XXVII.
Ratlos angesichts der jüngsten Ereignisse beschlossen wir, unsere Verhöre fortzusetzen. Immerhin war es jetzt ein kleinerer Kreis von Verdächtigen, die noch übrigblieben, wie Marcellus grimmig anmerkte.
Zunächst jedoch befragte ich meine Sklaven und Diener, wann Thessalos und Philomena zuletzt lebend gesehen worden waren.
Ein Bursche hatte den Medicus schlafend – aber lebendig – vorgefunden, als er ihn zum Abendessen hatte holen wollen. Er entschied sich, den Arzt nicht zu wecken, sondern später noch einmal nach ihm zu sehen.
Thessalos musste also innerhalb der letzten Stunde ermordet worden sein, während meine Freunde und ich zu Abend gegessen und Spekulationen zu den Morden angestellt hatten. Ebenso verhielt es sich mit Philomena. Auch sie war kurz zuvor noch lebend gesehen worden.
Wir kehrten in das Speisezimmer zurück, das wir bereits am Nachmittag für das Gespräch mit Caecilia genutzt hatten. Marcellus schickte einen Sklaven aus, mit dem Auftrag, Severus, den Centurio, zu uns zu bringen. Ihn wollten wir als Nächstes verhören.
Während wir auf ihn warteten, nutzten wir die Zeit, die beiden jüngsten Morde zu diskutierten.
Wie nüchtern sich das anhört. Dabei weiß ich noch, dass ich vor lauter Übelkeit und Beklemmung kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Und was Layla und Marcellus anging, so wirkten sie in keiner besseren Verfassung als ich selbst. Dennoch gaben wir alle unser Bestes, uns zu konzentrieren. Wir mussten
eine Lösung finden.
Unsere Gedanken kreisten um zwei mögliche Theorien. Erstens: Thessalos oder Philomena – womöglich auch beide gemeinsam, obwohl wir keinerlei Verbindung zwischen dem Arzt und Paulus´ Witwe erkennen konnten – hatte die ersten beiden Morde begangen. Dass sie nun ihrerseits ihr Leben lassen mussten, war in diesem Fall womöglich ein Racheakt gewesen. Ausgeführt von einem der Christen oder Kelten.
Oder zweitens: Die beiden waren unschuldig an den ersten beiden Freveltaten, waren dem Mörder aber aus irgendeinem Grund in die Quere gekommen.
"Ich denke, es hat sich folgendermaßen abgespielt", sagte ich. "Thessalos kam am frühen Abend zu Bewusstsein. Er erinnerte sich, dass wir ihm von zwei Todesfällen in der Nacht berichtet hatten. Er verließ sein Schlafquartier und begab sich auf direktem Wege in den Gebetsraum der Christen, um sich Paulus´ Leiche näher zu besehen. Und genau das wollte der Mörder verhindern. Thessalos hätte sicherlich herausfinden können, woran Paulus nun wirklich gestorben ist. Der Mörder lauerte dem Medicus auf und stach ihn nieder. Bestimmt war Thessalos noch sehr schwach und somit praktisch wehrlos."
"Und Philomena?", wandte Marcellus ein. "Sie muss doch vor dem Medicus gestorben sein – wenn wir annehmen, dass der Mörder beide mit dem gleichen Dolch tötete. Die Waffe hinterließ er ja dann in der Brust des Arztes."
"In welcher Reihenfolge die beiden ermordet wurden, können wir nicht wissen", wandte Layla ein. "Vielleicht besitzt der Mörder mehr als nur eine Waffe? Aber ich denke, weder Thessalos noch Philomena wurden transportiert. Sie wurden dort überfallen, wo wir ihre Leichen fanden. Beide lagen in einer Lache ihres eigenen Blutes, und es gab keine sonstigen Blutspuren. Weder in den Zimmern, noch auf dem Gang davor."
"Richtig", sagte ich. Diese Beobachtung hatte ich ebenfalls gemacht – und die gleichen Schlüsse daraus gezogen.
