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AM NÄCHSTEN MORGEN waren Rake und Dunlow auf der Jagd nach einem entflohenen Sträfling.

Ihre Schicht begann früher als üblich um zehn Uhr morgens wegen eines merkwürdigen Personalwechsels, den keiner so richtig nachvollziehen konnte. Unausgeschlafen und randvoll mit Kaffee waren sie auf der Suche nach einem James James Jameson – sein echter Name –, der am Vortag aus dem Staatsgefängnis in Reidsville geflohen war. Das APD war gerade erst davon unterrichtet worden. »Triple James«, wie ihn die Cops nannten, war vor zwei Jahren wegen versuchten Mordes ins Gefängnis gewandert, als Rake noch ein frustrierter Zivilist gewesen war, der sich mehr schlecht als recht an ein Leben nach dem Krieg und einen Job in einer Textilfabrik gewöhnte. Der Prozess hatte im Mittelpunkt der lokalen Berichterstattung gestanden und war selbst landesweit Thema gewesen, denn im Norden gab es nicht wenige, die den Negro für zu Unrecht verurteilt hielten. Typisch für Leute, die sich aus der Ferne in fremde Angelegenheiten einmischen.

»Der Junge hatte schon Dreck am Stecken, bevor er überhaupt geboren wurde«, sagte Dunlow, als sie durch Nebenstraßen rasten.

»Was sagen die in Reidsville, wie er rausgekommen ist?«

»Die offizielle Version lautet Ausbruch. Schüsse vom Wachturm, aber der flinke Nigger kann entkommen, kennt man ja. Aber ich hab da einen pensionierten Kumpel in der Gegend, und der hat gehört, dass Triple James und ein paar andere Nigger den Highway sauber gemacht haben und nur zwei Aufseher dabei waren. Und einer davon geht spazieren oder so was, und der andere, jetzt der einzige Aufseher, denkt, das wär ein guter Zeitpunkt, um mal den Straßenrand zu gießen. Leider hat er diese Infektion, bei der das Pinkeln ewig dauert. Und wehtut wie die Hölle. Hab ich zumindest gehört. Egal, Triple James hat sich wohl mittlerweile von seinen Fußfesseln befreit – Gott weiß, wie –, und während der Wärter sich mit seinem Ding in der Hand einen abmüht, verabschiedet sich Triple James in die Pinienwälder.«

»Du machst Witze.«

»Mein Sohn, überschätze niemals die Intelligenz unserer Kollegen bei der Polizei.«

»Solange du da bist, wird mir das auch nicht passieren.«

Die Beamten wurden ausgesendet, um zunächst ein paar naheliegende Orte zu überprüfen: die Wohnung der Exfreundin, zuletzt bekannte Geschäftspartner, die armen alten Eltern, Onkel, Tanten, diverse Bekannte. Offenbar wusste Dunlow, dass die Schwester von Triple James gerade erst umgezogen war, behielt die Information aber während der Einsatzbesprechung für sich und ließ auch Rake erst im Wagen davon wissen. Die Schwester wohnte in einem belebten Negro-Viertel ein paar Blocks südlich der Auburn Avenue. Das war das Gute an Dunlows Vorliebe für die farbigen Viertel: Er kannte die Straßen, die Leute und ihre Geschichte. Er konnte die Zukunft mit erstaunlicher Präzision vorhersagen.

Atlanta war eine merkwürdige Stadt, doch diese Merkwürdigkeit lernte Rake erst jetzt nach dem Krieg zu schätzen, denn er war vorher auch nie woanders gewesen. Dennoch kannte er nur Teile der Stadt. Die Hochhäuser Downtowns, die breiten, von Straßenbahnen, Pferdekarren und Taxis verstopften Alleen, kleine, dreieckige Parks an konfusen Kreuzungen, plötzliche Sackgassen, die jeden Neuankömmling aus dem Konzept brachten. Die großen Hotels und Bürogebäude, die stilvollen Theater und die dunklen Lücken dazwischen, enge Gassen, die sich nachts zu gefährlichen Orten wandeln konnten. Während seiner Zeit in Europa hatte er London und Paris kennengelernt und begriffen, wie klein Atlanta dagegen war, doch seine Stadt gab das nicht gerne zu, und tatsächlich schien jedes Jahr ein neues zehn- bis fünfzehnstöckiges Gebäude in der Skyline aufzutauchen. In jede Richtung wichen die Hochhäuser früher oder später Fabriken, Werken oder Eisenbahnlinien, meist umgeben von schäbigen Arbeitersiedlungen. Hinter dieser Grenzlinie aus Barracken drängten sich Shotgun Houses, Bungalows, Häuser im Queen-Anne- oder Tudor-Stil, je nachdem wie wohlhabend das Viertel war. Außerhalb des Stadtzentrums gab es überall Bäume, ein Dach aus Eichenkronen schirmte diesen Teil der Stadt die überwiegende Zeit von der Sonne ab, im Sommer dankte man Gott dafür. Dahinter kam schon die Provinz: Farmland, das ein oder andere Dorf mit einer einzigen Straße, von Eseln gezogene Pflüge, Baumwollplantagen, ein Anblick, der sich über Jahrzehnte nicht verändert hatte. Selbst innerhalb der Stadtgrenzen war Rake auf ländliche Gegenden gestoßen, von denen er gar nicht glauben konnte, dass sie nur ein paar Meilen vom Kapitol entfernt lagen. Baufällige alte Farmen und Ställe samt Vieh, das neugierig seinem Streifenwagen hinterherglotzte.

