XXIII.                   
Wir wählten ein kleineres Speisezimmer als Ort für unser Tribunal. Ich ließ einige Häppchen anrichten, dazu warmen Wein. Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten, obwohl sich die Tageszeit kaum noch bestimmen ließ. Der Schneesturm hatte sich inzwischen zwar gelegt, doch mein Haus war unter den weißen Massen förmlich begraben, und nun hüllte uns auch noch dichter Nebel ein. Wie ein Leichentuch, das die Götter über mein Anwesen gebreitet hatten – als Zeichen, dass wir alle verdammt waren.
Mit ein paar kräftigen Schlucken Wein versuchte ich, diese morbiden Gedanken zu verdrängen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Caecilia, die Freigelassene des Paulus, die mir gegenüber Platz genommen hatte.
Marcellus hatte es sich, mit Layla an seiner Seite, zu meiner Rechten bequem gemacht. Caecilia war die erste, die wir verhörten. Wie ein zusammengesunkenes Häufchen Elend saß sie vor uns und hatte den Blick gesenkt.
Layla ergriff das Wort, während Marcellus sichtlich noch nachgrübelte, wie er wohl das Verhör beginnen sollte. "Du wirktest verstört, Caecilia", sagte sie geradeheraus. "Heute Morgen, als ich dich im Gebetsraum bei deinem toten Apostel traf."
Wenn sie es wollte, konnte Layla die einfühlsamste Frau der Welt sein. Doch ebenso verstand sie es, kurz und ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. Anscheinend sah sie einen Vorteil für das Gespräch darin. Oder besser gesagt für das Verhör. Nichts schien ihr wichtiger zu sein, als die Wahrheit herauszufinden.
Caecilia hob abrupt den Kopf und funkelte Layla böse an. Der Eindruck eines hoffnungslosen Häufchens Elend war mit einem Mal verflogen. Wie machten sie das bloß, die Frauen? War jede von ihnen mit den Eigenschaften eines Chamäleons gesegnet, das von einem Augenblick zum nächsten eine komplette Verwandlung durchmachen konnte?
"Ich wirkte verstört?", fauchte Caecilia. "Sollte ich vielleicht lachen und tanzen? Paulus ist tot! Er war ein Prophet, ein heiliger Mann, ein Apostel des Herrn. Und ich durfte ihm dienen. Wie soll ich diesen Verlust jemals verschmerzen?"
Layla wechselte in ihren sanfteren Modus. "Dein Schmerz tut mir leid, Caecilia. Und dein Verlust."
Marcellus und ich hatten noch kein Wort in diesem Verhör gesprochen, das wir doch hatten führen wollen. Und es sah nicht danach aus, als ob wir demnächst die Gelegenheit dazu bekämen.
Layla sprach bereits weiter: "Darf ich dich etwas fragen, Caecilia? Diese Amphore, mit der du heute Morgen zu Paulus wolltest – was enthielt sie? Sie verströmte einen, hm, etwas befremdlichen Geruch, wenn ich das sagen darf. Diente sie einem eurer christlichen Rituale?"
Etwas befremdlicher Geruch war eine sehr beschönigende Formulierung. Was immer in der Amphore gewesen sein mochte – von den Resten, die sich über den Fußboden ergossen hatten, war mir der beißende Geruch einer schlecht gereinigten Latrine in die Nase gestiegen.
Caecilia schien erst nicht zu begreifen, wovon Layla sprach. Doch dann nickte sie. "Es ist eine Tinktur, die die bösen Geister fernhält, die sich ansonsten der Seele des Toten bemächtigen könnten. Ich gebe zu, das ist kein christlicher Brauch, sondern etwas, das ich von meiner eigenen Familie übernommen habe."
Mehr schien sie uns dazu nicht verraten zu wollen. Sie verlegte sich aufs Schweigen und sah Marcellus an.
Dieser hätte bestimmt auch einige Fragen an die Christin gehabt, doch Layla gab ihm keine Gelegenheit, sie zu stellen. Ihr eifriger Spürsinn ließ sie wohl alle Regeln der Höflichkeit vergessen. Marcellus wiederum, der sich gegen jeden Mann ohne Probleme durchgesetzt hätte – egal, ob verbal oder im physischen Zweikampf – ließ sie gewähren.
