KAPITEL 16
GEBROCHENE KREISE

Der Morgen brachte auch kein Erkennen. Als er gehört hatte, dass Merritt noch am Leben war, hatte er sich gefragt, ob der kräftige Kerl ihm die Schuld an Jim Goodmans Tod geben würde oder ob die Spannung noch anhielt, die ihre Freundschaft in den Tagen vor dem Angriff des Wendigos belastet hatte. Er hätte nie gedacht, dass Merritts Reaktion so viel schlimmer war als nur Wut oder Enttäuschung.

Als sie sich beim Frühstück im Hotelsaal trafen, erkannte Merritt ihn immer noch nicht. Er beharrte darauf, dass Jack London in jener Nacht in dem Lager der Sklaventreiber gestorben wäre. Als Jack ihn bedrängte, schien es den großen Mann verwirrt, traurig und wütend zugleich zu machen. Sein Blick war plötzlich ganz weit weg, in einer Weise, die nichts mit dem Alkohol zu tun hatte, der seit Wochen in seinem Hirn herumschwappte. Wahnsinn war es auch nicht. Jack hatte in seinem Leben schon einige Wahnsinnige getroffen. Er dachte eher, dass ein Teil von Merritt im Norden zurückgeblieben war, in dem zerstörten Lager am Flussufer, und dass er niemals ganz zurückgekehrt wäre.

Jack befürchtete schon, er würde für immer wegbleiben. Doch er nahm sich vor, vorsichtig mit Merritt umzugehen. Noch ein Schock wäre vielleicht zuviel für ihn. Merritt stocherte in dem Knödel auf seinem Teller herum, zupfte an seinem buschigen roten Bart und erschrak bei irgendwelchen Geräuschen, die niemand außer ihm zu hören schien. Er war immer noch kräftig und breit, aber er hatte seit ihrem Leidensweg in der Wildnis deutlich abgenommen. Obwohl er nur wenige Jahre älter war als Jack, sah er inzwischen viel älter aus.

Über den Rand der Kaffeetasse musterte Jack seinen Freund. Er musste Merritt aus seinem Loch holen und die Teile seines Verstandes wieder zusammenfügen. Doch dabei durfte er nur behutsam vorgehen.

Wenn es überhaupt was bringt, dachte Jack.

Nach dem Frühstück suchte er den Hotelwirt auf, der auf den ziemlich ungewöhnlichen Namen Mortimer Dowd hörte. Der Mann blickte von der Morgenpost auf, die er gerade für die Hotelgäste sortierte, und wirkte etwas betreten.

»Ich hatte schon gehofft, Sie würden nach einer Mütze Schlaf alles vergessen haben«, scherzte er und richtete die Fliege, die er trug, wohl um dem Yukon Hotel eine kultivierte – oder zumindest halbwegs zivilisierte – Note zu verleihen, die es sonst nie hätte. Wie eine Prostituierte mit einem Sonnenschirm, dachte Jack, sagte es aber nicht.

»Ihnen auch einen schönen guten Morgen, Mr. Dowd«, sagte er stattdessen.

Der Mann blickte verstohlen auf die beiden Revolver, die Jack im Halfter trug. Er hätte fast darauf verzichtet, sie heute Morgen umzuschnallen, doch dann hatte er beschlossen, sie und die anderen Waffen, die er im Lager gefunden hatte, auf der Heimreise stets bei sich zu tragen. Es war ihm schon unangenehm genug, die beiden Satteltaschen im Hotelzimmer zu lassen. Er hatte keinem ein Sterbenswörtchen über das Gold gesagt, nicht einmal Hal gestern Abend, aber hier in Dawson waren einige so gierig nach Gold, dass sie es wahrscheinlich riechen konnten.

»Es tut mir ehrlich leid«, sagte Dowd mit einem Blick auf die Revolver. »Aber so wie Ihr Freund Sloper geredet hat und bei allem, was man so erzählt, was da oben passiert sein soll … und Sie waren so lange verschollen …«

»Ich will offen reden, Sir«, unterbrach ihn Jack. »Ich bin kein Anfänger in Sachen Blutvergießen. Ich könnte Sie auf die unterschiedlichste Art verletzen oder umbringen, allein mit den Gegenständen in diesem Raum oder mit den Waffen, die ich trage.«

Dowd schluckte, leckte sich die Lippen und schüttelte in einer stumm und flehentlichen Bitte den Kopf. Damals im Frühling, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hätte der Mann vermutlich gelacht und ihn hochkant rausgeworfen oder hätte es zumindest versucht. An diesem Morgen wagte er es jedoch nicht.