Die Gegenden östlich und westlich von Downtown waren Rake besonders fremd: die sich wie ein Korridor gen Osten ziehende Auburn Avenue und die West Side, auf der anderen Seite von Downtown, beides Negro-Viertel.

Die Straße, die Dunlow jetzt ansteuerte, lag nur ein paar Blocks südlich der Auburn und wurde von schmalen, zweistöckigen, holzverschalten Reihenhäusern flankiert. Kräuselmyrten welkten in der Hitze, ihre lavendelfarbenen Blüten hingen herunter wie überreife Früchte. Die Wolken verdunkelten den Himmel schon am Morgen und kündigten Regen an.

»Seine Schwester wohnt hier mit ihrem Mann im ersten Stock«, sagte Dunlow.

»Lass mich raten, sie heißt Jamie Jamie Jameson.«

»Sie heißt Belle. Ist erst vor ein paar Wochen hergezogen. Der Ehemann ist mehr oder weniger sauber, zumindest laut Akte. Aber bei so einem Mädel …«

»Was sagt ihre Akte?«

»Hat keine. Aber du kennst doch die Verwandtschaft. Ich klopf mal höflich an die Tür und du schleichst dich hinten rein.«

Die Hintertür. Na großartig. Natürlich war das Überraschungsmoment auf seiner Seite, das konnte ein Vorteil sein, aber Rake hatte oft genug die gegenteilige Erfahrung gemacht. Hintereingänge führten in die Küche, und in der Küche gab es Messer. Erst vor zwei Monaten hatte ein betrunkener Mann, etwa dreißig Kilo schwerer als er, Rake bei einem ähnlichen Hintertür-Manöver in den Arm geschnitten und war erst nach drei Schlägen mit dem Schlagstock zu Boden gegangen.

Niemand war auf dem Bürgersteig, als Rake den engen Weg am Haus entlang unter Wäscheleinen hindurch ging. Keine bellenden Hunde, noch nicht. Hinter dem Haus begrenzte ein alter Holzzaun den Garten, keineswegs in dem Zustand, das Gewicht eines Erwachsenen auszuhalten. Im nicht umzäunten Nachbargarten lagen Kisten und Kartons, also schleppte Rake eine Holzkiste, die nach faulen Pfirsichen roch, zum Zaun. Er stellte sich darauf und in der Sekunde, bevor das nasse Holz unter ihm nachgab, schwang er sich über den Zaun. Er kastrierte sich dabei fast selbst, vermied nur um Haaresbreite eine ernsthafte Verletzung. Die Landung auf dem Hintern wusste er nicht zu vermeiden, zum Glück war kein Publikum anwesend.

Dieser Teil blieb unerwähnt, wenn jemand von der Arbeit eines Polizisten schwärmte. Doch soweit Rake es beurteilen konnte, bestand der Job zu neun Teilen daraus und zu einem Teil aus dem anderen Zeug.

Jetzt war das andere Zeug dran.

Er schlich die Stufen zur Terrasse so leise hoch, wie er nur konnte, was nicht besonders leise war, denn die ächzenden Planken ließen nicht gerne auf sich herumtrampeln. Er hatte so lange gebraucht, dass er Dunlow bereits im Haus wähnte, vermutlich verprügelte er längst grundlos den Schwager von Triple James.

Eine dünne Gardine vor dem Fenster der Hintertür verhinderte, dass Rake mehr erkennen konnte als die Umrisse einer dunkelhäutigen Person in der Küche. Rake klopfte so heftig an der Tür, dass Gegenstände in der Küche wackelten. Die Gestalt drehte sich um.

