Spaten

Poker für die Mumie

VON THOMAS NOMMENSEN

 

Ludger Holbein erkannte sofort, was der Junge vorhatte. Wie der Kleine seine Hand zum Gesicht führte, sich dann kurz zur Seite drehte – eindeutig. Holbein hatte einen Blick für so etwas, fuhr aber in seinem Vortrag fort und ließ sich nichts anmerken.

»Ritter Christian Friedrich von Kahlbutz wurde 1651 hier im brandenburgischen Kampehl geboren«, sagte er und versicherte sich mit einem Blick der ungeteilten Aufmerksamkeit der Besuchergruppe. »1702 wurde er beigesetzt, doch sein Leichnam«, er senkte seine Stimme, »verwest bis heute nicht.«

Holbein beobachtete den Jungen aus den Augenwinkeln. Jetzt hielt der Racker seine Hand hinter dem Rücken versteckt, sah sich verstohlen in dem Gemäuer um, machte einen schnellen Schritt auf den Sarg mit dem gläsernen Deckel zu. Was nun kommen würde, kannte Holbein zur Genüge: Der Bengel würde seinen Kaugummi irgendwo an der Unterseite ankleben. Während Holbein überlegte, wie er dieses Attentat noch kurzfristig verhindern könnte, riss der Junge plötzlich die Arme in die Luft und brach in schallendes Gelächter aus.

Ein heller Klumpen löste sich mitten in der Bewegung von der Hand des Jungen, Holbein konnte die Flugbahn allerdings nicht zu Ende verfolgen, denn nun kreischte der Junge los: »Kahlbutz trägt ja eine Sonnenbrille. Wie cool ist das denn?«

Für einen kurzen Moment wurde es still. Holbein stand mit offenem Mund vor der Zuhörerschar, die ihn verdutzt ansah.

Leises Flüstern setzte ein, wurde lauter, erste hysterische Aufschreie waren zu hören. Zwischen den kahlen Wänden des Gemäuers schaukelte sich das Echo der durcheinanderkreischenden Menschen immer weiter auf, schließlich brüllte ein Mann: »POLIZEI.«

So etwas hatte Holbein noch nicht erlebt. Was für ein Durcheinander in seiner heiligen Gruft. Sonnenbrille, so ein Quatsch, dachte er. Vorhin hatte er doch selbst den Ritter in Augenschein genommen. Oder hatte er das heute vergessen, weil ihn die Sache mit dem verschwundenen Auto so beschäftigte?

»Ruhe!«, rief er und als niemand reagierte, drängelte er sich zwischen den Besuchern hindurch zum Sarg. »Sehen Sie, das sind nur die Augenhöhlen, zusammen mit den Lichtreflexen auf der Glasscheibe –«, setzte er an, stockte dann abrupt, stützte sich mit den Händen links und rechts auf dem Rahmen des Glasdeckels ab und brachte sein Gesicht dicht vor die Scheibe.

»Das gibt es nicht«, flüsterte er, und das Glas beschlug unter seinem Atem. »Das ist … Das bin ja ich.« Er drückte sich vom Sargdeckel hoch, richtete sich schwankend auf. Für zwei Sekunden stand er, unsicher und mit wirrem Blick. Dann versagten seine Beine und er kippte nach vorne über.

Aus der Besucherschar löste sich ein Mann, machte zwei schnelle Schritte auf Holbein zu und fing ihn gerade noch rechtzeitig auf. Das Letzte, was Holbein sah, war der helle Kaugummi, der auf dem linken Brillenglas des Mannes klebte, dann versank die Krypta in Dunkelheit.

 

»Er stinkt.« Oskar verzog das Gesicht, drehte seinen Kopf kurz in Richtung Rückbank, auf der Bruno eingeklemmt zwischen Fahrersitz und dem auf Liegeposition gebrachten Beifahrersitz hockte.

