XXV.
"Denkt ihr, dass Philomena ihren Gatten vergiftet hat?", ergriff Marcellus das Wort, als wir uns um den reich gedeckten Tisch im Speiseraum versammelt hatten.
Noch war keiner der anderen Gäste aufgetaucht, sodass wir frei untereinander sprechen konnten. Mit dem Essen warteten wir allerdings nicht zu. Ich verspürte zehrenden Hunger, und meinen Freunden schien es ähnlich zu ergehen. Wir ließen uns die Becher füllen und taten uns an den Köstlichkeiten gütlich, die für uns bereit standen.
"Ich könnte mir Paulus´ Gemahlin schon als Mörderin vorstellen", sagte ich zu Marcellus, "nach dem, was Caecilia uns berichtet hat. Philomena hatte – als eine der wenigen, soweit ich es bis jetzt beurteilen kann – die Gelegenheit, beide Morde zu begehen. Und ein Motiv sehe ich auch. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie nicht mit dem christlichen Prediger und Asketen verheiratet sein wollte, in den Paulus sich verwandelt hat. Die Gelegenheit war günstig, ihn hier unter meinem Dach zu töten. Sie konnte es auf die Kelten schieben, oder auf deine Männer, Marcellus. Jede Menge Auswahl."
"Das ist wahr", pflichtete mein Freund mir bei. Ein harter, grimmiger Ausdruck lag in seinem Blick.
"Es könnte sich folgendermaßen abgespielt haben", fuhr ich fort. "Philomena vergiftete Speise oder Trank ihres Mannes. Dazu hatte sie reichlich Gelegenheit, wenn sie ihm stets das Essen anzurichten pflegte. Und Divicia beobachtete sie dabei. Ganz unabsichtlich, vermute ich. Ich denke nicht, dass sie Philomena hinterher spionierte. Warum auch? Aber Philomena könnte ihrerseits bemerkt haben, dass es eine Zeugin ihrer Schandtat gab. Dann blieb ihr nichts anderes übrig, als auch die Druidin zu ermorden. Sie kann sie zu dem Zeitpunkt erdolcht haben, als sie angeblich die Leichen fand. Vielleicht lag Paulus da schon im Sterben, und Divicia beschuldigte Philomena des Mordes."
"Woraufhin diese sie zum Schweigen brachte", ergänzte Marcellus. "Bloß woher hatte Philomena den Dolch?"
"Vielleicht rechnete sie damit, dass Divicia etwas gesehen haben könnte, und war einfach gut vorbereitet? Es ist nicht schwer, sich in meinem Haus eine Waffe zu besorgen."
Marcellus nickte langsam. "Möglich. So könnte es sich abgespielt haben.
"Die Zeit war aber sehr knapp", sagte Layla. "Nach dem, was Caecilia uns berichtete, verließ Philomena den Gebetsraum nur für kurze Zeit. Dann hörte man sie schreien, weil sie angeblich die Toten gefunden hatte. Wenn sie selbst es war, die Divicia erdolchte, hätte sie doch Blutspritzer abbekommen müssen, nicht wahr? Sie hätte aber niemals die Zeit gehabt, in ihr Zimmer zu laufen, um sich umzuziehen. Oder sehe ich das falsch?"
"Wir wissen nicht genau, wie lange sie wirklich allein war", sagte ich. "Caecilia kann die Zeitspanne falsch eingeschätzt haben."
Marcellus verzog angewidert das Gesicht. "Was für eine Vorstellung. Vergiftet von der eigenen Ehefrau! Eine Verräterin im Herzen der Familia!"
Bei diesen Worten blickte er Layla an, zärtlich allerdings. Bestimmt dachte er, dass sie ihm so etwas niemals antun würde. Was natürlich der Wahrheit entsprach. Dennoch empfand ich Eifersucht, bei der Art, wie er sie ansah.
"Wir sollten Philomena als Nächste befragen", sagte ich rasch, um mein Unbehagen zu überspielen. "Gleich nach dem Abendessen."
"Unbedingt", stimmte Marcellus mir zu.