*

Auf der Vorderseite schlug Dunlow auf die Tür ein, als schuldete sie ihm Geld.

»Polizei, aufmachen!«

Die Tür leistete Widerstand. Er schlug erneut dagegen und sah den Spalt mit jedem Schlag größer werden. Nigger konnten sich einfach keine guten Türen leisten. Sogar diejenigen, die es in die besseren Viertel schafften, hatten dürftige Türen, war ihm aufgefallen. Diejenigen, die sich wie Weiße benahmen, damit man dachte, sie seien was Besseres. Man musste nur an die Tür hämmern, und schnell kam die Wahrheit zum Vorschein.

»Ich komm ja schon, ich komm ja schon«, sagte drinnen ein Mann. Freddie, fiel es Dunlow wieder ein. Er hatte sich vielleicht ein-, zweimal mit ihm unterhalten, nichts Wichtiges, doch den Namen hatte er sich gemerkt. Einen Nigger, der die Schwester eines Mörders heiratet, sollte man im Auge behalten.

Endlich ging die Tür auf, ganz ohne diese lästigen Ketten. Dunlow trat ein wie der Feldherr, als der er sich fühlte.

Freddie war hager und klein. Den haut doch schon ein scharfer Ton um, dachte Dunlow. Wie sich so kleine Leute fortpflanzen und ihre Gene verteilen konnten, war ihm ein Rätsel. So wie dieses ganze Völkchen.

»Freddie, richtig? Freddie, der Mann, der das Herz von Triple James’ Schwester erobert hat.«

Freddie blickte zu Boden. »Was kann ich für Sie tun, Officer?«

Weil der kleine Mann seine Aufmerksamkeit eigentlich nicht verdiente, sah sich Dunlow im Zimmer um. Blitzsauber. Verdächtig sauber. An den Wänden hingen lediglich zwei Fotografien, auf der einen ein strahlendes Negro-Brautpaar und dazu die in Schale geworfene Verwandtschaft. Sah neu aus. Auf dem anderen Bild Freddie in Armee-Hosen. Herrgott, wie Dunlow es hasste, wenn sie Uniformen trugen. Vielleicht fand er ja noch einen Vorwand, das Bild von der Wand zu reißen, bevor er hier fertig war.

Eine Pflanze am Fenster neigte sich in Richtung des dünnen Sonnenstrahls, der sich durch die dicht gedrängten Häuser quetschte. Kein Spielzeug oder schreiende Babys, das stand ihnen also noch bevor. Gläser auf einem ausrangierten Couchtisch in einem engen Zimmer, darin dümpelte etwas vor sich hin, was aussah wie Coca-Cola. Ein elektrischer Ventilator, der ziellos herumstand.

»Du kannst mir ruhig sagen, wo er steckt.«

»Wen meinen Sie, Officer?«

Dunlow holte langsam Luft, was ihn – wie er gehört hatte – größer wirken ließ, vor allem gegenüber kleineren Menschen.

»Du weißt, wen ich suche.«

Freddie ließ seinen Blick hektisch durch den Raum schweifen, doch jedes Mal, wenn er zu Dunlow zurückkehrte, sah er nicht mehr als seine Brust. Hin und wieder schien er auch die Pistole in Dunlows Halfter zu fixieren. Vielleicht hatte Freddie noch nie eine aus der Nähe gesehen. Das bezweifelte Dunlow allerdings.

»Entschuldigen Sie, Officer, ich bin ein wenig verwirrt.«

Dunlow legte seine riesige linke Hand auf die rechte Schulter des Negro. Er spürte, wie Freddies Kapuzenmuskel zuckte.

»Mach seine Probleme nicht zu deinen, Junge.«

Freddie blieb eine Antwort schuldig.

»Was hast du gemacht, bevor ich kam, sag schon? Musst du nicht bei der Arbeit sein?«

»Ich, äh, hab mir freigenommen. Bin nicht ganz gesund.«

»Tatsächlich? Ein Jammer. Hust mir keine Nigger-Keime ins Gesicht, ja?« Dunlow lächelte, doch Freddie schien seinen Sinn für Humor nicht zu teilen.

Rake sollte eigentlich längst die Hintertür eingetreten haben, dachte Dunlow. Er hörte ein Geräusch aus der Küche, ein Klopfen.

»Wer ist das?«

»Meine Frau, Belle. Sie macht mir Mittagessen, Sir.«

»Ist die auch krankgeschrieben, oder was?« Dunlow hatte immer noch die Hand auf Freddies Schulter.