Mit der einen Hand stabilisierte Bruno den lederartigen Körper auf dem Vordersitz, mit der anderen machte er eine wedelnde Bewegung in Richtung Frontscheibe. »Guck nach vorne. Ich will nicht an so einem blöden Alleebaum landen.«

»Er stinkt trotzdem.« Oskar wandte seinen Blick zurück auf die Straße. »Ich mache jetzt wenigstens ein Fenster auf.«

»Das lässt du schön bleiben, du Vollpfosten. Nachher reißt ein blöder Windstoß dem Typen noch die Haut vom Gesicht, oder womöglich den ganzen Kopf runter. Und dann«, Bruno reckte sich so weit empor, bis er Oskars Augen im Rückspiegel sehen konnte, »… und dann können wir die große Kohle vergessen, und die Reste von ihm höchstens als Hundebeißknochen verscherbeln.«

Mit lautem Gehupe zog ein moderner Traktor am Seitenfenster vorbei und scherte haarscharf vor ihnen wieder ein. Das war sicher schon das zehnte landwirtschaftliche Fahrzeug, das sie auf der kurzen Fahrt überholt hatte, leider nicht zu ändern, denn der Wagen fuhr einfach nicht schneller. Gestern, als sie ihn vor dem kleinen Haus in Kampehl entwendet hatten, war ihnen das »25«-Schild auf dem Kofferraum nicht aufgefallen.

 

Als Ludger Holbein die Augen aufschlug, hatte er den Eindruck, in dunkler Nacht irgendwo draußen in der Feldmark zu liegen. Beine und Rücken fühlten sich eiskalt an, und über ihm hing ein blasser Mond am sternenlosen Himmel.

»Hallo, aufwachen«, sagte der Mond.

Holbein blinzelte, sah, dass der Mond eine Brille trug, und nach einem weiteren Blinzler konnte er auch die Augen dahinter erkennen.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Brillenträger ihn besorgt.

Holbein nickte, sein Blick wurde langsam klarer. Er registrierte nun auch, dass der Mond einen Körper hatte und dieser in einem braunen Cordanzug steckte. Holbein tastete rechts und links von sich über den Boden, spürte kalte Fliesen unter seinen Fingern, Fugen dazwischen. Die Krypta, natürlich, der Sarg. Abrupt richtete er sich auf. Der Mann im Cordanzug reichte ihm eine Hand. Holbein zog sich hoch, kämpfte gegen das Schwindelgefühl. Der Tote, schoss es ihm durch den Kopf, trotz der Sonnenbrille hatte er ihn natürlich sofort erkannt. Statt der Mumie lag unzweifelhaft sein Zwillingsbruder Hannes in dem Glassarg!

Ludger Holbein kämpfte gegen die Tränen, wischte sich mit der Hand mehrfach über die Augen, dann flüsterte er mit rauer Stimme: »Was, verdammt noch einmal, ist hier passiert?«

»Das würde ich allerdings auch gerne wissen.« Der Mann ihm gegenüber griff in die Innentasche seines abgewetzten Cordanzuges, zog einen Ausweis hervor, den er kurz schwenkte und gleich wieder verschwinden ließ. »Sandmann, Valentino Sandmann. Hauptkommissar im Urlaub. Mit gleichnamiger Puppe aus dem Vorabendprogramm weder verwandt noch verschwägert. Schon gar nicht mit diesem West-Plagiat.«

Trotz der ernsten Situation kicherten einige Besucher.

Holbein war nicht zum Lachen zumute. Ganz im Gegenteil. Sein Bruder, mit dem er sich das geerbte Häuschen von Tante Pauline seit vielen Jahren teilte, lag nun tot vor ihm. Und als ob dieser Verlust nicht schon reichen würde, war auch noch die Mumie des ihnen anvertrauten Ritter Kahlbutz verschwunden. Hannes und er hatten sich mit den Führungen abgewechselt, eine für die Gemeinde Kampehl optimale Konstellation. Und jetzt das! Ludger Holbein wünschte sich, der Boden des Gemäuers möge sich öffnen und ihn, den Sarg und die ganze Bagage verschlingen.

»Bitte treten Sie zurück und fassen Sie nichts an.« Hauptkommissar Sandmann lief mit ausgebreiteten Armen vor dem Sarg hin und her und versuchte, die neugierigen Besucher auf Abstand zu halten. »Das gilt auch für Sie!«, wandte er sich schließlich an Holbein und bugsierte ihn vorsichtig in eine Ecke des Raumes. »Ich werde die Besucher in die Gaststätte gegenüber bringen und die Personalien aufnehmen«, raunte er Holbein zu, der immer noch wie in Trance wirkte. »Denn mit Verstärkung …«, er warf einen Blick in den Raum, um zu prüfen, ob jemand seine Worte hören würde. »Mit Verstärkung sieht es schlecht aus. Ich habe vorhin im Polizeifunk gehört, dass aus den Ruppiner Kliniken zwei Verrück– na ja, Sie wissen schon …« Er tippte sich mehrmals mit dem Zeigefinger auf die Stirn. »Solche Menschen eben entkommen sind.«

»Polizeifunk?«, echote Holbein.

