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SERGEANT MCINNIS STIESS als Erster zu ihnen. Zwei der anderen farbigen Beamten, Wade Johnson und Big Champ Jennings, schafften es ein paar Minuten später.

»Ihr seid sicher, dass es sich um dasselbe Mädchen handelt?«, fragte McInnis.

»Ziemlich«, antwortete Smith.

»Ich dachte, ihr hättet ihr Gesicht in jener Nacht nicht erkennen können.«

»Ist auch jetzt kaum mehr was zu erkennen, Sergeant. Aber sie trägt dasselbe Kleid, dasselbe Medaillon und dieselbe Frisur.«

McInnis ging neben der Leiche in die Hocke, während Boggs ihm mit der Taschenlampe leuchtete. Die Leiche war aufgedunsen und hatte einen lilafarbenen Ton angenommen, wirkte nicht mehr menschlich. Es fehlten Teile, stellenweise ganze Klumpen, manchmal nur kleine Schnabelhiebe, je nachdem welche Aasfresser sich über sie hergemacht hatten.

»Verflucht. Paar Tage alt, würd ich sagen.« McInnis stand auf. »Die Müllabfuhr kommt hier einmal die Woche, oder?«

»Offiziell ja«, sagte Smith. »Aber ich wohne nur ein paar Blocks entfernt, und da ist kein Verlass drauf.«

»Dann rufen Sie bei der Stadtreinigung an und finden Sie heraus, wann sie das letzte Mal da war.«

»Ja, Sir.«

Nach drei Monaten unter McInnis wussten sie immer noch nicht genau, was sie von ihm halten sollten. Er hatte etwas Mürrisches an sich, wie jemand, dem immer die entscheidende Karte zum Royal Flush fehlte, jemand, dessen Geduld fast am Ende war wegen der einen verdammten fehlenden Karte.

Von irgendwem hatten sie gehört, dass er eine Frau und sogar Kinder habe, aber er sprach nie über sie. Sein kurzes, dunkles Haar schien nie wirklich zu wachsen oder geschnitten zu werden, was entweder bedeutete, dass er es akribisch kurz rasierte, oder dass es tatsächlich aus irgendeinem Grund nicht wuchs. Da war kein Grau in seinem Haar, doch er hatte Augenringe, wirkte zermürbt wie jemand, der so viele Jahre ein finsteres Gesicht gemacht hatte, bis es ihm geblieben war. Er war schlank, und die wenigen Male, als sie ihn bei der Verfolgung eines Flüchtigen gesehen hatten, war er erstaunlich schnell gewesen. Er war ihr Boss. Er nannte sie alle beim Nachnamen und fragte sie nie nach ihrem Privatleben. Keiner von ihnen hatte ihn je »Nigger« oder »Affe« sagen hören, trotzdem konnten sie sich alle vorstellen, dass ihm diese Wörter leicht über die Lippen kamen. Er lächelte kaum. Er aß penibel zubereitete Sandwiches, die seine Frau (so nahmen sie an) für ihn in Wachspapier eingewickelt hatte, und begleitete sie nie zum Essen, weil er (so nahmen sie an) keine Lust hatte, die farbigen Restaurants in der Gegend zu unterstützen. Er war höchstwahrscheinlich der einzige Sergeant in Atlanta, dem – ungeachtet der Rasse – acht Neulinge zugeteilt waren. Sie alle spürten, dass er seinen Job hasste, zumindest seit man sie eingestellt hatte.

»Ihr müsst die Leiche hier wegschaffen«, sagte er. »Und dann durchsucht ihr den ganzen Mist noch mal nach der Mordwaffe oder was anderem.«

»Sollen wir auf die Mordkommission warten, Sir?«, fragte Jennings. »Wir wollen nicht, dass sie uns für das Durcheinanderbringen eines Tatorts kritisieren.«

»Die werden euch so oder so kritisieren. Und dieser Tatort kommt mir ohnehin ziemlich durcheinander vor. Außerdem wird die Müllabfuhr wahrscheinlich eh schneller hier sein.«

Das bedurfte keiner weiteren Erklärung. Weißen Detectives war eine farbige Tote egal, vor allem wenn sie auf einer Müllhalde lag.

»Jemand sollte den Kerl verhören, mit dem sie in der Nacht unterwegs war«, meldete sich Johnson.

»Brian Underhill«, sagte Boggs.

»Stand der in Ihrem Bericht?« McInnis schien sich für den Namen zu interessieren.