Layla fuhr fort: "Sag mir, Caecilia, hast du bemerkt, dass sich am Leichnam deines Propheten keinerlei Stichwunden fanden? Dass er also mit Sicherheit nicht erdolcht wurde? War es diese Entdeckung, die dir heute Morgen so einen Schock versetzte? Die dich wie von Sinnen aus dem Zimmer flüchten ließ?"
"Ein böser Zauber dieser Dämonenanbeterin war es, der Paulus das Leben nahm!", erwiderte Caecilia hitzig. "Ihr verschwendet hier nur eure Zeit, in dem ihr mich mit Fragen löchert."
Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. Mir war, als beobachtete ich einen Ringkampf zwischen ihr und Layla, diesen beiden ehemaligen Sklavinnen, die doch ansonsten nichts gemeinsam hatten.
"Keiner von uns hat den Dolch gegen diese Hexe geführt", sagte Caecilia mit scharfer Stimme. "Wir haben den ganzen Abend gemeinsam in frommer Andacht zugebracht. Philomena, Flamma und ich. Im Gebetsraum, wo jetzt Paulus´ kalter Leichnam ruht", fügte sie mit Bitterkeit hinzu. "Wir studierten die Heiligen Texte – ein wesentlicher Bestandteil unseres Glaubens. Und wir flehten unseren Gott an, uns vor dem Bösen zu schützen, das uns in Vindobona widerfahren ist."
"Da hat euer Gott euch wohl im Stich gelassen", warf ich ein. Ich konnte mir die bissige Bemerkung nicht verkneifen.
"Niemand vermag es, die Wege des Herrn zu ergründen. Er opferte seinen eigenen Sohn für die Sünden der Menschen", gab Caecilia zurück. Ihr Tonfall klang so salbungsvoll, dass ich mich provoziert fühlte.
Layla indessen ließ sich nicht beirren. Sie setzte ihre Befragung fort. "Flamma, Philomena und du – ihr wart also den ganzen Abend über zusammen? All die Stunden, die zwischen dem Abendessen und jenem Zeitpunkt lagen, als Philomena die Toten fand?"
"Das sagte ich doch bereits." Caecilia heftete ihren düsteren Blick auf mich. "Frag doch deine Sklaven, Thanar. Wenn mein Wort nichts gilt. Sie bedienten uns den ganzen Abend über. Sie brachten uns Wein und Brot, und Öl für die Lampen ... Immer war mindestens einer von ihnen zur Stelle, wenn wir etwas brauchten."
Ihre Stirn glättete sich. Die Angriffslustigkeit, mit der sie Layla begegnet war, schien für den Augenblick von ihr zu weichen. "Der Arbeitseifer deiner Bediensteten ist ganz ausgezeichnet, Thanar", fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
Layla indes ließ nicht locker. "Bestimmt hat doch der eine oder andere von euch einmal die Latrine aufgesucht, nicht wahr, Caecilia? Und dafür kurz den Raum verlassen."
"Das ja. Natürlich. Jeder von uns ging zur Latrine an diesem Abend. Mindestens einmal. Aber ebenso rasch kehrten wir alle wieder zurück." Caecilia verstummte. Ihre Augen wanderten durch den Raum. Als müsse sie über etwas nachdenken, dass sie nicht begreifen konnte. "Philomena war auf dem Weg zur Latrine, als sie die Toten fand", fuhr sie schließlich fort. "Jedenfalls sagte sie, dass sie sich erleichtern wolle, als sie Flamma und mich verließ. Sie blieb recht lange fort, doch wir gaben natürlich nichts darauf. Wir konnten ja nicht ahnen ..."
"Dass sie zwei Tote finden würde?", sagte ich.
Caecilia nickte wortlos. Ihre Lider zuckten, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie wirkte müde. Hoffnungslos besiegt. Als habe sie ihre Augen längst leergeweint.
Layla tauschte einen Blick mit Marcellus, den ich nicht zu deuten verstand.