XXVI.
Layla, Marcellus und ich waren im gleichen Moment auf den Beinen. Was hatte dieser Aufruhr zu bedeuten?
Zu dritt liefen wir aus dem Speisezimmer. Oder besser gesagt, wir taumelten. Ich litt aufs Neue unter einem Schwindelanfall, so dass ich mich an den Wänden abstützten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Layla lief tapsig wie ein junger Hund neben mir her, und Marcellus kniff in höchster Konzentration die Augen zusammen, wohl ebenfalls in dem Versuch, sich halbwegs sicher auf den Beinen zu halten.
Meine Brust zog sich angstvoll zusammen. War der Fluch der letzten Nacht erneut über uns gekommen? Vergnügten sich die Götter im grausamen Spiel mit uns?
Wir folgten dem Geschrei, und nur ein paar Schritte später hatten wir die Ursache des Aufruhrs ausfindig gemacht. Einige Sklaven drängten sich vor dem Gebetsraum der Christen.
Eines meiner Küchenmädchen stand heulend neben den Überresten eines Bratens, den sie wohl samt Tablett und Teller hatte fallen lassen. Ein matschiger Brei aus zerbrochenem Geschirr, Fleisch und Gemüse hatte sich zu ihren Füßen ausgebreitet.
Neben ihr klammerte sich ein junger Sklave an den Türstock. Sein Körper war steif vor Schock, nur seine Hände zitterten wie die eines zahnlosen Greises. Ich erkannte in ihm einen der drei Burschen, die ich losgeschickt hatte, sich um die Verpflegung meiner Gäste zu kümmern.
Marcellus schob die Sklaven ungeduldig beiseite und drängte sich in den Raum. Dort allerdings kam auch er abrupt zum Stehen. Ein Laut des Entsetzens entfuhr ihm.
Ich folgte ihm nach – und im nächsten Augenblick war mir klar, was den neuerlichen Aufruhr in meinem Haus verursacht hatte: Auf dem Fußboden, zwischen dem kleinen Altar der Christen und der Liege, wo der ermordete Apostel mahnend unter seinem Leichentuch ruhte, erblickte ich Thessalos, den Medicus. Er lag auf dem Rücken, die Arme weit vom Körper gestreckt. Aus seiner Brust ragte der Griff eines Dolches. Er war tot.
Einer meiner Sklaven, wohl der Furchtloseste unter den Anwesenden, drängte sich zu mir durch und flüsterte mir etwas zu: "Die Ehefrau des Paulus, Herr – sie wurde ebenfalls ermordet. Wir fanden sie nebenan, in ihrem Schlafgemach."
"Philomena?", entfuhr es mir. Der Boden schien unter meinen Füssen wegzubrechen. Ich bekam gerade noch den Arm meines Sklaven zu fassen, sonst wäre ich wohl zu Fall gekommen. Mir war, als könnte ich mein eigenes Blut in meinen Ohren rauschen hören.
Thessalos und Philomena – tot? Zwei weitere Morde?
Ich mühte mich, den Schwindel abzuschütteln und mich wieder in den Griff zu bekommen. Eben zuvor war Paulus´ Gattin noch unsere beste Verdächtige für die ersten beiden Morde gewesen. Und jetzt hatten wir plötzlich zwei weitere Leichen, einschließlich ihrer selbst?
Ich betete still zu den Göttern, beschwor sie, mich entrinnen zu lassen aus diesem unsäglichen Alptraum. Bitte, lasst mich meine Augen öffnen, sicher und geborgen in meinem Bett, an einem sonnigen Frühlingstag
. Oder von mir aus auch im tiefsten Winter. Bloß ohne all die Leichen!
Doch nichts geschah.
Zu meinen Füßen lag Thessalos, den ich einen Freund genannt hatte. Dem ich mein Leben verdankte. Der liebenswürdige und so kunstfertige Arzt – hingemeuchelt von dieser mörderischen Bestie, deren höchstes Streben es anscheinend war, meine gesamte Gästeschar ums Leben zu bringen.
Wir eilten hinüber in das Zimmer, das direkt an den Gebetsraum der Christen angrenzte. Das großzügige Gemach, in dem ich Paulus und seine Gattin untergebracht hatte.
Ein Teil von mir hoffte noch immer, dass alles nur ein böser Traum war, ein weiteres Trugbild, dem diesmal auch meine Sklaven aufgesessen waren. Doch ich hatte kaum die Schwelle des Zimmers überschritten, als ich diese Hoffnung endgültig begraben musste.
Da lag Philomena, halb auf dem Rücken, halb zur Seite gedreht, auf dem Fußboden vor ihrem Schlafsofa. In ihrem Hals klaffte eine tödliche Wunde.
Ich sah mich um, konnte jedoch keine Waffe entdecken. Sie hatte sich also nicht selbst gerichtet, nachdem sie Thessalos ermordet hatte. Sie war nicht unsere Mörderin – nur ein weiteres Opfer. Genau wie der beklagenswerte Medicus.
Direkt neben mir schrie Layla plötzlich auf.
Im nächsten Augenblick lag sie in meinen Armen, den Kopf an meine Brust gedrückt, den Blick abgewandt von Philomenas totem Körper.