»Ja, Sir. Dunlow und Rakestraw haben übernommen, als er ein zweites Mal angehalten wurde.«

»Ich überprüfe das.« McInnis schien über etwas nachzudenken, hielt den Blick gesenkt. »Los, holt sie da raus.«

Boggs und Smith tauschten einen kurzen Blick, widmeten sich dann wieder ihrer undankbaren Aufgabe. Die Leiche war steinhart, sie vernahmen ein widerliches Knacken, von Knochen oder Sehnen, und das Austreten von Gas, als sie sie hochhoben. Sie trugen sie über die Müllkippe und den Dschungel aus Unkraut, legten sie so sanft wie möglich auf der Straße ab. Boggs gab sich außerordentlich große Mühe, nicht darüber nachzudenken, was sie da eigentlich taten, es nicht vollständig zu begreifen.

Der Leichnam war von oben bis unten verdreckt. Von Kaffeesatz und nassen Zeitungsfetzen bis hin zu Maden oder Ähnlichem. Jennings musste einen Schritt zurücktreten, hielt sich die Hand vor den Mund.

McInnis bedeckte Nase und Mund mit einem Taschentuch und kniete sich neben sie. Er versuchte, ihren Kopf zu bewegen, es klappte nicht, also strich er die Haare beiseite, die ihr Gesicht verdeckten. Es war verrottet, ein grauenvoller Anblick, und trotz der fehlenden Haut war da nichts, was einer Einschusswunde glich.

Dann nahm er sich ihren Oberkörper vor, und da war das Einschussloch, es führte direkt in ihr Herz. Alles andere als schwer zu finden, ihr Kleid war an der Stelle schwarz und vollgesogen. Es schien nur die eine Einschusswunde zu geben, und McInnis hatte genug gesehen, vermutlich dachte er, den Rest erledige der Leichenbeschauer.

McInnis leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den Boden, um eine Blutspur zu finden, einen Hinweis darauf, dass man sie hierhergeschleppt hatte, oder etwas in der Art. Doch das Gelände war so verwildert, dass sich eine Suche aussichtslos gestalten würde. Selbst wenn man sie über den Boden gezogen und sie dabei Blutspuren hinterlassen hatte, hatte der Regen das Blut längst weggewaschen.

*

Die Schicht endete eigentlich um zwei Uhr, doch es war fast sieben und Boggs und Smith füllten immer noch Formulare über ihre unbekannte weibliche Negro-Leiche im Keller des YMCA in der Butler Street aus.

Das Y war ein fünfstöckiges Backsteingebäude, das neben seiner Funktion als Turnhalle, Gästehaus, Nachbarschaftstreffpunkt und politisches Hauptquartier der farbigen Community seit drei Monaten Atlantas acht Negro-Polizisten als Wache diente. Dieselben Stadträte, die endlich Dienstmarken an Negroes ausgegeben hatten, konnten sich immer noch keine Welt vorstellen, in der farbige Polizisten neben weißen saßen oder mit ihnen gemeinsam aßen, duschten, sich in denselben Umkleidekabinen umzogen oder dieselben Klos benutzten. Man wollte um jeden Preis einen Aufstand vermeiden.

Die Tatsache, dass das Y ihr Hauptquartier war, hatte eine Menge neuer Redewendungen unter den Beamten hervorgebracht. Auf Streife gehen hieß »Runden laufen«, eine Rüge von McInnis »die Ersatzbank« und Schreibtischarbeit war »Gewichtheben«.

Das Y wurde von Herm Eakins geführt, einem älteren Herrn, der vor zehn Jahren aus New York hergekommen war. Er bezeichnete sich selbst als unpolitisch, doch die weißen Cops hatten ihn angestachelt, indem sie regelmäßig seine Tür eingetreten und Zugang zu den Zimmern diverser Untermieter verlangt hatten, die sie irgendeines Verbrechens verdächtigten. Die Cops hatten nie einen Durchsuchungsbefehl, selten einen Namen und Eakins offenbar keine Rechte. Ganze zwölf Mal hatte er seine Tür reparieren müssen, nachdem die Cops sie eingetreten hatten. Einmal für jeden Stamm Israels. Nach dem zwölften Mal musste er sie austauschen, fein säuberlich den gesamten Türbogen erneuern, die Wand neu meißeln, neue Türangeln anbringen und alles neu verschrauben. Nach dem zwölften Mal war Schluss. Er wandte sich an Reverend King, Reverend Holmes Borders und Reverend Boggs und ließ sie wissen, dass er ihr Mann sei, sollten sie Hilfe dabei brauchen, Negro-Polizisten im Bezirk zu installieren.