»Kommen Sie, Mr. London …«

Jack lachte. Mister London, ganz recht, obwohl er noch lange keine zwanzig war. Sein Lachen musste sich irgendwie bedrohlich angehört haben, denn Dowd ließ seine Post fallen und ging hinter dem dunklen Holztisch zwischen ihnen in Deckung.

»Ich habe nachgedacht, Dowd. Ich hab schon genug Blutvergießen und Ärger erlebt, Sie können also aufatmen.«

Der Mann blinzelte misstrauisch, immer noch auf der Hut.

»Ganz ehrlich«, versicherte Jack. »Ich hab weder Zeit noch Lust, Sie so zu vermöbeln, wie Sie’s verdient hätten, oder auch nur mich mit Ihnen zu streiten, wie lange Sie unsere Sachen hätten einlagern sollen. Meine Freunde und ich haben Sie dafür bezahlt, unsere Sachen aufzubewahren. Stattdessen haben Sie sie verscherbelt. Ich verstehe, warum Sie’s getan haben und kann’s Ihnen nicht wirklich übel nehmen. Aber entschuldigen kann ich es trotzdem nicht.«

Dowd schien endlich zu begreifen, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte, und nickte zustimmend. »Ganz Ihrer Meinung. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Wenn ich das Geld noch hätte, würde ich Ihnen jeden Penny davon zurückzahlen, aber ich habe alles in die Hotelrenovierung gesteckt.«

Jack hob eine Augenbraue und sah sich um. Wenn an diesem klapprigen, baufälligen, heruntergekommenen Etablissement irgendwas renoviert worden war, war es jedenfalls nicht ersichtlich. Aber, egal …

»Ich fahre nach Hause«, verkündete Jack, und diese Worte hörten sich irgendwie seltsam und wundervoll ungewohnt an. »Sie sind sicher froh, wenn ich weg bin, also wollen wir das so schnell wie möglich in die Wege leiten. In den nächsten Tagen werde ich einige Läden aufsuchen, um die Sachen zu besorgen, die ich für den Weg nach Skagway brauche.«

»Selbstverständlich«, meinte Dowd.

Jack lächelte. »Und Sie werden alles bezahlen.«

Dowd verzog das Gesicht und schien einen Moment lang protestieren zu wollen.

»Die Kosten werden viel geringer sein als Ihr Erlös vom Verkauf meiner Sachen«, erklärte Jack. »Und je schneller ich aus Dawson verschwinde, desto eher können Sie aufatmen.«

Jetzt lächelte Dowd sogar. »Stimmt.«

»Also abgemacht?«

Dowd streckte seine Hand aus und wollte einschlagen. Aber Jack würdigte sie keines Blickes.

»Nicht so hastig. Außerdem wäre da noch meine Zimmerrechnung.«

Da er nun hoffte, Jack bald los zu sein, ohne Schusswunden oder sonstige ernsthafte Verletzungen davonzutragen – und bei einem ordentlichen Gewinn unterm Strich –, stand der Mann aufrechter und wirkte beinahe großzügig.

»Natürlich, Jack, keine Frage. Wenn Sie nur ein paar Tage bleiben wollen, geht der Aufenthalt und die Verpflegung natürlich aufs Haus. Das ist doch das Mindeste.«

»Stimmt,« pflichtete Jack ihm bei. »Aber Sie werden Merritt Slopers Rechnung auch streichen.«

Dowd wurde bleich. »Für wie lange denn?«

»Hat er bis heute bezahlt?«

»Bis Freitag«, antwortete Dowd.

Jack atmete tief durch. Er hatte keine Ahnung, ob heute Sonntag oder Donnerstag war. Aber das wollte er natürlich nicht zugeben.

