XXX.                 
Kykeon . Dieses todbringende Rauschmittel sollte also der Schlüssel zu dem grässlichen Fluch sein, der auf meinem Haus lastete. Es hatte uns Dinge sehen lassen, die nicht existierten. Unsere geheimsten Träume, aber auch unsere größten Ängste waren vor unseren Augen Wirklichkeit geworden. Und womöglich hatte eine übergroße Dosis dieses Giftes Paulus das Leben gekostet.
Natürlich war es besser, es mit einem Mörder aufzunehmen, der das Geheimnis eines solchen Tranks kannte, als sich gegen einen Fluch der ewigen Götter zur Wehr setzen zu müssen. Dennoch war mir nach dem Gespräch mit Morann, als habe sich Wodan persönlich, Gott des Krieges und des Todes, als unser Feind entpuppt. Wie gelähmt saß ich da, nachdem die Druidin – und Flamma – den Raum verlassen hatten.  
Laylas Augen waren geweitet, doch ob aus Angst oder vor hoffnungsvoller Erregung, weil wir endlich einen Schritt weitergekommen waren, vermochte ich nicht zu sagen. "Was denkst du, Thanar? Wer von deinen Gästen könnte Kenntnis haben von diesem Kykeon-Trank?", fragte sie.
"Divicia natürlich", erwiderte ich, "aber die starb, kurz nachdem wir erstmalig dem Rausch verfielen. Sie könnte uns anfangs vergiftet haben, doch dann würde die Wirkung nicht immer noch anhalten, nicht wahr?"
"Morann scheint auch recht gut Bescheid zu wissen", sagte Marcellus, "auch wenn sie schwören mag, die Rezeptur nicht zu kennen. Sie war immerhin Divicias liebste Schülerin."
"Sie hätte uns doch aber nicht von diesem Trank erzählt, wenn sie selbst ihn gegen uns eingesetzt hätte, oder?", wandte ich ein.
"Das könnte eine Finte sein", sagte Marcellus. "Diese Zauberinnen, Kräuterweiber, Giftmischerinnen ... sie sind schlau. Und hinterhältig."
"Die Druidinnen setzen ihre Kräfte zum Wohle der Menschen ein", protestiere Layla. "Davon sprach Divicia mehrmals zu mir, als sie noch unter uns weilte. Sie heilen anstatt zu schaden."
"Das dachte ich auch", brummte Marcellus. "Wenigstens von Divicia. Aber ihre Schülerin ... kennen wir diese Frau wirklich? Vielleicht ist es Moranns sehnlichster Wunsch, selbst zur Oberpriesterin ihres Volkes aufzusteigen. Vielleicht musste Divicia deswegen sterben? Und der Christ war nur ein zufälliges Opfer ihres dämonischen Zaubertranks?"
Layla antwortete nicht. Sie schien plötzlich in eine dunkle Grübelei versunken.
"Was ist?", fragte Marcellus irritiert.
Sie hob den Kopf. Ihre Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt, die wie zwei Kohlestücke glänzten. "Mir ist gerade etwas eingefallen", sagte sie mit seltsam veränderter Stimme. "Aber bestimmt hat es nichts zu bedeuten."
"So sprich doch", sagte Marcellus.
"Die Frau des Severus, deines Centurios ... Ich habe mich gerade daran erinnert, dass ich sie kenne. Nicht besonders gut, ich bin ihr höchstens zwei oder drei Mal begegnet. Einmal im Amphitheater, ein zweites Mal in der Therme der Zivilstadt ..."
"Ja und?", fragte Marcellus.
"Sie ist eine Hebamme, mein Legat. Eine Heilkundige, die sich mit Kräutern und Tränken auskennt, mit Zaubern, die Schmerzen und Krämpfe lindern. Aber auch mit jener Art von Giften, die es einer Frau erlauben, eine unerwünschte Leibesfrucht ins Totenreich zu befördern!"
"Was willst du damit sagen?", brauste Marcellus auf. "Dass Severus sich dieses Wissens bedient haben könnte, um diesen Todestrank zu brauen? Und dass er diesen wahl- und skrupellos gegen uns alle eingesetzt hat? Mich eingeschlossen, seinen Legaten?"
Er stockte. In seinem jäh aufgeflammten Zorn schien er nicht die rechten Worte zu finden, um seinen Centurio gegen die Anschuldigungen zu verteidigen. Oder war er am Ende nicht mehr ganz so überzeugt von der Unschuld dieses Mannes?
"Ich sagte doch, dass es bestimmt nichts zu bedeuten hat", versuchte Layla ihn zu besänftigen. "Das mit seiner Gattin fiel mir nur gerade ein."
Marcellus wollte etwas erwidern, doch ich hob meine Hand. "Warte", rief ich, dann schwieg und lauschte ich. Ich hatte ein Geräusch vernommen, draußen auf dem Flur. Schritte, die sich rasch entfernten.
Ich eilte zur Tür, riss sie auf. Am Ende des Ganges tauchte einer meiner Sklaven auf. Er war nicht im Begriff, zu verschwinden, sondern er kam auf mich zu. Außerdem lief er barfuß. Es konnten nicht seine Schritte gewesen sein, die ich vernommen hatte.
Der Bursche war mit mehreren Amphoren beladen. Anscheinend war er gerade im Begriff, mich und meine Gäste mit neuem Wein zu versorgen. Womit er uns – unwissend, aber deswegen nicht minder wirksam – aufs Neue berauschen würde und unser aller Leben in Gefahr brachte. Jede dieser Amphoren konnte eine neue Dosis Kykeon enthalten.