Damals war Lucius ihm zum ersten Mal begegnet, vor über einem Jahr, bei den Kursen zum Bürgerverhalten, die Reverend Boggs mitorganisiert hatte. Gerade erst waren die weißen Vorwahlen vom Obersten Gerichtshof abgeschafft worden, was bedeutete, dass kein Weißer mehr Negroes daran hindern durfte, an den demokratischen Vorwahlen teilzunehmen, der wichtigsten Wahl von allen. Zumindest theoretisch konnten die Weißen nichts dagegen unternehmen. (Das Urteil hinderte Gouverneur Talmadge nicht an der Aussage, die beste Art, Negroes am Wählen zu hindern, sei »mit der Pistole«.) Der in Rassenfragen eher liberale Bürgermeister Hartsfield hatte den Anführern der farbigen Gemeinden die Anstellung farbiger Cops versprochen, wenn sich genügend Wähler registrierten, um Einfluss auf die Bürgermeisterwahl zu nehmen.

Lucius war vor anderthalb Jahren aus dem Krieg zurückgekehrt, arbeitete bei derselben farbigen Versicherungsagentur wie sein Bruder Reginald und suchte immer noch nach seiner Bestimmung. Bei den Kursen zum Bürgerverhalten hatte er vor fast hundert Leuten aller Altersklassen gestanden und ihnen erklärt, wie die Wahlen funktionierten, wo sie sich anmelden konnten und was sie mitbringen mussten. Mit welchen gehässigen Fragen sie rechnen mussten und wie man ihnen am besten auswich. Wie man sich kleidete und benahm, was man besser nicht sagte. Zwanzigtausend angemeldete Negro-Wähler später – von zahllosen Flugblättern, endlosen Versammlungen, langen Reden und Hunderten von zurückgelegten Meilen in den farbigen Gemeinden Atlantas ganz zu schweigen – bekam die Gemeinde ihre eigenen Polizeibeamten. Und weil die Beamten einen Ort brauchten, um sich umzuziehen und ihre Berichte zu schreiben, bot ihnen Eakins den Keller des Y an.

Seitdem schienen weiße Polizeibeamte nur noch wenig daran interessiert, die Türen vom Y einzutreten – oder auch nur anzuklopfen. Sie murrten, dass die vermieteten Zimmer des Y ein Bienenstock illegaler Aktivitäten seien und außer den selbsternannten schwarzen Cops niemand für Recht und Ordnung sorge, doch Eakins war das Gerede egal, solange er nicht schon wieder eine gottverdammte neue Tür einsetzen musste.

*

Die baufällige Wache bestand aus einem einzigen unterirdischen Raum, der im Winter nur schwer zu heizen war (man hatte sie vorgewarnt) und dessen Betonwände in der Sommerhitze förmlich schwitzten. Man hatte acht Schreibtische in den Raum gepfercht, es sah aus wie in einer Dorfschule für Negro-Kinder. Der Betonboden hatte Risse, sodass der Dreck darunter nach oben sickerte, und egal, wie oft Boggs seine Schuhe polierte, sie sahen jedes Mal staubig aus, sobald er das Gebäude verließ. Ganz hinten hatte man eine Rigipsplatte und eine kleine Tür installiert, um ein Büro für McInnis zu schaffen, der seine Vorgesetzten mehrmals gebeten hatte, diesen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, aber nein, irgendjemand musste ja Märtyrer spielen und die Negro-Cops beaufsichtigen, und das war nun mal leider er.

Die Duschen befanden sich drei Stockwerke weiter oben, zur Toilette ging’s nur eine Treppe hoch und für beides musste man häufig Schlange stehen. Der Mangel an Papier und Büroklammern war ein Problem. Ratten waren das größere.

An die eine Wand waren Fälle und Adressen der Verdächtigen auf eine Karte des Bezirks gepinnt. Sogar jetzt um die frühe Uhrzeit konnte Boggs einen Basketball in der Turnhalle im Erdgeschoss aufspringen hören.

Dass es jetzt acht Negro-Beamte gab, änderte nichts an der Art des Atlanta Police Department, farbige weibliche Leichen zu identifizieren. Zunächst schaffte man sie in die Leichenhalle im Keller des weißen Hauptquartiers, weit außerhalb der Reichweite der farbigen Beamten. Dann wartete man darauf, dass jemand auftauchte und nach seiner Freundin fragte. Kam niemand, schmiss man den Leichnam weg, sobald Platz für einen neuen toten Negro benötigt wurde. Irgendwann war der Gerichtsmediziner mit dem Wagen da gewesen, um die Leiche mitzunehmen, doch wie von McInnis vorhergesagt, hatte sich die Mordkommission nicht blicken lassen.