»Er bezahlt keinen Cent mehr, bis ich Dawson verlasse. Weder für Essen, noch Trinken, noch Schlafen. Nicht mal, wenn Sie ihm die Schuhe putzen sollen.«

Widerwillig und das Kinn etwas trotzig emporgereckt, nickte Dowd mit abgewandtem Gesicht, was Jack als Einwilligung auffasste. »Kehrt Sloper mit Ihnen heim?«

»Ich hoffe es.«

Gleich darauf hielt der Mann ihm wieder die Hand hin. Diesmal schlug Jack ein. »Ich bin nicht hier, um mir Feinde zu machen, Mr. Dowd«, erklärte Jack etwas milder. »Ich bin auf der Suche nach Abenteuern gekommen und hab mehr bekommen, als ich erwartet habe.«

»Da können Sie sich glücklich schätzen. Die meisten bekommen weniger.«

Auf einmal musste Jack laut loslachen, und damit war die Spannung zwischen Ihnen gelöst.

»Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass Sie es schaffen zurückzukommen.«

»Ich weiß. Ich auch nicht.«

Während Jack in den folgenden Tagen seine Reisevorbereitungen traf, sah er Merritt einige Male auf der Straße, auf der Hoteltreppe oder in der Dawson Bar, doch irgendwie schien Merritt ihn nicht mehr zu erkennen. Zweimal hatte Jack versucht, ihn anzusprechen, doch seine Worte trafen auf taube Ohren. Nicht mit dem leisesten Zucken oder dem flüchtigsten Blick hatte Merritt ihn zur Kenntnis genommen. Jack kam sich bald vor wie ein Gespenst, das den gebrochenen Mann heimsuchte, und beschloss, ihn lieber in Ruhe zu lassen.

Als er aber alle Vorbereitungen getroffen hatte und am nächsten Tag abreisen wollte, war Jack klar, dass er einfach nicht gehen konnte, ohne mit seinem Freund geredet zu haben. Merritt war irgendwie der Verstand abhanden gekommen. Er blickte immer ziellos in die Ferne, ohne die Welt um sich herum zur Kenntnis zu nehmen. Jack befürchtete, wenn er nichts unternahm, um Merritt in die Realität zurückzuholen, würde er für immer verloren sein, genauso, als ob er in den Klauen des Wendigos gestorben wäre.

Doch Jack war auch bewusst, dass seine bisherigen Bemühungen, zu Merritt durchzudringen, geradezu katastrophal gescheitert waren. Er beschloss, dass er im Beisein von jemandem, den Merritt erkannte, viel bessere Chancen hätte.

Also fand er sich an diesem Montagnachmittag in der Tür des Redaktionsbüros der Stadtzeitung ein. Hal saß an einem improvisierten Schreibtisch und schrieb gerade etwas. Seine Finger waren voll Druckerschwärze aus der Druckerpresse, die hinten im Büro stand und momentan nicht im Betrieb war. Sein Hund Dutch lag auf dem Boden neben ihm und spitzte die Ohren, als Jack eintrat.

»Ein hübsches Mädchen«, stellte Jack fest.

Hal blickte auf und strahlte. »Jack!«

Der Junge – nicht mehr wirklich ein Junge, wenn er es denn je gewesen war – sprang von seinem Stuhl hoch und stürmte auf ihn zu. Dutch hob den Kopf, beobachtete sie einen Moment und legte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten in dieser unendlich gelangweilten Art, wie es nur Hunde hinkriegen. Doch Hal hatte genug Elan für zwei. Er streckte seine Hand mit so viel Begeisterung aus, dass Jack sie trotz Druckerschwärze schütteln musste. Doch dann fragte ihn Hal stirnrunzelnd:

»Was für ein hübsches Mädchen meinst du?«

»In der Sattlerei, blond, weiß wie Schnee …«

»Sally Corrigan.«

Jack nickte und bemerkte die leichte Röte, die Hal in die Wangen stieg, als er ihren Namen aussprach. »Sie hat mir verraten, wo ich dich finde. Du hast mir gar nicht gesagt, dass du jetzt für die Zeitung arbeitest.«

»Erst seit kurzem«, erklärte Hal.