Layla sagte: "Auch im Lager dieses Jesus hat es einen Verräter gegeben. So steht es in dem Buch der Christen, das Caecilia mir ausgeliehen hat. Einer seiner Jünger verriet den Propheten an die römischen Soldaten. Durch einen Kuss."
"Wie abscheulich", brummte Marcellus.
"Was für ein Gott", rief ich, "der nicht einmal die Verräter in den eigenen Reihen erkennt!"
Ich rechnete mit Zustimmung von Marcellus, doch der blieb stumm. Er schien sich in Gedanken zu verlieren. Dachte er an die Vision, die ihn letzte Nacht heimgesucht hatte? An den vermeintlichen Boten des christlichen Gottes, der ihm verkündete, dass er auserwählt sei?
Was hatte sich wirklich zugetragen, in Marcellus´ Schlafgemach? Waren er und Layla einem Trugbild aufgesessen, wie auch ich selbst in dieser verfluchten Nacht?
Auserwählt
. Konnte es überhaupt möglich sein? Marcellus, ein römischer Legat – ein Erwählter des Christengottes? Und wenn ja, wozu genau hatte dieser seltsame Gott ihn auserkoren? Sollte Marcellus die Nachfolge des Paulus antreten? Hatte Gott die Bluttat bereits vorausgesehen und sich meinen Freund als neuen Apostel auserkoren?
Oder war Marcellus gar für noch Größeres bestimmt? So wie Divicia die größten Ambitionen für das Druidentum gehegt hatte ... Sollte der Legat gar Ähnliches für die Christen erwirken? Eine Anerkennung dieses Kultes im Römischen Imperium?
Mir schwirrte der Kopf. Zu den unfassbaren Ereignissen der letzten Nacht gesellten sich erneut der seltsame Schwindel und die Übelkeit, die einfach nicht von mir weichen wollten. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass mir in diesem Augenblick alles gänzlich ausweglos erschien. Bis Layla mich am Ärmel zupfte und mich mit einem aufmunternden Lächeln bedachte. Hatte sie wieder einmal meine Gedanken gelesen, wie sie es so oft tat?
"Ich denke, einige deiner Gäste werden heute vielleicht lieber auf ihrem Zimmer speisen wollen", sagte sie, während sie mit dem Kopf auf die leeren Speisesofas im Raum deutete. "Soll ich mich darum kümmern, dass ihnen etwas serviert wird?"
"Ich regle das schon, Li-"
Liebste
, hatte ich sagen wollen. Aber das war höchst unpassend in Anwesenheit von Marcellus. Layla war jetzt seine
Liebste, nicht mehr die meine.
"Layla," verbesserte ich mich rasch – was ihr nicht entging. Ich erntete ein Sphinx-Lächeln, während Marcellus mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt schien und offensichtlich nichts von meinem Versprecher mitbekommen hatte.
Ich atmete erleichtert auf. "Thessalos wird hoffentlich einen gesunden Appetit verspüren", sagte ich. Es war das Erstbeste, das mir einfiel.
Ich hatte mich so in den verzweifelten Versuch verstrickt, den Ereignissen der letzten Nacht irgendeinen Sinn zu entlocken, dass ich gar nicht mehr an den Medicus gedacht hatte. Dabei hatte ich eigentlich vorgehabt, noch vor dem Abendmahl nach ihm zu sehen.
Nun, ich würde ihm das Essen eben aufs Zimmer schicken und ihm dann später einen Besuch abstatten. Vermutlich hatte er den Nachmittag ohnedies verschlafen und hoffentlich in den Armen des Gottes Morpheus Stärkung gefunden.
Aus dem christlichen Lager tauchte niemand bei Tisch auf. Und auch die Kelten ließen sich nicht blicken. So schickte ich also insgesamt drei Sklaven los, meine Gäste mit Speise und Trank zu versorgen. Niemand sollte sich über mangelnde Gastfreundschaft meinerseits beklagen können – wenn man mein Haus schon als verflucht ansah.
Keiner meiner Bediensteten kehrte zurück. Stattdessen drang nur kurze Zeit später Geschrei und Gezeter durch die offene Tür des Speisezimmers an mein Ohr.