Eine seltsame Gefühlsaufwallung ergriff von mir Besitz. Da war Sorge um meine geliebte Nubierin, aber gleichzeitig Freude darüber, dass sie sich in meine Arme geflüchtet hatte – nicht in diejenigen des Legaten, der nur ein paar Schritte entfernt stand.
"Was ist dir?", flüsterte ich ihr ins Ohr.
Zaghaft hob sie den Kopf von meiner Brust und schielte zu Philomenas Leiche hinüber. Im nächsten Augenblick löste sie sich auch schon von mir und trippelte unsicher auf die Tote zu. Sie starrte auf den Leichnam, blinzelte, rieb sich die Augen.
"Es ist nichts", sagte sie matt. "Ich dachte, ich hätte etwas gesehen ... aber es war wohl bloß ein weiteres Trugbild."
"Was war es denn?", fragte Marcellus. Er trat neben sie hin und legte nun seinerseits den Arm um sie.
Sie blickte erst ihn an, dann mich, ihre Augen dunkel und groß und mit namenloser Furcht darin – was wahrlich nicht oft vorkam. "Ich dachte, ich hätte einen Dämon gesehen", flüsterte sie. "Ein dunkles Untier, das auf Philomenas Schulter kauerte und ihr Blut schlürfte. Doch jetzt ist es verschwunden. Was ist nur mit uns, Thanar?" Flehend blickte sie mich an, kniff dann die Augen zu und schüttelte den Kopf. Als könnte ihr das helfen, den schrecklichen Fluch abzuschütteln, der unsere Sinne gefangen hielt.
Ein eisiger Schauer lief mir den Rücken hinab. Ich suchte nach tröstenden Worten, mit denen ich Layla aufmuntern konnte, doch nicht eine Silbe wollte über meine Lippen kommen. Meine Kehle war rau wie die eines Verdurstenden, der durch eine Wüste irrte.
Einer nach dem anderen drängten nun die Gäste meines Hauses in den Raum – diejenigen, die noch am Leben waren. Das Geschrei meiner Sklaven hatte sie wohl allesamt alarmiert. Flamma und Morann kamen zusammen angelaufen, gefolgt von Caecilia, Severus samt seinen Legionären und schließlich den keltischen Zwillingen. Sie drängten ins Zimmer, doch das war viel zu klein, um sie alle aufzunehmen.
Flamma brauste auf, als ihm klar wurde, um wen es sich bei der Toten handelte. Seine Augen loderten vor Zorn – und wäre nicht Marcellus beherzt dazwischen gegangen, so wäre es zu einem Handgemenge gekommen. Ich konnte nicht ausmachen, auf wen Flamma eigentlich losgehen wollte. Galt sein Zorn Severus oder den Keltenkriegern?
Marcellus jedenfalls baute sich unerschrocken vor dem Hünen auf – mit all der Autorität, die einem Legaten des Imperiums gebührte. "Wage es nicht, Flamma!", rief er. "Das Gesetz liegt in meinen Händen. Ausschließlich den meinen! Die Bestie, die hier gewütet hat, wird ihrer gerechten Strafe nicht entgehen. Aber dieses Recht und diese Pflicht fallen mir zu, niemandem sonst. Haben wir uns verstanden?"
Ich bewunderte Marcellus für diesen Heldenmut. Wie furchtlos er dem ehemaligen Gladiator die Stirn bot. Doch es entging mir nicht, dass er dafür all seine Kraft aufbieten musste. Er wirkte müde, benommen, war nur ein Schatten des imposanten Feldherrn, den ich sonst kannte.
Flammas Fäuste waren noch immer geballt. Einen endlosen Augenblick lang starrte er auf Marcellus hinab, als male er sich soeben aus, wie er ihn am qualvollsten töten sollte. Doch schließlich ließ er die Hände sinken, atmete tief ein – und trat respektvoll einen Schritt zurück.
Severus und die Kelten entspannten sich daraufhin ebenfalls. Die Hand des Centurio war bereits zum Schwert an seinem Gürtel gewandert, und auch die Kelten wären zweifellos bereit gewesen, sich mit Flamma in einen Kampf auf Leben oder Tod zu stürzen.
Marcellus schickte alle zurück auf ihre Zimmer, wie ein Familienvater, der seinen störrischen Nachwuchs maßregelte. Murrend und leise fluchend, doch ansonsten widerstandslos, gehorchten die Männer. Gemeinsam mit Caecilia und Morann zogen sie ab.
Ich kehrte zurück in den Gebetsraum, zur Leiche des Medicus, und entfernte vorsichtig die Klinge aus seinem Leib. Ich besah sie mir genauer.
Es verhielt sich so, wie ich es schon beim ersten Anblick dieser Waffe befürchtet hatte. Es war einer meiner eigenen Dolche, wie ich sie in meiner Waffenkammer lagerte. Unversperrt und für jeden zugänglich. Schließlich war ich nicht auf einen Mörder in meinen eigenen vier Wänden vorbereitet gewesen.
Die Klinge würde mir nicht verraten, wer sie geführt hatte, ob Kelte, Christ oder Römer. Jeder konnte sich ihrer bedient haben. Wir hatten zwei weitere Tote zu beklagen, und waren dem Mörder doch keinen Schritt näher gekommen.