Jack holte tief Luft und lächelte zögernd. »Hast du einen Augenblick Zeit?«

»Na klar, was gibt’s …?«

»Ich reise morgen ab. Vorher möchte ich noch mal mit Merritt reden. Ich dachte, es hilft vielleicht, wenn du dabei bist. Ein Gesicht, das er erkennt.«

Hal nickte, warf einen Blick auf seinen Schreibtisch und fischte dann nach einem Schlüssel in seiner Hosentasche. »Bleib, Dutch«, befahl er dem Hund, dann wandte er sich wieder an Jack. »Jetzt dürfte er schon in der Bar sitzen. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir ihn, bevor er zu besoffen ist, um überhaupt noch was zu erkennen.«

Jack hatte sich schon gedacht, dass Merritt nicht der Einzige in der Bar sein würde, nicht an einem Ort, der so in Hoffnungslosigkeit erstickte wie Dawson. Aber es erstaunte ihn schon, wie voll die Kneipe um diese Uhrzeit war. Bier und Whisky flossen in Strömen. Sobald es Abend wurde und die Dunkelheit die verlorenen und die hoffnungsfrohen Seelen gleichermaßen daran erinnerte, wie weit sie von daheim weg waren, würde es noch viel voller werden und lauter zugehen. Jetzt waren immerhin schon fünfundzwanzig oder dreißig Gäste da. Eine Handvoll aß sogar die kümmerlichen Gerichte, die hier als Essen durchgingen, weil sie zu träge waren, woanders etwas Vernünftiges zu essen. Die hatten hier Wurzeln geschlagen.

Wurzeln. Das Wort beschwörte Bilder von Leschiji und seiner schönen Tochter in Jacks Kopf herauf. Er schüttelte sie wie Spinnweben ab. Je schneller er die unendliche Weite des Nordens hinter sich ließ, desto besser.

»Da hinten«, Hal nickte in Richtung der hintersten Ecke.

Jack wunderte sich, dass Merritt sich ausgerechnet dort niederließ, an einem kleinen runden Tisch weit weg vom Tresen. Um die nächste Ladung zu bestellen, musste er aufstehen und bis zur Theke marschieren, dabei gab es unmittelbar am Tresen noch genug Plätze. Er schien sich beinahe zu verstecken – in der Ecke und hinter seinem Glas.

Hal ging voraus, und sie bahnten sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, vorbei an mürrischen Männern und aufgeregt fröhlichen Damen. Sie alle warteten auf irgendetwas, das sie aus ihrem benebelten Zustand aufrütteln würde, und versuchten nicht darüber nachzudenken, was sonst mit ihnen passieren würde.

Jack sehnte sich danach, ein einfaches, ehrliches, unbekümmertes Gelächter zu hören, wie er es von daheim in Kalifornien kannte. Doch um sich diesen Wunsch zu erfüllen, musste er erst die schwere düstere Last dieses Orts abwerfen. Er wünschte sich ein ganz normales Mädchen mit wachen, klugen Augen und einem Lächeln, das zugleich schüchtern und verheißungsvoll war. Im Yukon hatte er unbeschreibliche Schönheit vorgefunden, aber es war ein Ort ohne Mitleid. Er sehnte sich nach der Wärme eines Sonnenuntergangs am Pazifik.

Aber noch war es nicht so weit.

»Merritt«, setzte er an, als sie den Tisch erreichten.

Hal hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der Junge, der keiner mehr war, setzte sich dem Mann mit dem zotteligen roten Bart gegenüber, der einmal Jacks Freund gewesen war. Jack blieb zurück und beobachtete die beiden. Nach einer Weile sah Merritt zu Hal hoch.

»Ich dachte, du hast dir einen Job gesucht«, bemerkte Merritt. Er legte den Kopf zur Seite, als sei er nicht ganz sicher, ob Hal wirklich da war.

»Hab heute früher Feierabend gemacht«, erwiderte Hal. »Wollte fragen, ob du mit mir zu Abend essen willst.«

Merritt fuhr sich mit den Fingern durch den wuchernden Bart. »Zu früh fürs Abendessen.«

»Aber nicht für Whisky?«

Das entlockte Merritt sogar ein Lächeln, das aber sofort in ein höhnisches Grinsen überging. »Für Whisky ist es nie zu früh. Nicht hier, so weit weg von der Welt.«

»Das hier ist ein Teil der Welt, Merritt«, meinte Jack.