»Ja, Sir, sie kümmert sich um mich.«

»Also mir kommst du nicht krank vor.«

Schweigen. Freddie trug nur ein ärmelloses Unterhemd zu seinen Hosen. Dunlow war in Uniform, und doch schwitzte nur der Negro.

»Na ja, ich habe fast den ganzen Vormittag geschlafen.«

Hinter Freddie war ein enger Flur, dahinter führte eine Tür ins Schlafzimmer. Die Küche lag außer Sichtweite.

Dunlow wurde lauter. »Hör doch mal mit dem Geklopfe da drinnen auf, Belle, und komm ganz langsam und sachte da raus, damit wir uns alle miteinander unterhalten können.«

Das Klopfen hörte auf. Freddie wirkte nervös. Dunlow hatte eigentlich kaum damit gerechnet, dass er Triple James hier antreffen würde, doch die Wahrscheinlichkeit stieg mit jeder Sekunde.

»Du warst also den ganzen Tag zu Hause?«

»Ja, Sir.«

Endlich hörte Dunlow, wie Rake gegen die Hintertür hämmerte.

»Also nur ihr beiden Frischverheirateten, und beide freigenommen heute?«

»Ja, Sir.«

»Dann sag mir, warum da drei Gläser stehen.«

Die Schranktür neben ihm flog auf und traf seinen Ellenbogen. Ein panischer Negro sprang wie ein geölter Blitz heraus, und Dunlow erhaschte nur einen kurzen Blick auf Triple James’ Gesicht, bevor der Sträfling seine knasterprobte Faust geradewegs auf Dunlows Nase setzte.

Dunlow taumelte nach hinten. Mit der Rechten griff er nach seiner Waffe, zog den Hahn mit dem Daumen zurück, doch etwas in seinem Unterarm verkrampfte und hinderte ihn daran, die Pistole aus dem Halfter zu ziehen. Das Taubheitsgefühl stammte von dem Schlag – Jesus, konnte der Nigger zuschlagen – und breitete sich über seinen Nacken bis in seine Hände aus. Dann erwischte ihn Triple James ein zweites Mal.

Dunlow bekam die rechte Hand nicht rechtzeitig hoch, um den Schlag abzuwehren, sonst hätte er seine Waffe Freddie überlassen müssen, der daran zog. Er wich noch weiter zurück und wäre womöglich gestürzt, wäre da nicht – wie vom Himmel geschickt – die Wand gewesen. Mit der Linken schlug er um sich, traf zwar nichts, doch wenigstens brachte er Triple James dazu, dem Schlag auszuweichen.

Das schenkte ihm eine Sekunde, er beugte seine rechte Schulter und rammte den kleinen Freddie vor ihm aus dem Weg. Jetzt standen sich Dunlow und Triple James gegenüber, der entflohene Sträfling hatte die Fäuste oben wie ein gottverdammter Boxer. Leider war Freddie nicht ganz so abgemeldet, wie Dunlow gedacht hatte. Der schwarze Pinsel war zwar zu Boden gegangen, doch er war noch nicht ganz platt. Freddie schnappte nach Dunlows gehalfterter Waffe über ihm und schaffte es irgendwie, den Abzug zu betätigen.

*

Rake wartete darauf, dass die Gestalt die Tür öffnete, als er den Schuss hörte.

Jesus Christus. In seinen wenigen Monaten bei der Polizei hatte er bisher noch nicht ein Mal von der Waffe Gebrauch machen müssen. Außer auf dem Schießstand natürlich. Und er hatte viele qualvolle Jahre lang verschiedenste Waffen in ganz Europa abgefeuert. Doch das hier war das erste Mal, dass er die Dienstwaffe ziehen musste, und das, während er einen Schritt nach hinten tat und all sein Gewicht in einen Tritt gegen die Tür gleich neben der Klinke legte. Der Teil mit dem Tür-Eintreten gelang: Er hatte sie einwandfrei aus den Angeln gehoben. Beim Ziehen der Waffe zögerte er noch. Denn als er die Küche betrat, sah er statt der Gestalt nun einen echten Menschen. Eine dünne, große Negro-Frau, die Haare zum Dutt hochgesteckt. Ihre Augen wirkten größer, als sie es vermutlich normalerweise waren, schließlich brach gerade ein Mann in ihr Haus ein und jemand feuerte eine Waffe ab. Natürlich hatte sie ein scharfes Messer in der Hand. Sie stand vor einem Hackblock, auf dem geviertelte Tomaten im eigenen Saft schimmerten.

