er musste lächeln.

»Also gut, Hal. Ich fahre heim, und sobald ich Dawson verlasse, werde ich diese Geschichte nie wieder erzählen. »Du wirst also der einzige Mensch sein, der sie je zu hören bekommt. Und du kannst selbst entscheiden, was du glauben willst.«

Und bis tief in die Nacht erzählte Jack London ihm seine Geschichte.