»Ja, ich bin zwar im Urlaub, aber man will ja auf dem Laufenden bleiben. Eine Berufskrankheit quasi. Jedes ältere Autoradio lässt sich leicht so manipulieren, dass …« Er biss sich auf die Zunge. Wie käme er denn jetzt dazu, Holbein illegale Tipps zu geben? »Jedenfalls ist einschließlich Büroboten und Drehstühlen alles unterwegs, was zum Polizeidienst gehört. Ich fürchte, wir müssen hier erst einmal alleine klarkommen.«

»Autoradio …« Holbein sah Sandmann mit einem irren Blick an. »Ja, das Auto war nicht da, heute Morgen. Ich dachte, er wäre vielleicht in die Stadt gefahren.«

»Was, wer und welches Auto?« Sandmann schüttelte verwirrt den Kopf.

»Hannes sein Auto. So’n ganz kleines. Kann man sogar mit ’nem Mopedschein fahren.«

Sandmann verstand langsam. »Also, der Tote im Sarg ist Ihr Bruder Hannes, von dem Sie glaubten, er wäre mit dem Wagen unterwegs. Das ist – nach der aktuellen Situation – allerdings eher unwahrscheinlich.«

»Ja«, sagte Holbein traurig. »Eigentlich ist es seine Schicht, die ich jetzt mache. Ich wäre heute Nachmittag dran gewesen, wenn die Investoren kommen. Aber als heute Morgen der Wagen nicht vor dem Haus stand –«

»Investoren?«, unterbrach ihn Sandmann.

»Japaner. Die wollen hier eine Fabrik für Chips bauen. Soll Arbeitsplätze bringen.«

In diesem Moment erklangen die piepsigen Klingeltöne eines älteren Handys. Sandmann drehte sich empört um und versuchte das Geräusch zu orten. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann kam die Melodie direkt aus … Er hastete zum Sarg, legte sein Ohr auf den Deckel, richtete sich abrupt wieder auf und rief Holbein zu: »Wir brauchen einen Schlüssel für das Dings, aber schnell!«

 

Bruno hatte Kopfschmerzen. Die Sonne brannte auf das Autodach, und allmählich nervte ihn der penetrante Gestank des alten Kahlbutz’ ebenfalls. Er warf einen Blick auf die Mumie, die mit gefalteten Händen auf dem Vordersitz mehr lag als saß. Gestern Nacht war es eine ziemliche Prozedur gewesen, den leichten aber steifen Körper in den kleinen Wagen zu bugsieren, denn die Gelenke waren nicht biegsam und die Haut brüchig wie Pergament.

»Was meinste, wie viel kriegen wir für den ollen Kalle?«, grölte Oskar vom Fahrersitz gegen die laute Lüftung an.

Bruno überlegte. Gestern hatten sie die Mumie spontan eingepackt, die Gelegenheit war einfach zu günstig gewesen. Dieser Holbein hatte ja auch in den höchsten Tönen geschildert, wie wertvoll der Ritter für die Gemeinde doch sei. Aber über das konkrete Wie und vor allem das Wieviel hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Den Ritter irgendwo verstecken, eine Geldübergabe mit dem Bürgermeister klarmachen – ja, wie bei einer richtigen Entführung musste das laufen. Wichtig war: Man durfte auf keinen Fall zu wenig verlangen, sonst glaubte die andere Partei nicht, dass man es ernst meinte. Also mindestens tausend Euro. Und wenn der Bürgermeister nicht spurte, dann würde er dem Ritter ein Ohr abschneiden und ihm zuschicken. Bruno warf einen Seitenblick auf den verschrumpelten Kopf vor sich und musste trocken würgen. Na ja, vielleicht würde es ohne das gehen.