Seine Finger berührten den Griff seines Revolvers, doch trotz des Schusses hatte er ihn noch nicht gezogen. Unterschiedlichste Signale duellierten sich in seinem Gehirn, und der Gedanke, auf eine Köchin zu zielen, erschien ihm nicht richtig. Diese Entscheidung sollte er bereuen.

»Hände hoch!«, schrie er.

Sie ließ das Messer fallen – legte es nicht auf die Anrichte, sondern ließ es einfach auf den Boden fallen – und schnappte sich dafür etwas, das wie ein Revolver aussah.

Er hatte ihn übersehen, und jetzt richtete sie ihn auf sein Herz. Er umklammerte den Griff seiner eigenen Waffe und zog sie langsam aus dem Holster, während sich kalte Finger um seine Eingeweide legten.

Er schaffte es zu sagen: »Nehmen Sie den runter.«

Sie schaffte es, den Kopf zu schütteln.

»Fallen lassen!«, sagte sie mit Blick auf seine Waffe, die noch zum Großteil im Halfter steckte.

In Europa waren zahllose Waffen auf ihn gerichtet gewesen, doch niemals aus dieser kurzen Distanz und niemals bei unmittelbarem Blickkontakt. Sie starrten einander an und holten Luft.

Zum Glück passierte jetzt alles ganz schnell. Später wäre er zu nervös gewesen. »Belle, legen Sie das weg«, sagte er mit erstaunlich fester Stimme.

Sie schüttelte den Kopf. Gott, sah sie verängstigt aus.

»Zwingen Sie mich nicht«, sagte sie.

Langsam hob er die Hände, Handflächen nach vorne. Bleib ganz ruhig, Mädchen. Er hob sie nicht besonders hoch, ließ seine Ellenbogen angewinkelt; setzte sich damit noch größerer Gefahr aus, weil er einfach nicht glauben konnte, was da gerade vor sich ging. Außerdem hätte er ohnehin nicht schnell genug ziehen können, sie zielte ja bereits auf ihn. Der Raum war klein, potenzieller Schütze und potenzielles Opfer standen nur zwei Meter voneinander entfernt. Aus zwei Metern konnte man eigentlich nicht danebenschießen.

»Sie hatten bisher keinen Ärger, und Sie wollen doch auch jetzt keinen.«

Seine Kehle hatte sich innerhalb von Sekunden zugeschnürt. »Hier geht’s um Ihren Bruder, nicht um Sie.«

Auf dem Ofen stand ein Topf. Es roch nach Knoblauch. Er hörte das Zischen des Wasserdampfs.

»Lassen Sie uns in Ruhe.« Zusammengebissene Zähne. Sie trat einen Schritt zurück, stand jetzt mit dem Rücken zur Wand, konnte nirgendwo mehr hin.

Der Topfdeckel fing an zu tanzen.

Von nebenan vernahm Rake Geräusche einer Schlägerei. Wer auch immer da vielleicht angeschossen worden war, gab noch nicht auf. Hätte Dunlow den Abzug betätigt, gäbe es keine Auseinandersetzung mehr.

»Kommen Sie nicht näher. Mit mir können Sie nicht so umspringen wie mit James.«

»Bitte legen Sie die Waffe weg, und wir reden.«

Noch ein Schuss aus dem anderen Zimmer. Rake sprang nicht wirklich in die Luft vor Schreck, aber er zuckte zusammen wie ein Infielder beim Baseball, sobald der Pitcher den Ball wirft.

Auch Belles Finger zuckte.

Die Waffe in ihrer Hand ging los.

Entweder hörte er den Schuss doppelt oder sie hatte zweimal abgedrückt, er war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass es sehr, sehr laut hier drinnen war und dass ihn offenbar nichts getroffen hatte.

Sie hatte nicht mit dem Rückstoß gerechnet, der ihre Arme bis zu den Ellenbogen durchrüttelte. Die Pistole zielte jetzt nicht mehr auf ihn, sondern auf die Decke.

Er packte den Topf und warf ihn.

Der Topf erwischte sie, und sie schrie, oder das kochende Wasser erwischte sie, und sie schrie, oder beides. Sie stand jetzt nach vorn gebeugt, mit den Händen vorm Gesicht, die Waffe hatte sie fallen lassen. Die Wand hinter ihr hatte eine andere Farbe als vorher und tropfte. Sie schrie weiter, es waren die schlimmsten Schreie, die Rake seit Langem hörte.

Er zog seine Waffe, drängte vorwärts und griff nach ihrer. Ihre Waffe war überzogen von zähflüssiger, heißer Maisgrütze, und er musste das verdammte Zeug abschütteln.

