Selbstkonsistenz in Kinofilmen
HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN
Der erste hier betrachtete Film ist die Fantasy-Literatur-Adaption HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN von Alfonso Cuaròn. In diesem dritten Teil der Harry Potter-Heptalogie kehrt Harry zu seinem dritten Schuljahr nach Hogwarts zurück. Der berüchtigte Massenmörder Sirius Black ist aus dem Zauberergefängnis entkommen und scheinbar auf der Jagd nach Harry. Harry und seine Freunde Ron und Hermine decken jedoch die Wahrheit auf: Sirius Black ist unschuldig. Die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, hat ein anderer begangen. Um Sirius das Leben zu retten, machen Harry und Hermine mit Hermines magischem Zeitumkehrer eine Zeitreise, während derer sie die Hinrichtung des Hippogreifs (Fabelwesen, halb Pferd, halb Greifvogel) Seidenschnabel verhindern und es Sirius ermöglichen, auf dem Rücken des Hippogreifs zu fliehen.
Originaltitel: |
HARRY POTTER AND PRISONER OF AZKABAN |
Produktionsland: |
UK |
Produktionsjahr: |
2004 |
Dauer: |
136 Minuten |
Verleih: |
Warner Bros. |
Regisseur: |
Alfonso Cuaròn |
Drehbuch: |
Steve Kloves |
Hauptdarsteller: |
Daniel Radcliffe (Harry Potter), Emma Watson (Hermine Granger), Rupert Grint (Ron Weasley) |
Produktion: |
David Heyman, Chris Columbus, Mark Radcliffe |
HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN spielt in einem selbstkonsistenten Universum. Erkennbar ist dies am Vorhandensein von mehreren Verknüpfungen zwischen zwei Zeitebenen. Diese Verknüpfungen werden in mehreren Szenen vor der Zeitreisesequenz dargestellt und sind dem Zuschauer zunächst rätselhaft. Erst während der Zeitreise erklären sich diese Verknüpfungen.
Derartige Überschneidungen der Zeitebenen sind nur in einem selbstkonsistenten Universum möglich, in dem die Konsequenzen der Zeitreise bereits vor Antritt der Zeitreise aktiv sind.
Der Zuschauer beobachtet Harry am Ufer des Sees. Er versucht vergeblich mit einem Patronus-Zauber die Dementoren (Wächter des Zauberergefängnisses) zu vertreiben, die ihn und seinen Paten Sirius einkreisen. Kurz bevor Harry das Bewusstsein verliert, sieht er auf der anderen Seite des Sees eine Person stehen, die einen mächtigen Patronus heraufbeschwört. Dieser Patronus verjagt die Dementoren und rettet Harry und Sirius so das Leben. Während der Zeitreise, die Harry und Hermine im Anschluss an das Ereignis am See unternehmen, klärt sich auf, dass Harry selbst den mächtigen Patronus heraufbeschworen hat. Er hat sich selbst durch die Zeitreise das Leben gerettet.
Ein solches Geschehen ist nur innerhalb eines selbstkonsistenten Universums möglich. In einem solchen können während einer Zeitreise nur Dinge verändert werden, die keine Kausalitätsverletzungen bewirken. Folglich war die Rettung durch den Patronus bereits Teil der Vergangenheit, bevor Harry die Zeitreise antrat. Auf diese Weise entsteht eine Dauerschleife, in der Harry sich immer wieder selbst das Leben rettet und so dafür sorgt, dass die Zeitreise stattfinden kann. Wo diese Dauerschleife ihren Ursprung hat, kann nicht geklärt werden. Es handelt sich um einen selbstkonsistenten, in sich geschlossenen Dauerkreislauf.
Abbildung Nr. 6 visualisiert die Zeitreisestruktur in HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN.
Abb. 6: Dauerkreislauf in HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN
Der Zuschauer beobachtet das Geschehen auf der ersten Zeit- bzw. Handlungsebene. Am Ufer des Sees rettet ein Patronus-Zauber Harry und Sirius vor den Dementoren. Wer den Zauber heraufbeschworen hat, ist nicht zu sehen. Nach diesem Ereignis erwacht Harry im Krankenflügel und unternimmt mit Hermine eine Zeitreise, die sie drei Stunden in die Vergangenheit führt. Während der Zeitreise beschwört Harry selbst den Patronus. Harry und Hermine kehren durch den natürlichen Zeitfluss wieder auf die erste Zeitebene zurück. Zurück im Krankenflügel beobachten sie, wie ihre anderen Ichs Hermines Zeitumkehrer benutzen und sich scheinbar in Luft auflösen.
Abb. 7: Berührungspunkte der zwei Zeitebenen in HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN
Abbildung Nr. 7 illustriert die beiden Zeit- bzw. Handlungsebenen in HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN.