»Bruno, wir können auch einen Ferrari verlangen. Oder ein Flugzeug. Boah, dann fliegen wir nach Hawaii oder nach Usedom und lassen uns die Sonne auf den Bauch scheinen.« Oskar drehte sich zu Bruno um, wackelte mit dem Kopf und begann zu singen: »Es gibt kein Bier auf Hawaii, es gibt kein Bier –«

»Pass auf die Straße auf, du Trottel!« Bruno schrie und umklammerte den Ritter fester.

Oskar fluchte und kurbelte wie ein Verrückter am Lenkrad. Das Heck des Wagens brach aus. Bruno wurde mit Wucht gegen den Vordersitz gepresst und spürte, wie seine Hand tief zwischen die Beine des Kahlbutz’ rutschte.

 

Ludger Holbein kratzte sich am Kopf. »Den Schlüssel hat der Bürgermeister, und der Pfarrer hat natürlich auch einen.«

Kommissar Sandmann nickte, prüfte den Verschluss des Sargdeckels, rüttelte oben, schob unten und hatte die hölzerne Einfassung plötzlich einige Zentimeter angehoben. »Ist gar nicht abgeschlossen«, rief er, klappte er den Deckel vollends auf und verzog angewidert das Gesicht. Was für ein Gestank!

Das Handy piepste noch immer. In diesem Moment bewegte der Tote seinen Arm. Trotz der Enge in dem Sarg wanderte seine Hand geschmeidig in die Hosentasche und kam mit einem Handy wieder hervor. Er fingerte an dem Gerät herum, hielt es sich dann ans Ohr.

»Moin, moin, hier ist Hannes«, grummelte er müde und schob sich mit der freien Hand die Sonnenbrille in die Stirn.

Als Profi blieb Kommissar Sandmann auch in dieser Situation die Ruhe in Person. Er zückte seinen Dienstausweis und beugte sich über den Sarg.

»Sandmann, Valentino Sand–«

Weiter kam er nicht, denn nun stieß der Totgeglaubte einen gellenden Schrei aus, setzte sich mit lautem Poltern im Sarg auf und brüllte: »Verfluchte Scheiße, was macht ihr denn alle in meinem Schlafzimmer?«

 

Oskar rüttelte noch einmal an dem Kotflügel des Wagens und kam dann vorsichtig aus dem Graben geklettert.

»Das kannst du vergessen. Die Achse ist gebrochen«, rief er Bruno zu, der seit einigen Minuten versuchte, den Kahlbutz so gegen einen Baum zu lehnen, dass er nicht ständig wieder umkippte.

Bruno fluchte noch immer leise vor sich hin. Sie hatten zehn Minuten in dem havarierten Wagen gesessen und sich gegenseitig angebrüllt, doch dann war ihm klar geworden, dass es besser war, seinen Ärger runterzuschlucken. Schließlich mussten sie mit dem wertvollen Ritter schnellstens von der Straße verschwinden, und dazu brauchte er Oskars Unterstützung.

»Los, komm her!« Er winkte seinen Kumpan zu sich. »Jeder einen Arm. Da vorne scheint ein Gehöft zu sein, wir tragen ihn das Stück und dann sehen wir weiter.«

Wenige Minuten später erreichten die beiden Arm in Arm mit dem Kahlbutz einen großen Bauernhof. Biologische Viehhaltung. Tägliche Führungen, verkündete ein Schild.

Bruno wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Der Platz zwischen den Gebäuden war menschenleer. Im Schatten der Scheune parkte allerdings ein moderner Reisebus mit geöffneten Türen.

»Denkst du auch, was ich denke?« Er sah zu Oskar rüber.

»Klar«, sagte dieser schnell, zeigte auf den Bus und grinste. »Wir klauen das Ding.«

»Schwachkopf, so wie du gerade den Kleinwagen zerlegt hast, kommst du mit so einem Geschütz auf keinen Fall klar. Nein, nein, wir brauchen ein Handy, um mit dem Bürgermeister Kontakt aufzunehmen. Außerdem bin ich pleite. Ich werde mich in dem Bus umsehen, und du warnst mich, wenn jemand von der Reisegruppe kommt. Verstanden?«

Oskar nickte eifrig und erinnerte dabei ein wenig an den Wackeldackel, der sich auf der Hutablage des gestohlenen Wagens befunden hatte.

