XVI.
Der neue Tag war noch kaum angebrochen, da erwachte ich schweißgebadet aus dem Schlaf. Ich wusste nicht, was mich geweckt hatte. Ein Geräusch? Ein böser Traum, aus dem ich hochgeschreckt war? Ich konnte mich an nichts erinnern. Mein Kopf schmerzte, das Herz hämmerte mir in der Brust.
Es fühlte sich an, als hätte ich die letzten Stunden nicht im Reich von Morpheus, dem Gott des Schlafes verbracht, sondern wäre in die Unterwelt hinabgestiegen. Dorthin, wo sonst nur die Toten ihren Weg fanden.
Meine Kehle war ausgedörrt. Ich leerte die Wasserkaraffe, die wie üblich gut gefüllt neben meinem Bett stand und dürstete nach mehr. Auch mein Magen rebellierte, als hätte ich tagelang nichts zu essen bekommen. Was immerhin ein gutes Zeichen war. Tote wurden nicht von Hunger geplagt.
Ich brauchte eine ganze Weile, um mich zu orientieren. Die Ereignisse der Nacht schienen mir so unwirklich. Nebelhafte Chimären im grauen Licht des Morgens. Dennoch wusste ich, dass ich sie nicht geträumt hatte.
Iduna, meine verstorbene Frau, die zu mir gesprochen hatte ... gefolgt von dem schrecklichen Doppelmord an Paulus und Divicia. Dazu der böse Zauber, der sich anscheinend über meine Gäste gelegt hatte. Und über mich selbst. Unser aller Sinne hatten verrückt gespielt.
Dann noch der Bote des Christengottes, der in Marcellus´ Zimmer aufgetaucht war und ihm verkündet hatte, dass er auserwählt war. Gab es einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen? Oder straften uns lediglich die Götter, wie es ihnen beliebte?
Vorsichtig kletterte ich aus dem Bett. Ich wünschte, ich hätte sagen können, dass mit der Morgenröte wieder Vernunft und Klarheit die Oberhand in meinem Kopf gewonnen hätten. Doch noch immer rollte und schwankte der Boden unter meinen Füßen, als führe ich zur See.
Ich streifte mir ein Gewand über und trat auf den Gang hinaus. Mein erster Weg führte mich zum Zimmer des Marcellus, obwohl nicht er es war, den ich zu sehen begehrte. Ich musste mit Layla sprechen. Vielleicht wusste sie mehr als ich – wie es fast immer der Fall war. Vielleicht hatte sie im frühen Morgengrauen bereits erste Teile des Rätsels lösen können.
Ich klopfte an die Tür des Zimmers, doch nichts rührte sich. Also lugte ich vorsichtig hinein.
Marcellus schlief wie ein Toter.
Von Layla fehlte jede Spur.
Ich weckte den Legaten. Für Schlaf blieb jetzt keine Zeit mehr, wir hatten zwei Morde aufzuklären. Ich berührte Marcellus an der Schulter und sprach auf ihn ein, erst vorsichtig, dann lauter, und schließlich musste ich ihn fast anbrüllen, um ihn wachzubekommen.
"Wo ist Layla?", fragte ich ihn, kaum dass seine Lider sich einen Spalt breit geöffnet hatten.
Er sah sich um. "Keine Ahnung", brummte er benommen. Er rappelte sich auf den Ellenbogen hoch, sah sich erneut um, rieb sich die Schläfen. "Sind sie wirklich tot? Divicia und Paulus?", fragte er unvermittelt. "Sag mir, dass ich bloß einen schrecklichen Alptraum hatte!"
Ich schüttelte den Kopf. "Kein Alptraum."
Marcellus stöhnte. Seine Lider schlossen sich wieder. Ich dachte schon, er würde erneut vom Schlaf übermannt, doch im nächsten Moment sagte er: "Der Gott dieser Christen – er hat zu mir gesprochen, letzte Nacht."
"Ich weiß. Layla erzählte es mir."
"Ich soll auserwählt sein ..."
Der Besuch des geisterhaften Boten, wer immer er gewesen sein mochte, schien Marcellus tief beeindruckt zu haben.
Ich sann einen Augenblick nach, musste mir aber eingestehen, dass ich kaum etwas über den Götterglauben meines Freundes wusste. Natürlich nahm Marcellus als Legat der Legion an sämtlichen öffentlichen Festlichkeiten teil. Er opferte den Göttern, wie es der Brauch verlangte, sponserte selbst Feste und Spiele, aber ob er privat einem der zahlreichen Kulte anhing, die im Imperium und darüber hinaus verbreitet waren – darüber hatten wir nie gesprochen. Und jetzt sollte er plötzlich auserwählt sein? Als Christ?
