V.
An jenem ersten Abend unterhielt ich meine keltischen Gäste mit einem opulenten Abendmahl, gefolgt von höflichem Geplauder in der Bibliothek. Divicia und ihr Gefolge waren allesamt hochgebildet und kunstverständig. Sie fanden Freude an meinen Büchern, bewunderten die Wandmalereien, Teppiche und Skulpturen.
Laylas dunkle Augen leuchteten wie zwei Sterne. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie die Gesellschaft der beiden Frauen genoss. Ich hatte keine Zweifel, dass sie schon innerhalb weniger Tage die besten Freundinnen werden würden.
Divicia blieb bewusst vage, wo sich ihre Heimstatt befand, obwohl Layla und auch ich uns während des Abendmahls mehrfach danach erkundigten. Als Priesterin einer verbotenen Religion lebte sie wohl nicht in einer der Siedlungen ihres Volkes, sondern an einem geheimen Ort, den nur Eingeweihte kannten.
Einigen Andeutungen, die sie dennoch fallen ließ, entnahm ich, dass ihr heiliger Hain zwei oder drei Tagereisen südlich von Vindobona liegen musste. Sie sprach von sieben Priesterinnen, die an diesem Ort lebten und studierten und die uralten Riten ihres Glaubens zelebrierten. Sie kurierten Kranke, heilten Besessene, sagten die Zukunft voraus. Layla erzählte mir später sogar, dass Morann ihr hinter vorgehaltener Hand die unglaublichsten Geschichten über Divicia zugeflüstert hätte. Sie sei die mächtigste Druidin ihres Volkes, behauptete Morann. Angeblich könne sie sogar über Wasser und Feuer gebieten, sich in eine Bärin oder Wölfin verwandeln und mit Bäumen sprechen.
"Oh, ich wünschte, ich könnte bei Divicia studieren", rief Layla voller Inbrunst, nachdem sie mir diese fantastischen Geschichten weitererzählt hatte. So leidenschaftlich hatte ich sie noch selten über etwas sprechen gehört.
Ich stellte mir ein tief im Wald verstecktes Heiligtum vor, wo Divicia und ihre Anhänger die blutigen Riten ihres Glaubens vollzogen. Im nächsten Moment schalt ich mich einen Narren. War denn der Glaube der Druiden so anders als der meines eigenen Volkes? Auch bei unseren Stämmen gab es Seherinnen, weise Frauen, Heilerinnen. Und auch uns sagten die Römer alle möglichen Scheußlichkeiten nach – bis hin zu Menschenopfern.
Über das Heilmittel gegen die Pest, das die Götter ihr angeblich geschenkt hatten, gab Divicia sich noch verschlossener als über die Lage ihrer Heimstatt. Laylas Neugier war, was diese Medizin anbelangte, fast schon ein wenig zügellos, gegen die Gebote guter Gastfreundschaft verstoßend. Dennoch beantwortete die weißhaarige Priesterin jede ihrer Fragen geduldig mit einem geheimnisvollen Lächeln und ein paar Worten, die eines Orakels würdig gewesen wären. Das Seltsamste – und zugleich das Konkreteste – das sie uns über das Heilmittel verraten wollte, lautete folgendermaßen: Die Götter zeigten mir in einer Vision, dass Nahrung, die wir für verdorben halten, die wundersamsten Heilkräfte entfalten kann
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Das ergab nun gar keinen Sinn, wenn es nach mir ging. Divicia jedoch behauptete, dass sie mit der geheimnisvollen Medizin bereits innerhalb ihrer eigenen Stammesgemeinschaft, aber auch bei einer ganzen Anzahl befreundeter keltischer Stämme, wundersame Erfolge hatte erzielen können. In neun von zehn Fällen hätten die von ihr behandelten Pestkranken überlebt, behauptete sie.
Was einem Wunder gleichkam, denn normalerweise verhielt es sich genau umgekehrt. Neun von zehn ihrer Opfer raffte die Pest üblicherweise dahin. Der schwarze Tod entvölkerte regelmäßig ganze Dörfer, nicht nur im Imperium, sondern auch im fernen Asien. Jedenfalls hatte ich das aus glaubwürdigen Quellen gehört.
Ich konnte verstehen, dass Divicia uns ihre Geheimnisse nicht enthüllen wollte. Der Pestzauber konnte ihr Schlüssel für eine Zukunft in Freiheit sein. Wenn ihre Medizin wirklich wirksam war, so traute ich es Marcellus durchaus zu, beim Imperator persönlich vorzusprechen. Und vielleicht ließe Kaiser Hadrianus sich davon überzeugen, den Bann, der auf dem Druidentum lag, per imperialem Dekret aufzuheben.