Bruno kletterte in den Bus, schob sich durch den schmalen Gang, klopfte mit beiden Händen die zurückgelassenen Kleidungsstücke ab und wurde schnell fündig: ein modernes Handy, das nicht mal mit einem Passwort gesichert war. Jetzt musste er nur noch etwas Geld finden.

Oskar hatte sich inzwischen mit dem Kahlbutz im Arm tiefer in den Schatten des Reisebusses zurückgezogen. Nicht, dass der Ritter noch Sonnenbrand bekommt oder ein Ozonloch oder so etwas. Er wollte Bruno einfach keinen Grund für erneute Zurechtweisungen bieten. Plötzlich hörte er Stimmen, die hoch und fein, wie ein Schwarm Bienen, in einer unbekannten Sprache durcheinandersummten. Oskar riskierte einen Blick hinter dem Bus hervor. Tatsächlich, ein ganzer Trupp kleiner Menschen mit dunklen Haaren und schmalen Augen kam aus einem der Gebäude direkt auf ihn zu. Oskar überlegte nicht lange – das machte er nie –, aber diesmal überlegte er besonders wenig lange. Er packte sich den Ritter vor die Brust, eilte zur rückwärtigen Tür des Busses, zog sich keuchend am Geländer ins Innere und ließ sich dann mitsamt Mumie auf die hintere Bank sinken.

»Bruno«, japste er atemlos. »Bruno, versteck dich. Die Chinesen kommen.«

 

»Das hast du gemacht?« Ludger Holbein starrte seinen Bruder Hannes, der inzwischen dem Sarg entstiegen war, entsetzt an. Kommissar Sandmann hatte die übrigen Besucher aus der Krypta geführt.

»Du hast den beiden Fremden mitten in der Nacht den Ritter gezeigt? Eine Privatführung, weil … weil …« Ludger Holbein stotterte vor Aufregung. »Weil du beim Skat in der Dorfkneipe gegen sie verloren hast? Ich fasse es nicht!«

»Poker«, sagte Hannes Holbein kleinlaut.

»Poker? Hast du das jemals vorher gespielt?« Ludger sah seinen Bruder streng an.

Hannes schüttelte resigniert den Kopf. »Nee, aber is’ doch auch egal. Ich habe den beiden gleich gesagt, dass ich keinen Schlüssel habe. Die wollten nämlich unbedingt mal die Haut vom Kahlbutz anfassen. Aber wie wir so vor dem Sarg stehen, und ich meinen Vortrag starte, fummelt der eine plötzlich mit einer Büroklammer am Schloss rum. Ich versuche natürlich, ihn wegzuzerren, aber da muss mir der andere was über den Schädel geschlagen haben. Jedenfalls ging bei mir ratzfatz das Licht aus.« Hannes warf einen Seitenblick auf den immer noch offen stehenden Sarg. »Eigentlich habe ich in dem Ding richtig gut geschlafen.«

»Dann kannst du dich gleich wieder reinlegen.« Ludger funkelte seinen Bruder böse an.

»Wie reinlegen?«

»Die Investoren kommen in wenigen Minuten – schon vergessen? Und wer ist nicht da, wo er sein sollte? Na, dämmert es?«

»Wie, du meinst … Ich soll mich noch mal in den Sarg legen? Nein, Ludger, auch wenn ich momentan nicht ganz frisch aussehe – als Mumie gehe ich ja wohl noch nicht durch. Da müssen wir etwas anderes finden.«

Ludger grübelte fieberhaft, was denn als Ersatz-Kahlbutz herhalten könnte. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sah Hannes grinsend an: »Auch wenn ich es bisher nicht erwähnt habe, ich habe sehr wohl mitbekommen, wie du vor einigen Wochen dieses große, diskret verpackte Paket bekommen hast und damit dann husch, husch für längere Zeit auf deinem Zimmer verschwunden bist.«

Hannes schluckte. »Na gut, wenn du es sowieso schon weißt, dann legen wir sie eben in den Sarg. Aber du musst mir helfen, ich habe sie auf dem Dachboden versteckt.«

 

Bruno und Oskar kauerten auf der Rückbank des Busses und machten sich so klein wie möglich. Der Kahlbutz klemmte zwischen ihnen und sah mit der Wolldecke, die sie ihm über Kopf und Schultern gehängt hatten, ein wenig wie ein Mönch aus. Seit Minuten rumpelte der Reisebus über holprige Landstraßen, doch von ihrer Position konnten die beiden nur die Kronen der Alleebäume am Fenster vorbeirauschen sehen.