Marcellus ergriff erneut das Wort: "Welchen Unterschied sollte es machen, woran Paulus nun tatsächlich gestorben ist? Wir wissen doch bereits, dass er nicht erdolcht wurde. Wir waren uns so gut wie sicher, dass er durch Gift umgekommen sein muss. Wie denn auch sonst, wenn er keine sichtbaren Verletzungen hat? Und das hat sich bestimmt schon im ganzen Haus herumgesprochen. Wir haben ja kein Geheimnis daraus gemacht. Lohnte es sich also wirklich, Thessalos deswegen zu töten? Einen weiteren Mord zu riskieren, bloß um den Medicus von einer näheren Untersuchung des Leichnams abzuhalten? Das scheint mir unsinnig."
"Womöglich ist es wichtig, durch welches
Gift Paulus starb", wandte ich ein. "Vielleicht weist es auf den Mörder hin oder könnte uns wenigstens einen entscheidenden Hinweis liefern."
"Muss wohl so sein", sagte Marcellus. "Oder diese Bestie hat einfach Spaß am Töten. Wie abscheulich!"
In diesem Augenblick betrat Severus das Zimmer. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen von dunklen Ringen umgeben. Wie wir alle schien er unter dem Fluch der Götter zu leiden, der über uns gekommen war. Und geschlafen hatte er wohl auch schon länger nicht mehr.
Wir begannen damit, ihn nach den Wegen und Taten des Thessalos in der gestrigen Nacht zu befragen. Schließlich hatte er mit dem Medicus das Schlafquartier geteilt. Würde er uns Auskunft geben können, wie der Arzt sich in den Peristylgarten verirrt hatte, wo er beinahe erfroren wäre?
"Thessalos riss mich aus dem Schlaf", gab Severus an. "Es muss vielleicht eine halbe Stunde vor dem Aufruhr gewesen sein, als man die Morde entdeckte. Er faselte wirres Zeug. Von irgendeinem Wesen, das ihm nicht entwischen durfte. Was war es noch? Ein Mantikor? Nein, wartet, ein Greif? Ja, genau. Mit diesen Worten rannte er aus dem Zimmer. Ich bin gleich wieder eingeschlafen, nachdem er fort war."
"Er verließ also das Zimmer, mitten in der Nacht? Nachdem er bereits geschlafen hatte?"
"Ja, er hat sich früh hingelegt. Litt unter Übelkeit. Ihm bekam der Aufenthalt hier nicht", sagte Severus, mit einem Seitenblick, der eindeutig mir galt. "Wie uns allen. Wann werden wir nach Vindobona zurückkehren, Legat? Siehst du es denn nicht selbst? Dieses Haus ist verflucht. Voller Dämonen und böser Geister, die sich um diese Gottlosen scharen. Sie betören unsere Sinne, wollen sich unserer Seelen bemächtigen. Mit ihren dunklen Zaubern machen sie uns kampfunfähig."
"Lass gut sein, Severus", sagte der Legat matt. "Schluss mit dem Gejammer!"
Doch der Centurio ließ sich nicht beirren. Die Furcht, die ihn quälte, schien ihn den gebührlichen Respekt vor seinem Kommandanten vergessen zu lassen. "Sie werden uns der Reihe nach abschlachten", rief er inbrünstig, "wenn wir nicht von hier verschwinden! Thessalos war bloß der Erste aus unseren Reihen, den sie sich holten. Das schwächste Glied. Ohne Kampferfahrung. Auch wenn er ein tapferer Bursche war", fügte er rasch hinzu. Auf die Männer der Legion ließ er wohl nichts kommen.
Er sprach rasch, redete sich immer weiter in Rage. Schließlich starrte er Marcellus mit herausfordernder Miene an: "Sieh dich doch an, Legat! Du bist auch nur noch ein Schatten deiner selbst! Meine Männer und ich können dich nicht schützen – nicht hier an diesem verfluchten Ort. Du weißt, dass wir für dich sterben würden, im Kampf Mann gegen Mann! Aber gegen diese Mächte sind wir –"
Marcellus hob die Hand und gebot dem Redeschwall seines Centurios Einhalt. "Du vergisst dich, Severus!"