Hektische Schritte. Er blickte in dem Moment hoch, als ein kleingewachsener Negro ins Zimmer sprang, ein Ausdruck von Grauen im Gesicht. Konnte nur der Ehemann des Mädchens sein. Unbewaffnet. Rake sprang auf und zielte mit dem Revolver auf ihn.

»Keine Bewegung! Auf den Boden! Jetzt!«

Die Augen des Negro waren weit aufgerissen, und er befolgte lediglich Rakes erste Anweisung.

Sie standen keinen halben Meter voneinander entfernt.

»Belle! Was haben Sie ihr angetan?!«

Rake hätte auf ihn schießen können. Oder ihn zu Boden werfen und ihm Handschellen anlegen, wenn er eine Hand frei gehabt hätte, doch er hielt jetzt zwei Waffen in den Händen. Also holte er mit der Maisgrützen-Pistole aus und zog sie dem Ehemann mit dem Griff über den Schädel. Der ging zu Boden.

Rake kniete sich auf den Mann und legte ihm hinter dem Rücken Handschellen an. Dann steckte er sich Belles Waffe in die Hosentasche.

Belle heulte durchdringend, halb lag sie auf dem Boden, halb lehnte sie an der mit Maisgrütze bekleckerten Wand, vor Schmerz mit den Beinen strampelnd. Sie fasste sich ins Gesicht, riss sich das Zeug herunter. Er wusste nicht, ob sie sich dabei nicht auch selbst die Haut abzog, und konnte nicht mehr hinsehen.

Weitere Schüsse, vier, doch nicht mehr so laut wie vorher. Vielleicht vom Vordereingang.

»Dunlow?!«

»Mir geht’s gut!«, brüllte Dunlow. Gut klang er nicht, aber immerhin nicht tot.

»Er ist vorne raus!«

Sie brüllte immer noch, etwas über ihr Gesicht, über das Brennen und Jesus Christus. Der Essensgeruch hatte etwas weit Üblerem Platz gemacht.

Rake rannte in den Flur.

*

Nachdem Freddie dafür gesorgt hatte, dass Dunlows Knarre in seinem gottverdammten Halfter losging, geschahen die Dinge zu schnell für Dunlow. Er sprang in die Luft, zum einen vor Schreck, zum anderen, weil er fürchtete, sich den eigenen Fuß abgeschossen zu haben. Das war zum Glück nicht der Fall, und der Schock über den Schuss hatte auch Freddie endlich davon überzeugen können, loszulassen.

Dunlow landete mit einem Fuß auf Freddie, aber vielleicht passierte das auch erst später, egal, jedenfalls trat er auf den kleinen Bastard ein, während er gleichzeitig versuchte, einhändig mit Triple James zu boxen. Er konnte sich nicht erinnern, an einem Tag schon mal derart viele Treffer eingesteckt zu haben, tatsächlich mehr als in den meisten Jahren, doch er war so viel größer als der boxende kleine Knastbruder, dass er es schaffte, sich gegen ihn zu lehnen und seinen linken Arm um den Hals des Niggers zu legen. Er versuchte, ihn mit einem Würgegriff zu zermürben, dann schlug er Triple James gegen die Wand, und womöglich wäre der k. o. gegangen, wären die Wände in Freddies Wohnung nicht so dünn gewesen. Stattdessen riss der Knastvogel ein mannsgroßes Loch in die billige Tapete und das darunterliegende Sperrholz.

Mit der freien Hand griff Dunlow in sein Halfter. Er hatte Triple James immer noch im Schwitzkasten und fragte sich, ob er ihn einfach erschießen oder ihm nur mit der Pistole eins überziehen sollte, doch dann schlug ihm Freddie, dessen verdammte Hände offenbar magnetisch vom Lauf seines Revolvers angezogen wurden, die Pistole aus der Hand. Sie fiel auf den Boden und ging gleich mehrmals los. Selbst im Schwitzkasten schlug Triple James nach Dunlow und landete etliche Treffer. Nur dass seine Fäuste nicht mehr den gleichen Punch hatten, also ließ Dunlow ihn los und stieß ihn mit dem Knie zu Boden. Dann widmete er sich Freddie und trat ihn mit einer solchen Wucht, dass der sich einmal um die eigene Achse drehte. Am Ende der Drehung stand Freddie beinahe wieder an derselben Stelle wie zuvor, dann brach er zusammen.

Ein Scheppern erregte Dunlows Aufmerksamkeit. Er drehte sich nach Triple James um. Die Wohnungstür stand offen, Dunlows Waffe lag immer noch auf dem Boden.