»Wohin fahren wir denn?«, flüsterte Oskar.

»Keine Ahnung. Ist mir auch egal«, brummte Bruno schlecht gelaunt und überlegte gleichzeitig, wie er sich an seinem linken Fuß kratzen könnte, ohne den Ritter loszulassen.

»Vielleicht fahren die jetzt nach Hause?«

»Nach Hause?«

»Ja, nach China, und wir müssen mit. Bruno, da hab’ ich keinen Bock drauf. In China haben die ja nicht mal ordentliches Besteck und sprechen auch so komisch.«

Bruno stöhnte: »Das sind doch Japaner.«

Der Bus wurde langsamer und kam mit einem Schnaufen zum Stehen. Nachdem der letzte Reisegast den Bus verlassen hatte, richtete sich Bruno vorsichtig auf. Der Fahrer saß noch auf seinem Platz, war aber in das Studium einer Zeitung vertieft. Bruno spähte aus dem Fenster. Die Reisegruppe trottete einer Dame im roten Kleid hinterher, die mit einem geschlossenen Regenschirm abwechselnd links und rechts in die Gegend piekte. Bruno kam das Dorf, in dem der Bus parkte, irgendwie bekannt vor. Flache Häuser rechts, links eine Kirche, davor ein kleines Schild mit der Aufschrift »Zur Kahlbutz-Gruft« und dann 

Dann schrie Bruno so lange, bis Oskar aufsprang und ihm den Mund zuhielt.

 

Ludger Holbein schaute mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination zu, wie sich die Latexhaut unter den kräftigen Atemstößen von Hannes langsam zu füllen begann und eindeutige, vor allem überdimensionierte Konturen annahm. Luxusmodell Dolly hatte groß auf der Packung gestanden, hautsympathisch und gefühlsecht, ausgestattet mit allem, was einem Mann Freude … Aber so weit wollte Ludger nun wirklich nicht denken. Jetzt ging es darum, einen adäquaten Ersatz für den Kahlbutz in den Sarg zu bekommen, und dieses Vorhaben drohte gerade zu scheitern, weil sich sein Bruder zu stark ins Zeug legte.

»Hannes, hör auf, oder hast du den Ritter so drall in Erinnerung? Nee, nee, das muss doch eher schlaff und knitterig wirken.«

Hannes ließ einige Sekunden zischend Luft entweichen, prüfte dann mit einer Hand die Konsistenz des Gummikörpers und nickte seinem Bruder schließlich zu.

Ludger breitete ein weißes Tuch über der Puppe aus. »Ok, wir drehen noch zwei, drei von den Glühbirnen raus, dann sollte das für die Japaner reichen«, sagte er schließlich und zupfte einige letzte Falten aus dem Stoff.

 

Durch den Schrei aufgeschreckt, ließ der Busfahrer die Zeitung fallen und sprang auf. »Was zum Teufel!« Er bewegte sich bedrohlich auf Bruno und Oskar zu. »Ihr seid doch keine Japaner? Schwarzfahrer! Euch mach’ ich Beine!«

Oskar sah Bruno an, dem vor Angst fast die Augen aus den Höhlen sprangen. »Wir müssen hier raus«, zischte er.

Bruno nickte. »Ok, bei drei. Eins …«

Doch da war Oskar bereits hinter der Sitzreihe hervorgesprungen, die Mumie im Schlepptau. Bruno hatte keine Wahl, er musste hinterher. Knapp vor dem Busfahrer erreichten sie den hinteren Ausstieg des Busses, stolperten auf den Parkplatz und rannten dann in Richtung Kirche.

Nach einigen Metern drehte sich Bruno um. Der Busfahrer war ihnen glücklicherweise nicht gefolgt. Dafür drohte neues Ungemach von links: Die japanische Reisegruppe kam zurück. Bruno sah sich hektisch um, entdeckte als einzige Zuflucht den Eingang zur Gruft. Er rüttelte am Türgriff. Die Tür schwang mit leisem Quietschen auf.