Hal blitzte ihn an, um ihn zum Schweigen zu bringen. Doch Jack hatte keine Zeit mehr zu warten, bis Merritt sich von seinem seelischen Schock, den er erlitten hatte, wieder erholt hatte. Er schnappte sich einen Stuhl vom Nebentisch und zog ihn herüber. Nun saßen alle drei beisammen. Merritt schien ihn wie immer nicht wahrzunehmen.

Jack schlug mit der Faust auf den Tisch. Merritt zuckte zusammen.

»Siehst du?«, sagte Jack. »Ich bin kein Gespenst.«

»Keine Ahnung, wer zum Teufel du bist«, knurrte Merritt, »aber ich wäre an deiner Stelle etwas vorsichtiger. Hier drin kann man genauso gut ein Messer in den Bauch kriegen.«

Jack lächelte. Das war ein Fortschritt. Merritt sah ihm immer noch nicht in die Augen, als ob der Stuhl von selber hier rübergewandert wäre und niemand darauf saß, aber er hatte zumindest reagiert. Das war schon mal was.

»Merritt, du musst damit aufhören«, meinte Hal. »Du musst die Augen aufmachen. Das ist …«

»Sei still«, meinte Jack.

Hal schwieg und ließ Jack weitermachen,

Jack packte Merritt am Arm. Bei der Berührung zuckte der große Mann zurück. Der Stuhl schrappte über die Dielen, und Merritts Brust hob und senkte sich in panischen stoßweisen Atemzügen. Doch Merritt griff nicht nach der Waffe.

»Das hier ist ein Teil der Welt«, bekräftigte Jack. »Es ist vielleicht nicht der schönste Teil. Furchtbare Dinge passieren. Dinge, die einem unglaublich erscheinen. Aber du bist immer noch auf dieser Welt, du hast sie nicht verlassen. Du kannst nach Hause zurückkehren, zu den Städten und Dörfern, zu den Häusern und Gasthäusern und Geschäften, zu deinen Freunden und deiner Familie, die dort auf dich warten. Ich kann dich dorthin zurückbringen, Merritt, wenn du mich lässt.«

Merritt lächelte Hal beinahe verzweifelt an. »Ich hol mir noch was zu trinken, Hal. Soll ich dir was mitbringen?«

»Sieh ihn an, Merritt«, bat Hal inständig. »Sieh ihn einfach mal an. Er ist es. Es ist Jack.«

Merritt brüllte und sprang mit solcher Wucht auf, dass er seinen Stuhl umwarf und die goldbraune Flüssigkeit aus seinem Glas auf den Tisch schwappte.

»Verdammt noch mal, Junge! Jack ist tot! Verstehst du das nicht? Versteht ihr das alle nicht? Er hat ihn erwischt. Mit allen anderen ist er verschlungen worden!«

Die Leute in der Bar sahen sich neugierig zu ihnen um, aber nur kurz. Keiner schien sich an Gewaltausbrüchen zu stören, solange es nicht einen selbst betraf.

Jack stand auf und griff nach ihm, doch Merritt hob zitternd die Hand vors Gesicht und lachte leise. Als er dieses Lachen hörte, musste Jack die Zähne zusammenbeißen. Er fürchtete allmählich, er hätte sich doch geirrt – und Merritt wäre wirklich wahnsinnig, nicht nur verstört und verzweifelt. Dann hob Merritt seinen Stuhl auf und setzte sich mit einem schrecklich traurigen Gesicht wieder hin. Er wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Tut mir leid, Hal«, entschuldigte er sich. »Ich weiß, du wirst nicht gerne ›Junge‹ genannt.«

»Macht nichts«, erwiderte Hal.