Draußen kroch Triple James aus dem großen Rhododendronstrauch, in dem er nach seinem Sprung aus dem ersten Stock gelandet war. Dunlow holte seine Waffe aus der Wohnung und rannte zurück zur Tür. Er sah den Sträfling über die Straße sprinten und drückte ab, schoss, sooft er konnte. Stücke vom Asphalt wirbelten in die Luft und die Heckscheibe eines alten Fords explodierte, doch die Schüsse erreichten nur, dass Triple James noch schneller lief, bis er um die Ecke und außer Sichtweite war. Dunlow wollte ihn verfolgen, doch dann drehte sich alles und er musste sich am Türgriff festhalten. Adrenalin schoss ihm ins Blut, und sein Herz tat Dinge, die er so nicht kannte und die es wahrscheinlich auch nicht tun sollte, als er verspätet die gesammelte Vehemenz der Schläge spürte, die er hatte einstecken müssen.

Er sank zu Boden, die grauenvollen Schreie einer Frau waren alles, was noch durch den Nebel in seinem Hirn drang.

*

Eine Stunde später saß Rake auf dem Gehweg vor dem Gebäude, als Dunlow sich neben ihn pflanzte.

Vier Einsatzwagen mit Blaulicht riegelten die Straße in beide Richtungen ab. Die neugierigen Nachbarn hatte man zurück ins Haus geschickt, jetzt lugten sie durch ihre Fenster.

Der Krankenwagen war schon wieder weg, obwohl er Belle nicht mitgenommen hatte. Sie wurde zusammen mit ihrem Ehemann verhaftet, die Versorgung der Brandwunden musste warten. Rake hatte immer noch den beißenden Geruch ihres verbrannten Fleischs in der Nase.

»So läuft das bei der Polizei«, sagte Dunlow. »Man hat die ganze Arbeit und nichts vom Ruhm.«

Die Sonne brannte ihnen auf den Rücken. Ihr konnten auch die schwarzen Wolken nichts anhaben, die sich ihren Zorn offensichtlich für ein anderes Viertel aufgespart hatten.

»Wer war’s?«

»Timpson. Mit einem einzigen Schuss. Aus einer Winchester.«

»Hab gehört, der war in Frankreich bei den Scharfschützen.«

»Was damit bewiesen wäre.«

Rake war zum Streifenwagen gerannt, um einen Bericht abzusetzen. Er hatte Triple James eigentlich selbst verfolgen wollen, doch die Zentrale teilte ihm mit, dass noch mehr Wagen in der Nähe seien und dass er in der Wohnung bleiben solle, um auf Freddie und Belle aufzupassen. Und auf Dunlow, der kaum ansprechbar gewesen war. Als die anderen Cops auftauchten, hatte sich sein wuchtiger Kollege aber wieder erholt und jegliche medizinische Hilfe verweigert, obwohl sein Gesicht mit jeder Minute mehr wie eine faule Melone aussah.

»Alles gut bei dir?«, fragte ihn Dunlow.

»Bestens.« In Wirklichkeit tat Rakes Hand höllisch weh. Der Griff vom Topf war heiß gewesen, er hatte sich die Handfläche verbrannt, es aber erst zehn, zwanzig Minuten später gemerkt.

Sie saßen noch eine Weile da. Das Adrenalin war längst weg, und sie waren ausgelaugt von den Fragen ihrer Vorgesetzten zur Chronologie der Ereignisse. Die Sonne versengte ihre Haut wie eine heiße Pfanne, die man ihnen in den Nacken presste.

»Ich kann’s nicht fassen, dass eine Frau schneller war als ich«, sagte Rake.

»Kann passieren. Wenn überhaupt, dann musst du die Maisgrütze erklären.«

»Vermutlich weiß eh schon das halbe Department Bescheid.«

»Mach dir nichts draus. Zur Hölle noch mal, wir sind diejenigen, die ihn gefunden haben. Jemand anderes hat die Marmelade aufgemacht, aber wir haben den Schraubverschluss für sie gelockert.«

Ein paar Reporter lungerten bei den Einsatzwagen herum, doch man hielt sie in Schach.

»Du hättest lügen können«, sagte Dunlow.

»Mir ist so schnell nichts eingefallen.«

Dunlow musste lachen. »Daran solltest du arbeiten. Ist nicht ganz unwichtig in diesem Beruf.«

Rake fiel auf, wie seine Hände zitterten. Er presste sie an seine Brust, ohne zu merken, dass ihn das noch verstörter wirken ließ.

»Scheiße.« Er atmete durch, verblüfft, was sein Körper da mit ihm machte.