Unter normalen Umständen hätte der Legat eine solche Respektlosigkeit seines Untergebenen niemals durchgehen lassen. Doch jetzt sagte er lediglich – und das mit kraftloser Stimme: "Kommen wir auf Thessalos zurück. Berichte weiter, Severus."
Was den Zustand meines Freundes anbelangte, musste ich dem rebellischen Centurio leider recht geben. Um Marcellus´ Kräfte war es nicht gut bestellt. Und wir anderen waren kaum besser dran. Das ließ sich nicht leugnen. Aber nichts und niemand würde mich dazu bringen, aus meinem eigenen Haus zu fliehen! Wir werden diesen Mörder zur Strecke bringen, und wenn es unsere letzte Tat ist
, sagte ich mir mit grimmiger Entschlossenheit.
Der Centurio funkelte Marcellus wütend an, doch schließlich fügte er sich. "Wie du befiehlst, Legat." Er schnalzte abfällig mit der Zunge. "Also, wie ich schon sagte: Etwas riss den Medicus aus dem Schlaf, er murmelte wirres Zeug von einem Greif, dann kleidete er sich hastig an und stürmte aus dem Zimmer. Das war das Letzte, was ich von ihm sah, in dieser Nacht. In diesem Leben", korrigierte er sich.
Von dem Greif hatte Thessalos noch fantasiert, als wir ihn heute Morgen halb erfroren gefunden hatten. War ihm dieser legendäre Vogel erschienen wie mir meine verstorbene Ehefrau? So wie Layla sich den Liebesakt mit mir einbildete, und sie gemeinsam mit Marcellus den Boten des Christengottes in ihrem Schlafzimmer zu sehen glaubte?
Thessalos mochte vor dem Greif geflohen sein oder ihm nachgestellt haben. Dabei war er wohl in den Garten gelaufen, mitten hinein in den Schneesturm.
Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich so abgespielt hatte. Doch warum hatte der Mörder Thessalos nach dem Leben getrachtet? Darauf gab es nach wie vor keine Antwort.
Ich versuchte, mich wieder auf das Verhör des Centurio zu konzentrieren. "Du warst also allein im Raum, nachdem Thessalos verschwunden war, ist das korrekt?", fragte ich ihn. "Sagen wir, eine halbe Stunde lang, bis die Morde entdeckt wurden?"
Er schien nicht zu begreifen, warum ich das wissen wollte. Doch als ich weitersprach und ihn befragte, wo und wie er den heutigen Tag zugebracht hatte, bis zu dem Zeitpunkt, als wir Thessalos´ und Philomenas Leichen gefunden hatten, da ging ihm wohl endlich ein Licht auf.
Anstatt mir Rede und Antwort zu stehen, wandte er sich erneut an Marcellus. "Stehe ich hier vor Gericht, Legat? Werde ich eines Verbrechens angeklagt, von deinem ... germanischen Freund?" Er warf mir einen abschätzigen Blick zu.
"Antworte einfach auf die Frage", befahl ihm Marcellus. "Niemand klagt dich an."
Noch nicht
, fügte ich in Gedanken hinzu. Das selbstgerechte Benehmen des Centurio machte mich langsam wütend.
"Ich verbrachte heute die meiste Zeit mit meinen Männern", sagte er schließlich – an Marcellus gewandt. Ich hätte genauso gut Luft sein können. "Wir waren draußen, um zu sehen, ob wir uns einen Weg durch den Schnee bahnen könnten. Du musst nur noch den Befehl zum Aufbruch geben, Legat. Es schneit nicht mehr, und wenn wir alle zusammenarbeiten, mit den Sklaven dieses Hauses, dann sollte uns die Rückkehr ins Lager gelingen."