Die beiden Ebenen werden durch vier Berührungspunkte miteinander verbunden:
Den ersten Berührungspunkt stellen die durch Hagrids Fenster fliegenden Steine dar. Während Harry, Ron und Hermine bei Hagrid sind und ihm vor Seidenschnabels Hinrichtung Mut machen wollen, fliegen plötzlich zwei Steine durch das offene Fenster. Harry dreht sich um, um den Urheber der fliegenden Steine auszumachen. Dabei entdeckt er, dass der Zaubereiminister, Professor Dumbledore und der Henker bereits auf dem Weg zur Hütte sind und sich die drei Freunde schleunigst auf den Weg machen müssen, da sie zu so später Stunde nicht mehr auf dem Gelände sein dürfen. Während der Zeitreise begeben sich Harry und Hermine wieder zu Hagrid und erkennen, dass sie Seidenschnabel retten können. Sie beobachten sich selbst auf der ersten Zeitschiene in Hagrids Hütte und wundern sich, dass sie nicht gehen, obwohl die Ausschussmitglieder bereits auf dem Weg zur Hütte sind. Daraufhin wirft Hermine die zwei Steine. Als sie sehen, dass ihre anderen Ichs die Hütte verlassen, verstecken sie sich im Wald.
Der zweite Berührungspunkt folgt sehr schnell, als Hermine auf der ersten Zeitschiene, nachdem sie Hagrids Hüte verlassen haben, ein Knacken im Wald hört. Urheberin des Geräusches ist sie selbst auf der zweiten Zeitschiene. Während sie sich mit Harry hinter Bäumen versteckt, schiebt sie einen Ast beiseite und begutachtet die Frisur ihres zweiten Selbst, wobei sie versehentlich einen Ast zerbricht.
Hermine verursacht das Knacken im Wald (HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN).
Auch für die dritte Verknüpfung ist Hermine verantwortlich. Auf der ersten Zeitschiene ist ein vermeintlicher Werwolf-Ruf zu hören, als Professor Lupin Harry angreifen will. Dass der Urheber ein Mensch ist und kein Werwolf, kann aufgrund des unterschiedlichen Klangs der Rufe bereits vermutet werden. Als Harry und Hermine Professor Lupins Verwandlung auf der zweiten Zeitebene beobachten, stößt Hermine den vermeintlichen Werwolf-Ruf aus, der Professor Lupin veranlasst, von Harry auf der ersten Zeitschiene abzulassen und in den Wald zu laufen. Im Unterricht hatte Hermine gesagt, dass ein Werwolf nur den Rufen anderer Werwölfe folge.
Der Patronus, der Harry und Sirius am Ufer des Sees vor den Dementoren rettet, ist der vierte und letzte Berührungspunkt der beiden Zeitebenen. Auf der ersten Zeitschiene versucht Harry mit einem Patronus die Dementoren von sich und Sirius fernzuhalten, doch sein Zauber ist nicht stark genug. Als die Dementoren sich zu ihrem endgültigen Angriff formieren, erblickt Harry einen Patronus in Gestalt eines silbernen Hirsches auf der anderen Uferseite. Der Hirsch-Patronus bricht in große Lichtwellen auf, ein sehr starker Zauber, der die Dementoren verjagt. Harry erblickt, kurz bevor er das Bewusstsein verliert, die Person, die den Patronus herauf beschworen hat, kann sie jedoch nicht genau erkennen. Auf der zweiten Zeitschiene beobachten Harry und Hermine den Angriff der Dementoren von der anderen Seeseite aus. Harry ist überzeugt, in der Person, die den Patronus bewirkt hat, seinen Vater erkannt zu haben. Erst als Hermine ihm zuruft, dass er und Sirius sterben werden, erkennt Harry seinen Irrtum und läuft zum Ufer, um den Patronus selbst zu beschwören.
Harry beschwört den Patronus herauf (HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN).
Das Modell des selbstkonsistenten Universums ermöglicht in HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN eine non-lineare Erzählstruktur. Denn die Ereignisse vor und während der Zeitreise finden aufgrund der Selbstkonsistenz zeitgleich statt. Der Film präsentiert die Ereignisse jedoch hintereinander, mit Ausnahme der vier Berührungspunkte.
Das Ursache-Wirkungs-Prinzip, welches Bordwell als elementar für narrative Filme erachtet, wird hier im Plot umgekehrt. Die Berührungspunkte werden im Film zwei Mal aus je zwei verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Auf der ersten Zeit- bzw. Handlungsebene sieht der Zuschauer die Wirkung, jedoch nicht die Ursache. Der zweite Blickwinkel, aus Sicht der Zeitreisenden, zeigt die Ursache. Diese Anordnung der Ereignisse lässt den Zuschauer ein sogenanntes »Aha-Erlebnis« erfahren.
Der deutsche Psychologe Karl Bühler definierte ein »Aha-Erlebnis« wie folgt:
»Ein eigenartiges im Denkverlauf auftretendes lustbetontes Erlebnis, das sich bei plötzlicher Einsicht in einen zuerst undurchsichtigen Zusammenhang einstellt.« [16]