Merritt klopfte mit den Knöcheln der rechten Faust an seine Schläfe. »Doch, macht es. Hier oben sind nur noch Scherben. Und ich spreche nicht gern über … ihn. Ich hab ihn im Stich gelassen, Hal. Diese Dreckskerle William und Archie haben Jim erschossen und ich hab Jack die Schuld gegeben, obwohl er ihnen nur die Stirn geboten hat. Er wollte mein Freund sein, auf mich aufpassen, selbst als wir gefangen waren, aber ich hab ihm die kalte Schulter gezeigt. Es ist meine Schuld, dass sie ihn am Pflock festgebunden hatten wie einen Hund, als das Ding …«

Er verstummte, schloss den Mund und presste die Lippen zusammen. Eine einzelne Träne lief Merritt die Wange hinab, als er zu seinem Glas griff. Er streichelte das Glas zärtlich mit dem Daumen, hob es aber nicht zum Trinken hoch. Stattdessen starrte er mit diesem unbestimmten Blick in die Ferne, vielleicht in eine Vergangenheit, in der er sich selber die Schuld gab für das Grauen, das ihn befallen hatte.

Hal seufzte und wollte aufstehen.

»Nein«, sagte Jack.

»Jack …«

»Ich reise morgen früh ab«, verkündete Jack und blickte den kräftigen Mann eindringlich an. »Hörst du, Merritt? Ich fahre nach Hause. Du könntest mitkommen. Sieh mich an, verdammt noch mal! Ich bin nicht tot! Du hast mich nicht umgebracht. Und du warst zu recht sauer auf mich. Ich wusste auf den ersten Blick, dass mit den Typen nicht zu spaßen ist. Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Aber jetzt bin ich wieder da. Wir sind beide noch am Leben.«

Merritt blinzelte nicht einmal. Es war, als ob der Bewohner seines Inneren, wer auch immer das jetzt sein mochte, ausgegangen wäre und das Licht ausgeknipst hätte.

In Jack wallten die Gefühle auf. Er war zwar geschunden und geschlagen worden, aber ansonsten war er heil aus dem Grauen und Gemetzel jener Nacht davongekommen. Er würde Merritt nicht so zurücklassen. Er stand auf, stellte sich direkt vor Merritt, beugte sich vor, um seinen Blick einzufangen, doch der große Mann weigerte sich, ihn anzuschauen.

Zorn und Reue trieben Jack an. Er packte Merritts Kopf mit beiden Händen und zwang ihn, in seine Richtung zu sehen. Merritt versuchte zurückzuweichen, doch er stieß mit der Stuhllehne an die Wand, während Jack ihn immer noch festhielt.

»Lass mich …«

»Sieh mich an, verdammt noch mal!«, keuchte Jack. »Ich bin dein Freund, Merritt. Ich bin Jack London und ich bin nicht tot. Der Wendigo hat beinahe alle anderen erwischt, aber mich nicht. Ich stehe hier vor dir, hier bin ich!«

Merritt versuchte, den Kopf wegzureißen, doch Jack hielt ihn weiter umklammert, stieß gegen den Tisch und verschüttete noch mehr Whisky. Er beugte sich ganz weit vor, seine Nase berührte beinahe die von Merritt.

»Sieh mich an!«

Und endlich gab Merritt nach. Er kniff die Augen zusammen, runzelte die Augenbrauen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.

»Du siehst ihm wirklich ähnlich«, flüsterte er dann, »das muss ich zugeben. Aber wenn ich irgendwas gelernt hab, dann, dass der Schein trügt.«

Jack ließ ihn los. Er dachte schon fast, es sei unmöglich, zu ihm durchzudringen. Vielleicht war etwas in ihm kaputt gegangen, das sich nicht wieder reparieren ließ.

Merritt wollte zum Glas greifen, doch Jack war schneller und nahm es ihm weg.

»Du hast mir mal gesagt, Kaffee sei dein einziges Laster. Jetzt hast du noch eins, ich weiß. Aber denk mal an den Geruch von frisch zubereitetem Kaffee und nicht an das Gesöff, das sie hier ausschenken. Kaffeebohnen aus Südamerika, frisch gemahlen und überbrüht, mit frischer Sahne und Schokoladenkeksen.«

Merritt wollte wieder den Kopf schütteln, ohne Jack anzusehen. Doch dann fiel sein abwesender, schlaffer Ausdruck in sich zusammen, und seine Schultern begannen zu beben, als sein stoßweiser Atem in ein leises Schluchzen überging.