Es ergab keinen Sinn. Aber die Launen der Götter waren für uns Menschen schon immer unergründlich gewesen.
In diesem Augenblick tauchte einer meiner Sklaven in der Tür auf. "Entschuldige, Herr", stieß er atemlos hervor, "Layla schickt mich, nach dir zu suchen."
Ich sprang von der Bettliege, auf deren Rand ich mich niedergelassen hatte. "Wo steckt Layla? Geht es ihr gut?"
Der Sklave nickte. "Sie ist drüben im –" Er stockte, schien nach den richtigen Worten zu suchen.
"Drüben? Wo drüben? So rede doch, Mann!"
"Im dem Raum, den du den Christen überlassen hast, Herr. Für ihre ... Rituale." So wie der Bursche bei diesen Worten dreinblickte, dachte er dabei an all die Scheußlichkeiten, die man sich über die Christen erzählte. Inzest, Kannibalismus, dunkle Zauber ...
"Ich gehe zu ihr", sagte ich, "du sorge bitte dafür, dass Marcellus zu sich kommt."
"Ich komme gleich nach", stöhnte Marcellus. Seine Augenlider waren noch immer geschlossen, doch er hielt jetzt seinen Kopf in den Händen, als litte er große Schmerzen.
Ich überließ ihn meinem Sklaven und eilte zum Gebetsraum der Christen. Ich traf Layla auf dem Flur, direkt vor der Tür – und war sofort in Alarmbereitschaft.
Sie hatte sich mit einer Hand an der Wand abgestützt und stand leicht vornübergebeugt da. Ihre Augenlider flimmerten.
Die Tür zum Gebetsraum der Christen stand offen. Einer meiner Sklaven war damit beschäftigt, den Fußboden aufzuwischen. Zwischen den Tonscherben einer zu Bruch gegangenen Amphore hatte sich eine gelbliche Flüssigkeit ausgebreitet, von der ein übler Geruch ausging. Wie von einer Latrine.
Layla kam unsicheren Schrittes auf mich zu und schenkte mir ein kurzes, scheues Lächeln. Sie wirkte erleichtert, mich zu sehen.
"Was ist passiert? Geht es dir gut?", fragte ich sie.
"Mir ist bloß ein bisschen schwindlig. Wenn ich meine Augen schließe, so tanzen Lichter hinter meinen Lidern. Wie schon in der Nacht."
Sie presste ihre Handballen gegen die Schläfen und atmete tief ein. "Nimmt dieser böse Zauber denn kein Ende, Thanar? Und warum sind deine Bediensteten eigentlich nicht davon betroffen?", fügte sie im nächsten Augenblick hinzu. Dabei wirkte sie schon weit weniger benommen, war beinahe wieder jene Layla, die ich so gut kannte. Die einen messerscharfen Verstand und eine hervorragende Beobachtungsgabe besaß – und damit Dinge wahrnahm, die anderen niemals aufgefallen wären.
Sie hatte Recht, bei keinem meiner Sklaven hatte ich die seltsame Benommenheit, den Schwindel oder die Übelkeit beobachtet, die mich und meine Gäste befallen hatten. Genau wie jener Bursche, der eben zu unseren Füßen flink und geschickt den Fußboden aufwischte, waren alle meine Dienstboten am gestrigen Abend und in der Nacht ihren Pflichten nachgekommen. Jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte. Ich war allerdings noch nicht munter genug, um mir einen Reim darauf zu machen, was das bedeuten mochte.
"Was wolltest du denn hier, so früh am Morgen?", wandte ich mich wieder Layla zu. "Konntest du keinen Schlaf mehr finden?"
Ihr Lächeln wurde breiter. "Doch, doch. Ich blieb noch in der Bibliothek, döste ein paar Stunden, doch dann gewann meine Neugier die Oberhand, fürchte ich. Ich beschloss also –"
"In der Bibliothek?", fiel ich ihr ins Wort, bevor sie weitererzählen konnte. "Was führte dich denn dorthin, mitten in der Nacht?"
Sie legte den Kopf schief und musterte mich erstaunt von der Seite. "Erinnerst du dich denn nicht, Thanar?"