Wieder vereint!
Eine Weile standen Flora und Goldwing bloß da und starrten auf die Risse, die sich durch alle vier Platten zogen. Einige waren nur ganz fein, andere klafften schon richtig weit auseinander. Wie lange würden die Platten die Last der mächtigen Holzeulen noch tragen können?
»Was machen wir denn jetzt?«, flüsterte Flora, die als Erste die Sprache wiederfand.
Goldwing schwieg, während ihre Ohren unruhig in alle Richtungen zuckten.
»Der Sonnenberg sieht aus wie der Berg mit der Platte«, murmelte sie schließlich und starrte nachdenklich vor sich hin. »Wenn es denselben Berg hier und dort gibt, dann ist vielleicht …« – sie hielt kurz inne – »auch hier und dort etwas versteckt.« Goldwing stockte und richtete den Blick auf Flora. Da verstand sie.
»Meinst du, wir müssen die Sternquelle suchen?«, fragte sie aufgeregt. »Und dass wir dann dort etwas finden, so wie wir das Herz bei den beiden alten Eichen gefunden haben?«
Goldwing nickte. »Das wäre zumindest eine Idee«, meinte sie. »Lass es uns versuchen! Es sind nur fünfzig Flügelschläge weit Richtung Osten, hat Aspiro damals gesagt. Das schaffst du.«
»Klar schaffe ich das«, versicherte Flora. Natürlich hätte sie sich gewünscht, wieder mit Goldwing fliegen zu können, aber das ging ja nicht einfach so. Also lief sie Goldwing hinterher. Ab und zu verharrte sie in der Luft, damit Flora nachkam.
Schon bald verließen sie das Tal und Flora kämpfte sich durch den dichten Wald. Hier gab es keine Wege, denn die brauchten Zaubereulen ja nicht. Es war ganz schön mühsam voranzukommen, doch keine kratzigen Büsche und kein Anstieg hätten Flora davon abgehalten, Goldwing zu folgen.
Und dann endlich stand sie auf dem Sonnenberg. Er hatte genau wie der andere Berg eine kreisrunde Platte aus ebenso weißem Stein. Von dort wies ihnen Goldwings linke Flügelspitze den Weg zu einer kleinen Lichtung. Auch hier gab es zwei hohe alte Eichen, wie Aspiro es ihnen damals beschrieben hatte.
»Flora, schau mal!«, rief Goldwing, die schon ein Stück vorausgeflogen war. Und da sah Flora es auch. Unter dem Schutz der weit ausladenden Zweige der beiden Bäume, die dicht über dem Boden hingen, versteckte sich tatsächlich eine Quelle. Sie war nicht besonders groß und hatte einen gezackten Rand. Als ob jemand mit einem Ausstecherförmchen einen Stern in den Boden gedrückt hätte, dachte Flora. Leise gurgelnd blubberte das Wasser in der Mitte hoch und schickte kleine Wellen zum Rand.
»Die Sternquelle, wir haben sie gefunden!«, freute sich Flora. Goldwing trippelte bereits aufgeregt herum und blieb dann plötzlich wie festgewachsen stehen. Sie starrte auf eine Stelle, an der sich die Wurzeln der beiden Bäume berührten. Und das taten sie nur hier, wie Flora mit einem raschen Blick feststellte.
Goldwing fing schon an, mit dem Schnabel auf dem feuchten Waldboden herumzuscharren.
»Vielleicht haben wir noch einmal Glück«, nuschelte sie und schüttelte ihre erdverschmierten Federn. Auch diesmal entstand ein richtig tiefes Loch, in dem Flora wieder bis zum Unterarm herumsuchte. Und tatsächlich! Sie spürte auch hier einen Stein und es war noch einmal – ein Herz! Flora wurde es plötzlich ganz heiß. Ob vor Anstrengung oder Aufregung – sie konnte es nicht sagen. Ihre Hand, in der nun beide Herzen nebeneinanderlagen, zitterte und sie hatte Mühe, sie ruhig zu halten. Das zweite Herz war ein bisschen größer als das erste und leuchtete auch nicht, aber sonst waren sie vollkommen gleich. Als Flora sie so betrachtete, kam ihr plötzlich ein Gedanke.
»Sieht das nicht ein bisschen wie Mutter und Kind aus?«, fragte sie Goldwing.