»Das geht vorbei«, sagte Dunlow leise.

Rake war nie ein großer Trinker gewesen, aber Himmel Herrgott, jetzt hätte er einen vertragen können. Er fühlte, wie ein Schauer durch seinen Körper fuhr, entgegengesetzt der sonst üblichen Richtung; der hier begann in seinen Händen und arbeitete sich langsam bis zum Hals hoch. Er bewegte den Kopf hin und her, als ob er ihn abschrauben wollte. Seine Zähne klapperten.

»Ich mach das ja schon eine ganze Weile«, sagte Dunlow nach einer Minute, »und hab erst ein Mal in die Mündung einer Waffe geschaut. Ist schon was her. Und der hat verdammt noch mal nicht so schnell abgedrückt wie sie.«

Wie konnte sie nur danebenschießen? Mein Gott, was für ein Glück.

Genauso unwahrscheinlich wie ihr Fehlschuss war die Tatsache, dass sich unter allen Cops in Atlanta ausgerechnet Dunlow zusammengereimt hatte, wo der Sträfling sich aufhielt. Jeder andere Beamte war veralteten Hinweisen und falschen Tipps nachgegangen. Nur Dunlow hatte es besser gewusst. Warum hatte Rake das Haus nicht mit gezogener Waffe betreten? Warum hatte er nicht auf sie geschossen? Weil er nicht geglaubt hatte, dass Dunlow recht haben und Triple James sich tatsächlich in dieser Wohnung verstecken könnte. Er war sich todsicher gewesen, dass Dunlow nur wieder ein paar Negroes schikanieren wollte, nichts weiter. Da hatte Rake nicht mitmachen wollen und seine Waffe eben nicht gezogen. Er wollte keine unschuldigen Leute terrorisieren. Und genau mit dieser Einstellung hatte er am Ende eine Frau schwer verletzt.

Dunlow klopfte ihm auf die Schulter. Umarmte ihn beinahe. Diese kleine Streicheleinheit – nicht unbedingt das, was er von seinem Partner erwartet hatte – stellte sich als goldrichtig für seinen Körper heraus. Seine Nerven stellten das Feuer ein. Er holte Luft, und sein Brustkorb entspannte sich.

»Gute Arbeit«, sagte Dunlow.

Sie würden später noch eine Menge Zeit haben, sich darüber klar zu werden, auf wie viele verschiedene Arten sie das Ding in den Sand gesetzt hatten, doch jetzt saßen sie einfach nur da, während die anderen Cops aufräumten, Witze über Triple James’ Geschwindigkeit rissen, Maisgrütze von Küchenwand und Boden kratzten.

»Die hat sich komplett verbrüht.« Rakes Unterkiefer funktionierte langsam wieder.

»Allerdings«, sagte Dunlow. »Wie verbrannter Speck.«

»Wenn ich schon mit der Waffe in der Hand reingegangen wäre, hätte sie nie nach ihrer gegriffen.«

»Oder sie hätte es versucht und wäre jetzt tot. Und du würdest hier sitzen und dich schuldig am Tod eines Nigger-Mädchens fühlen. Stattdessen hast du sie nur verstümmelt.«

Das Wort »verstümmelt« mit seiner Endgültigkeit war nicht das, was Rake hören wollte. Er saß da und versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben, den Geruch von verbranntem, sich ablösendem Fleisch.

Dunlow versetzte ihm einen Schlag auf den Schultermuskel. Hart genug, um jemanden aus dem Koma zu wecken. »Hey. Du musst dich wegen gar nichts schuldig fühlen. Du wärst tot, wenn du anders gehandelt hättest. Oder sie, oder ihr beide. Ist nicht deine Schuld. Ist die von Triple James und denen, die ihm Unterschlupf gewährt haben. Verstehst du mich?«

Rake nickte.

»Dann sag es.«

»Ist ihre Schuld.«

Dunlow sah ihn konzentriert, ja streng an. Vermutlich so, wie er seine Linebacker-Söhne in der Halbzeit beim Football anschaute, wenn er ihnen empfahl, härter ranzugehen. Sein Blick wurde wieder sanfter, und er klopfte Rake erneut auf die Schulter.

»Das war gute Arbeit, Kid. Du hast das Ganze überlebt, und die miesen Witze, die andere Cops über ihre Brandwunden reißen, würdest du gar nicht mitbekommen, wenn du tot wärst.«

Rake versuchte, den Satz zu entschlüsseln, während er auf seine rechte Handfläche starrte, wo sich bereits eine Brandblase bildete, ein weißer Klumpen, der sich aus all dem Rot herausschälte.