»Los, rein hier!«

 

Ludger Holbein hörte die Schritte auf der Treppe und drehte sich in der Erwartung um, die japanischen Investorengruppe vor sich zu haben. Umso erstaunter war er, als er gegen das helle Rechteck der Eingangstür die Silhouette von drei Gestalten erkannte, die Arm in Arm direkt auf ihn zu wankten. Er legte einen Finger auf seine Lippen und signalisierte Hannes mit einer Kopfbewegung, ihm in eine dunkle Ecke der Krypta zu folgen.

Bruno riss die Augen weit auf. Nach der Helligkeit des Sommertages gewöhnten sich seine Pupillen nur langsam an das schwache Licht hier unten. Der Deckel vom Sarg war hochgeklappt. Also musste der Typ, gegen den sie gestern beim Poker gewonnen hatten, den Schlag überwunden und seinen Suff ausgeschlafen haben.

»Wäre doch cool, wenn wir den Ritter einfach hier verstecken, oder?« Oskar kicherte leise. »Hier suchen sie den doch nie.«

»Wir müssen auch nicht mehr suchen, denn wir haben ihn schon gefunden.« Mit diesen Worten sprangen Ludger und Hannes aus ihrem Versteck hervor und bauten sich vor dem Ausgang auf.

Bruno fuhr herum und erschrak. Der Pokerspieler von gestern mitsamt Zwillingsbruder. Mit einem Mal wurde ihm klar, wie absurd die Situation eigentlich war: Oskar und er hatten den gestohlenen Kahlbutz wieder an den Ort des Diebstahls zurückgebracht und saßen nun ausgerechnet hier in der Falle.

»Wir haben eingesehen, dass wir uns falsch verhalten haben«, log er schamlos. »Deswegen bringen wir den Ritter zurück. Es tut uns wirklich schrecklich leid. Auch das mit dem Schlag auf den Hinterkopf natürlich.« Er sah Hannes Holbein zerknirscht an. »Ich schlage vor, wir legen den Kalle einfach zurück und dann …« Er drehte sich zum Sarg um, stockte, als er erkannte, was bereits darin lag und musste trotz der Situation grinsen. Hannes warf ihm einen bösen Blick zu. Sofort wurde Bruno wieder ernst und rief: »Los, Oskar, raus mit der Ersatzmumie, rein mit dem Kahlbutz!«

Ludger Holbein war von dem Aktionismus, den die beiden Diebe nun an den Tag legten, so überrascht, dass ihm für einen Moment die Worte fehlten. Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da vernahm er in seinem Rücken ausländisch klingende Stimmen. Ein Pulk von Japanern drängte sich schwatzend an ihm vorbei in das Gewölbe.

»Ruhe«, rief er. »Das hier ist ein geweihter Ort der Kirche.« Und da er sich nicht anders zu helfen wusste, begann er einfach mit seinem üblichen Vortrag über den Kahlbutz. Unterbrochen von kleinen Pausen, in denen die Dame mit dem roten Kleid seine Sätze ins Japanische übersetzte, referierte er über den Ritter, der gar keiner war, sondern nur so genannt wurde, und der einfach nicht verwesen wollte.

Bruno drückte sich dicht an die Wand der Krypta, im Arm die knittrige, halbaufgeblasene Gummipuppe, die sie gerade noch rechtzeitig gegen die echte Mumie ausgetauscht hatten. Zentimeter für Zentimeter schlich er nun zusammen mit Oskar hinter dem Rücken der Japaner auf den Ausgang zu, als sich plötzlich jemand aus der Gruppe umdrehte und ihnen den Weg versperrte.

Während Bruno sich noch über das Vollmondgesicht des gar nicht so asiatisch wirkenden Mannes wunderte, sprang Oskar vor, zog mit beiden Zeigefingern seine Augenlider zu schmalen Schlitzen, deutete mit seinem Kinn in Richtung Gummipuppe und fragte: »Wollen kaufen Mumie?«

Der Mann grinste kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Sandmann«, sagte er. »Valentino Sandmann, Hauptkommissar auf Urlaub. Und die hier …« Er schwenkte zwei Handschellen durch die Luft, die leise klirrend aneinanderschlugen. »Die habe ich immer dabei. Berufskrankheit quasi.«