Die meisten Leichen, mit denen Boggs bisher zu tun gehabt hatte, wurden an Tatorten gefunden, an denen der Täter noch anwesend war, oder in der Wohnung des Opfers oder an einem Ort mit diversen Zeugen. Das erste Mal herrschte Ungewissheit. Es gab keine Vermisstenanzeige, auf die ihre Beschreibung passte. Das gelbe Kleid und das schlichte Medaillon – eine metallene Kette mit einem leeren silberfarbenen Herzen – waren die einzigen Merkmale zur Identifizierung, abgesehen von einem Muttermal auf der rechten Schulter.

»Endlich fertig mit dem Bericht, Boggs?«, fragte McInnis. Er war kein Fan von Boggs’ Berichten. In ihrer ersten Woche hatte er bei der Einsatzbesprechung einen von Boggs’ Berichten vorgelesen.

»Das Subjekt hat sich vehement gewehrt«, hatte er mit sarkastischem Unterton zitiert. »Die aquamarinfarbene Bluse der Zeugin war vom verschütteten illegalen Alkohol transparent geworden.« Und »die Klinge hatte sie in einem 90-Grad-Winkel penetriert«. Dann hatte der Sergeant den Bericht in den Müll geschmissen und gesagt: »Mit Ihrem Zehn-Dollar-Vokabular beeindrucken Sie hier niemanden, Boggs. Weniger Adjektive, bitte. Hier verleiht Ihnen dafür niemand einen Doktortitel.« Seitdem bemühte sich Boggs, sich so kurz wie möglich zu fassen, um seinen Vorgesetzten mit gerade mal einem Highschool-Abschluss nicht zu verärgern.

Während er tippte, dachte er an die Fakten, die ihm fehlten, Informationen, an die jeder weiße Cop problemlos herankam, sobald er das Archiv aufsuchte. Benötigten die farbigen Beamten Zugang zu Akten aus der Zentrale, mussten sie dort anrufen und nach der Akte fragen, denn das Gebäude durften sie ja nicht betreten. Die Akte kam dann auf einen Stapel, den McInnis jeden Tag mitnehmen musste, weshalb er sich regelmäßig bei ihnen ob dieser lästigen Aufgabe beklagte. Ich bin doch nicht euer Laufbursche. Das ließ sie nur widerstrebend anfragen, wenn sie ein entsprechendes Anliegen hatten.

Boggs wusste noch nicht einmal, wofür Dunlow und Rakestraw Underhill an dem Abend abmahnten, nachdem sie ihn angehalten hatten. Doch McInnis schien auch gar nicht sonderlich scharf darauf zu sein, es herauszufinden, denn der Papierkram hätte sich nur noch länger hingezogen.

Boggs war fast fertig, als McInnis sich aufs Klo verzog. (Die Polizei hatte dem Y Geld gegeben, um eine bereits bestehende Besenkammer auf Wunsch von McInnis in eine kleine Toilette für Weiße umzuwandeln.)

Boggs griff zum Telefon. Er gab sich der Vermittlung zu erkennen und ließ sich mit dem Archiv verbinden. Während er die Sprechmuschel bedeckte, drehte er sich zu seinem Partner um. »Kannst du Schmiere stehen, Tommy?«

Smith schüttelte den Kopf, ging aber hinüber zur Treppe und brachte sich in Position für einen warnenden Pfiff, falls McInnis zurückkam.

Die Stimme einer Frau mittleren Alters war in der Leitung zu hören: »Archiv.«

»Ja, ich bräuchte den Festnahmebericht für einen Brian Underhill vom neunten Juli.«

»Wer spricht da?«

Er nannte seinen Namen und seine Dienstnummer, zusammen mit dem Zusatz, der ihn als Negro-Officer identifizierte.

Er verbrachte eine Weile in der Warteschleife. Immerhin hatte sie nicht aufgelegt. McInnis’ Darm ist hoffentlich nicht der schnellste. Endlich war sie wieder in der Leitung. »Nichts zu finden«, sagte sie.

»Noch nicht mal ein Strafzettel?«

»Nichts. Unter dem Namen ist nichts.«

»Das muss ein Irrtum sein. Könnten Sie die Aufzeichnungen der Beamten Dunlow und Rakestraw überprüfen? Die müssten die Verhaftung vorgenommen haben.«

Sie seufzte hörbar ins Telefon und legte ihn erneut in die Warteschleife. Minuten vergingen. McInnis, das arme Schwein, saß immer noch auf dem Klo (oder er war eingeschlafen), als Boggs endlich wieder ihre Stimme hörte.