»Ja, stimmt«, meinte Goldwing. »Vielleicht hat die Ur-Eule ihrer Tochter dieses Herz mitgegeben, als sie sie nach Athenaria geschickt hat. Damit der Stein ihr Kind, alle Nachkommen und das ganze Zauberreich beschützt, wenn sie nicht mehr da ist.«
Flora nickte und mit einem Mal fiel ihr der Junge aus dem Schwimmbad ein. Das Stofftier hatte seine Oma ihm ja auch gegeben, damit es ihn beschützte, wenn sie nicht mehr da war. Dann war dieses Herz möglicherweise genauso eine Art Talisman für Athenaria?
»Ich glaube, diese beiden Herzen gehören zusammen«, fuhr Goldwing fort. »Lass sie uns gemeinsam hier verstecken.«
Flora nickte und legte die beiden Herzen in das Loch. Dann warteten sie gespannt, was passierte. Würde sich der Boden wieder schließen? Oder gab es vielleicht sonst irgendein Zeichen, dass nun wieder alles in Ordnung war? Aber nichts tat sich. Voller Enttäuschung holte Flora die Herzen wieder heraus.
»Das ist wie verhext!«, schimpfte sie. »Nun haben wir diese beiden Herzen und können Athenaria doch nicht helfen.«
»Offensichtlich sind wir hier am falschen Ort«, meinte Goldwing. »Vielleicht müssen wir sie bei den anderen beiden Eichen verstecken? Vielleicht gehören sie dort zusammen?«
»Aber das Herz der Ur-Eule hat bis zum Schluss für Athenaria geschlagen«, wandte Flora ein. »Für ihr Reich! Das war ihr Werk, dass ihr Kind und alle Zaubereulen sicher sein konnten. Dann gehört es auch hierher!«
»Ja, das stimmt«, gab Goldwing zu. »Aber wenn sie hierhergehören, dann nicht an diese Stelle.«
Eine Weile schwiegen sie und starrten auf die beiden Herzen in Floras Hand. Dann machte sich Goldwing plötzlich ganz lang und saß da wie erstarrt.
»Was hast du?«, wollte Flora wissen.
»Die Ur-Eule war damals die einzige Herrscherin über die Zaubereulen«, murmelte Goldwing ganz in Gedanken versunken. »Sie hat ihre Macht an ihr Kind weitergegeben. Und als es dann immer mehr Zaubereulen wurden, gab es schließlich vier Herrscherinnen. So hat Aspiro es uns erzählt. Also sind sie in gewisser Weise doch die Nachfahren der Ur-Eule, oder? Vielleicht gehören die beiden Herzen dann …«
Goldwing hielt kurz inne und Flora vollendete schnell ihren Satz: »Vielleicht gehören die Herzen dann zu den vier Eulen auf den Steinplatten.«
Beide schauten sich an und Flora spürte ganz genau: Goldwing hatte recht! Das mussten sie versuchen! Schnell machten sie sich auf den Rückweg zur großen Wiese.
Flora war ziemlich außer Atem, als sie schließlich dort ankamen. Sie war ganz zappelig vor Ungeduld. Mit zitternden Fingern legte sie die Herzen auf die Platte mit den größten Rissen. Gespannt warteten sie, aber auch hier tat sich nichts!
Kopfschüttelnd starrte Goldwing auf den zerfurchten Stein. »Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr weiter«, murmelte sie. Doch das leuchtende kleinere Herz, neben dem das andere Herz wie leblos wirkte, brachte Flora auf eine Idee.
»So wie die Zaubereulen das Herz mit ihren magischen Kräften zum Leuchten gebracht haben, so muss das mit diesem anderen Herz vielleicht auch geschehen. Durch die vier Herrscherinnen! Sie sind doch die Nachkommen der Ur-Eule.«
»Das klingt gut!«, rief Goldwing. »Aber wie sollen wir die Herrscherinnen finden?«
Suchend blickten die beiden sich um. Wie bei ihren letzten Besuchen sausten lauter Zaubereulen durch die Luft und überall glitzerten ihre Flügel zwischen den Bäumen des Waldes. Da sahen sie, wie eine Eule direkt auf sie zugeflogen kam. Sie erkannten sie gleich an dem Stern auf der Brust – Aspiro!
Schwungvoll segelte der Uhu zu ihnen herab und landete neben Flora auf der Wiese.
»Seid gegrüßt«, sagte er. »Ich habe gespürt, dass ihr mich braucht. Nun bin ich da.«
»Ja, wir brauchen dich!«, rief Flora sofort und streckte ihm die beiden Herzen entgegen. Er ließ den Blick nicht von ihnen, während Flora und Goldwing ihm abwechselnd erzählten, was passiert war. Aspiro nickte ein paar Mal, dann flatterte er auf.