"Hast du jemanden gesehen? Hier vor der Tür?", fragte ich ihn unwirsch.
Er zuckte erschrocken zusammen, ließ beinahe eine der Amphoren fallen.
Ich hielte inne und mäßigte meinen Tonfall. Den armen Burschen traf keinerlei Schuld – weder an der Tatsache, dass ich einen Giftmischer unter meinem Dach beherbergte, noch daran, dass womöglich jemand an der Tür gelauscht hatte.
Ich erklärte dem Mann, dass ich Schritte vernommen hatte und dass es wohl nur seiner Ankunft zu verdanken war, dass der Lauscher sich aus dem Staub gemacht hatte.
"Es tut mir leid, Herr. Ich habe niemand gesehen", beteuerte er. Wobei er den Kopf senkte, als habe er sich einer schweren Verfehlung schuldig gemacht. "Soll eine Wache postiert werden, Herr?"
"Nein. Schon gut. Vielleicht war es ja bloß irgendeine neugierige Seele." Schon unter normalen Umständen ertappte ich immer wieder einmal einen meiner Diener oder Knechte mit seinem Ohr an einer Tür. Was ich eher leicht nahm und niemals bestrafte. Hausgesinde war nun einmal neugierig, liebte es zu spionieren. Das war schon immer so gewesen.
Ich entließ den Burschen also, nicht jedoch, bevor ich ihm neue Anweisungen betreffend die Versorgung meiner Gäste erteilt hatte. "Ab jetzt nur noch Wasser, frisch aus dem Brunnen geschöpft", trug ich ihm auf. "Und sag den anderen ebenfalls Bescheid. Außerdem sollen Wachposten am Brunnen postiert werden, bei den Vorratskammern und vor der Küche!"
Der Bursche sah alarmiert drein, schwor mir aber, dass er sich sogleich um alles kümmern werde. Damit huschte er davon.
"Wir wurden belauscht?", fragte Marcellus, als ich in den Raum zurückkehrte.
"Ich fürchte, ja. Auch wenn ich nicht zu sagen vermag, wie lange schon."
"Nun, wenn es dieser Meuchelmörder war, so soll er ruhig Bescheid wissen, dass er ab nun kein so leichtes Spiel mehr mit uns haben wird", sagte er grimmig.
Ich nickte wortlos. Ich kann nicht behaupten, dass ich Marcellus´ Optimismus teilte. "Es ist spät geworden", sagte ich matt.
"Du hast Recht, Freund. Machen wir morgen weiter", schlug Marcellus vor. "Wenn die Wirkung dieses verderbten Trankes abgeebbt ist, der einem Mann den Willen und die Sinne raubt. Wie abscheulich. Nur ein Feigling führt so einen Kampf!"
Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. "Wenn ich diesen Mörder in die Finger kriege, wird er sich wünschen, von den Bestien in der Arena zerrissen zu werden. Aber diese Gnade wird er nicht erfahren!"
Er sprang auf, griff nach Laylas Hand und zog sie mit sich. "Legen wir uns schlafen, Thanar. Mit nichts als Brunnenwasser zum Nachttrunk sollten wir morgen früh wieder wir selbst sein. Und dann ..." Er ließ die Drohung gegen den Unbekannten, der uns so übel mitgespielt hatte, unvollendet im Raum stehen.
Er legte seinen Arm um Layla, stützte sich aber gleichzeitig schwer auf ihre zarten Schultern. Zwei Nächte unter dem Einfluss des widerwärtigen Rauschmittels, mit dem wir alle vergiftet worden waren, forderten ihren Tribut. Marcellus´ Kampfgeist mochte ungebrochen sein, aber er verließ den Raum mit den Schritten eines müden alten Mannes.
Layla drehte sich an der Schwelle noch einmal zu mir um. Unsere Blicke begegneten sich, aber es war unmöglich zu deuten, was in ihrem Kopf vorging. Sehnte sie sich danach, die Nacht in meinen Armen zu verbringen – wie es ihr der Rauschtrank des Mörders letzte Nacht vorgegaukelt hatte? Bereute sie es schon, dass sie Marcellus zu ihrem Geliebten gemacht hatte? Meine schwarze Sphinx, sie war so undurchsichtig, so geheimnisvoll. Sie betörte mich wie eine Zauberin, verwirrte meine Sinne nicht weniger als jener tückische Trank des Mörders.
Ich begleitete die beiden noch bis zu dem Zimmer, das ich Marcellus als Schlafgemach überlassen hatte. Er wünschte mir mit knappen Worten gute Nacht, dann verschwand er gemeinsam mit Layla. Die Tür fiel geräuschvoll hinter ihnen zu, und ich blieb allein auf dem Flur zurück. Allein und plötzlich sehr einsam.
Marcellus hatte es unterlassen, seine Männer zu sich zu rufen und sie für die Nachtwache einzuteilen. Baute er darauf, dass Severus sich darum kümmern würde? Oder traf das Gegenteil zu? Vertraute er nicht einmal mehr seinen eigenen Soldaten und gab daher keinen Deut auf ihren nächtlichen Wachdienst?
Ich fragte ihn nicht danach. Ich kehrte in mein eigenes Zimmer zurück und warf mich erschöpft auf meine Liege.