»In den letzten Aufzeichnungen dieser Beamten steht nichts über einen Underhill.«

Also hatten Dunlow und Rakestraw ihn weder für die Beschädigung des Laternenmasts angezeigt noch zu Protokoll gegeben, dass sie ihn überhaupt angehalten hatten.

»Wo ich Sie gerade dran habe«, sagte Boggs so höflich wie möglich, bevor sie auflegen konnte. »Ich hatte gehofft, Sie könnten Underhills Akte für mich heraussuchen. Hat er Vorstrafen?«

»Ich hab dir schon genug geholfen, Junge. Es gab keine Verhaftung, also musst du dir auch keinen Kopf machen. Los, lauf weiter Streife in deinem Niggerviertel.« Sie legte auf.

Boggs hielt den Hörer noch einen Moment lang fest, seine Wangen brannten.

Eine Minute später tauchte McInnis wieder auf, und Boggs reichte seinen Bericht ein. McInnis überflog ihn mit roten Augen über den grauen Tränensäcken.

»Ich nehm ihn am Morgen mit rüber. Also bei der nächsten Schicht«, gähnte er. »Jesus, ist das spät. Ab nach Hause mit euch.« Er ging, ohne sich zu bedanken.

Boggs und Smith duschten oben jeweils gute fünfzehn Minuten lang. Wenn sie die Augen schlossen, sahen sie den Müll. Den Müll und die Tote. Sie zogen ihre Zivilkleidung an und stopften ihre ranzigen blauen Uniformen in Müllsäcke. Sie besaßen nur eine Ersatzuniform, mussten die hier also zügig waschen. Boggs hatte dafür seine Mutter – seine Sparsamkeit und pragmatische Ader ließen ihn immer noch bei den Eltern wohnen –, während Smith eine Frau aus seinem Block dafür bezahlte.

Boggs war auf dem Weg nach draußen, wünschte Eakins an der Rezeption mit einem Nicken einen guten Morgen, als er hörte, wie im Keller das Telefon klingelte. Er blieb stehen, zögerte einen Moment lang und rannte dann nach unten, entriegelte die Tür zur Wache und nahm den Hörer beim sechsten Läuten von der Gabel.

»Officer Boggs.«

»Archiv hier.« Die Stimme einer Frau, so gedämpft, dass er sie kaum verstand. »Hatten Sie wegen Underhill angerufen?«

»Ja. Ja, das war ich.«

»Okay, dieses Gespräch hat niemals stattgefunden. Was wollen Sie wissen?«

Weil sie flüsterte, war es schwierig zu beurteilen, doch jetzt war er sich sicher: Das war nicht die Frau, die ihn vorher abserviert hatte.

»Ich hatte angenommen, er hätte eine Anzeige wegen eines Verkehrsdelikts in der Nacht vom Neunten bekommen, doch sie hat mir gesagt, da liegt nichts vor.«

»Ich weiß, den Teil hab ich gehört. Und was noch? Sie beeilen sich besser, sie kommt gleich zurück.«

»Verhaftungen. Vorstrafen. Seine Adresse, Beruf. Irgendwas.«

»Er hat beim APD gearbeitet.«

Boggs setzte sich. »Er war bei der Polizei?«

»Bis 44 oder 45. Gegen Kriegsende, soweit ich mich erinnere.«

Zu viele neue Fakten und Folgen daraus stürmten auf Boggs ein, um sie sofort verbinden zu können. Wenn Underhill beim APD gewesen war, dann musste Dunlow ihn gekannt haben. Was zumindest zum Teil den Plauderton zwischen den beiden in jener Nacht erklärte und warum der hämische Gesang Underhills Dunlow ein vertrautes Lächeln entlockt hatte.

Außerdem kannte dann vermutlich auch McInnis diesen Underhill. Was wiederum dessen Blick erklärte, als Boggs vor ein paar Stunden den Namen erwähnt hatte.

»Der sah ein bisschen zu jung für die Pensionierung aus«, sagte Boggs.

»Der ist nicht pensioniert. Man hat ihn rausgeschmissen.«

»Warum?«

»Mist, ich muss gehen. Ich kann Ihnen vielleicht etwas besorgen.«

»Wie heißen Sie, Ma’am?«

Doch sie hatte bereits aufgelegt.