»Wartet hier. Ich werde es unseren Herrscherinnen berichten und sie zu euch bringen«, sagte er, bevor er mit ein paar kräftigen Flügelschlägen höher stieg und eilig Richtung Wald verschwand.
Mit bangem Herzen warteten Flora und Goldwing. Würde es lang dauern, bis Aspiro zurück war? Wo wohnten die Herrscherinnen überhaupt? Einfach in den Bäumen oder vielleicht in einer kostbaren Höhle, die so was wie ihr Schloss war? Waren die vier überhaupt überzeugt von Floras und Goldwings Idee und würden sie es versuchen? Sie mussten! Flora spürte ganz genau, dass das der einzig richtige Weg war!
Endlich kam Aspiro mit den Herrscherinnen zurück. Flora erkannte die großen Uhus sofort an ihren silbernen Flügeln. Lautlos segelten sie herbei und nahmen auf der Steinplatte Platz. Schweigend betrachteten alle die Herzen, die Flora dort hingelegt hatte.
»Aspiro hat uns von eurem Wunsch berichtet«, ergriff schließlich Dareia, die Herrscherin des Nordens, das Wort. »Wir sind in großer Sorge um unser Reich. Unsere Zauberkräfte waren bislang machtlos gegen diese Risse. Nichts, was wir versucht haben, hat sie verschwinden lassen oder auch nur zum Stillstand gebracht. Deswegen wollen wir euren Wunsch gerne erfüllen, denn wir glauben daran, dass die Ur-Eule uns diese Herzen nicht ohne Grund hinterlassen hat. Ob sie allerdings tatsächlich dazu geschaffen sind, die Wahrzeichen unseres Reichs zu retten? Wir wissen es nicht. Sie sind jedoch unsere einzige Hoffnung.«
Dareia warf zuerst Goldwing und dann Flora einen langen Blick zu. Auch die Augen der drei anderen Herrscherinnen ruhten auf den beiden. Flora wagte kaum zu schlucken und ihr Herz wummerte ganz wild gegen ihre Brust.
Unsere einzige Hoffnung, hatte Dareia gesagt. Was war, wenn es wieder nicht klappte? Selbst die große Kraft der Herrscherinnen hatte bisher nichts ausrichten können. Waren die beiden Herzen wirklich der Schlüssel zu allem?
Flora ballte die Hände zu Fäusten und schaute Dareia voller Entschlossenheit an. Da wandte sie den Kopf und nickte den anderen Herrscherinnen zu. Dareia hob die Flügel, die drei hüpften ein bisschen näher und streckten nun ebenfalls ihre glitzernden Schwingen nacheinander aus. Flora sah, wie sie die Augen schlossen. Vermutlich versuchten sie jetzt, all ihre magische Kraft auf die beiden Herzen zu richten, und auch Flora kniff ganz fest die Augen zusammen. Hoffentlich funktionierte es diesmal!
Da hörte sie ein Knacken, wie wenn ein dürrer Ast brach. Sie riss die Augen auf. Nun klopfte und knirschte es in der Platte, als ob sich unsichtbare Mächte in ihr regten.
Das klang richtig gefährlich! War das ein schlechtes Zeichen? Flora beschlich ein komisches Gefühl, sie spürte ein flaues Gefühl im Magen. Da sah sie, wie plötzlich kleine Steinkörnchen aus den Rissen hochgewirbelt wurden. Fein wie Sand schwebten sie als zitternde Wölkchen über der Platte und da fing auch das zweite Herz an zu leuchten. Ganz hellweiß strahlten nun beide Herzen nebeneinander. Flora ballte vor Freude die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie ganz laut »Ja!« geschrien. Sie hatten recht gehabt! Es funktionierte!
Auch die vier Herrscherinnen starrten mit großen Augen auf die Herzen. Ihre Umrisse wurden schließlich von der immer dichter werdenden Sandschicht verschluckt, bis auch ihr Leuchten bloß noch schwach zu erkennen war. Nur Sekunden später beruhigte sich die Sandschicht, legte sich zögernd auf die Platte und verharrte dort. Da spürte Flora einen kurzen, heftigen Windstoß. Er trug den Sand mit sich fort, als ob ihn jemand einfach weggepustet hätte. Flora schnappte nach Luft. Die beiden Herzen – sie waren verschwunden! Und ebenso die vielen Risse! Nun sah die Steinplatte wieder aus wie immer. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Flora noch ein schwaches Schimmern, dort, wo vorher die Herzen gelegen hatten. Jetzt waren sie wieder vereint. Tief im Innern des Wahrzeichens von Athenaria!