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AM NÄCHSTEN ABEND schrieb Rake gerade einen Bericht im Hauptquartier, als er jemanden »totes Mädchen« sagen hörte.

»Was für ein totes Mädchen?« Bei dem Wort »Mädchen« hatte er früher an Frauen gedacht, doch seit er eine Tochter hatte, bedeutete das Wort nicht mehr dasselbe. Er hörte »totes Mädchen« und musste an ein Kleinkind in einem rosa Kleidchen denken. An einen Autounfall, einen Querschläger, einen Badeunfall. Ein kleines Leben, das endete und für immer Narben in so vielen anderen hinterließ.

Der andere Cop stellte klar: »Mädchen« im Sinne von »erwachsener weiblicher Nigger«.

Rake las den Bericht. Müllkippe. Gelbes Kleid. Medaillon. Schusswunde in der Brust. Kein Name oder Ausweis. Keine äußeren Merkmale außer einem Muttermal auf der rechten Schulter. Aufgenommen von den Negro-Beamten Boggs und Smith.

»War schon jemand in den Freudenhäusern?«, fragte Rake laut in die Runde.

»Heute Abend noch nicht, aber vielleicht später«, scherzte jemand. Gelächter vom Rest.

»Ich meinte, ist sie eine Hure oder einfach nur irgendjemand, den man erschossen hat?«

Ein anderer Streifenpolizist seufzte im Vorbeigehen und sagte: »Die war mit Müll überzogen, als sie hier ankam. Kann mir nicht vorstellen, dass sich die Detectives um den Fall reißen, aber ich bin sicher, du kannst da mal ein bisschen rumschnüffeln.«

»Nackt und voll mit Scheiße werden wir geboren, und so sterben wir auch«, bemerkte jemand.

»Hier steht nichts von nackt«, sagte Rake.

»Tja, jetzt ist sie’s.«

*

Stunden später ließen sich Rake und Dunlow in ihre Sitze bei Hotbox sinken, einem Diner, zwei Blocks vom Hauptbahnhof entfernt. Man kochte hier überwiegend für Bahnarbeiter, doch nach Mitternacht wurde daraus so etwas wie eine Polizei-Cafeteria, denn es war einer der wenigen Orte, die offiziell die ganze Nacht über geöffnet bleiben durften.

»Wenn das mal nicht Rakestraw ist, die alte Maisgrütze!«, tönte Brian Heltons Stimme.

Gelächter aus dem gesamten Diner. Rake zwang sich, nicht rot zu werden, was ihm vermutlich nicht gelang, während Helton und sein Partner Bo Petersen hereinkamen.

Rake hatte den Gag mit der Grütze mittlerweile recht häufig gehört. Kollegen machten sich in seiner Gegenwart einen Spaß daraus, darüber zu diskutieren, was sie zum Frühstück gegessen hatten, als wäre es die lustigste Sache der Welt.

»Die servieren hier die ganze Nacht Maisgrütze, soweit ich weiß«, sagte Helton. Er hatte kurze blonde Haare, die langsam grau wurden, und sah aus wie jemand, der es vor langer Zeit mal draufhatte. Länger her, als er zugeben würde. Vielleicht war er gut im Werfen irgendwelcher Bälle gewesen, hatte eine Cheerleaderin geheiratet, die sich immer noch darüber ärgerte, dass sie sich kein besseres Viertel leisten konnten.

»Gewürzt mit Niggertränen«, fügte Peterson hinzu. Aufgrund ihres ähnlichen Auftretens und der ähnlichen Nachnamen waren Helton und Peterson für Rake praktisch ein und dieselbe Person, durch einen schrecklichen Unfall in zwei Hälften gespalten. Wobei er immer wieder vergaß, wer eigentlich wer war. Peterson hatte dunklere Haare und ein rundlicheres Gesicht, doch ansonsten blieben die Unterschiede geringfügig.

Sie zogen einen Tisch heran, um Rake und Dunlow beim »Lunch« Gesellschaft zu leisten. Ein Essen gegen Mitternacht, wenn man Nachtschicht hatte, »Lunch« zu nennen, fand Rake immer noch seltsam.

»Die behaupten, Henry Wallace will hier nächsten Monat eine Rede halten«, sagte Peterson.

»Bei der Arbeit quatsch ich nicht über Politik«, sagte Dunlow. Man konnte immer noch die Schrammen von seinem Gerangel mit Triple James sehen. »Und sonst auch nicht«, rülpste er.

»Tja, unser geschätzter früherer Vizepräsident legt Wert darauf, nicht vor einem nach Rasse getrennten Publikum zu sprechen«, erklärte ihm Helton. »Also wird jemand von uns die Ehre haben, ihn einzubuchten, wenn er hier spricht.«

Wallace war einer der meistgehassten Männer im Süden und Vizepräsident unter Roosevelt gewesen, allerdings nur eine Legislaturperiode lang, dann war er 1944 zugunsten Trumans kurzerhand vor die Tür gesetzt worden. Jetzt trat er gegen den Mann an, der ihn ersetzt hatte, als parteiloser Unruhestifter. Während seiner Zeit im politischen Aus hatte sich Wallace radikal nach links gewendet und sich bei Kommunisten und Sozialisten beliebt gemacht, indem er gegen die Rassentrennung wetterte und auch sonst nach Kräften im Süden für Ärger sorgte.

»Die lassen uns doch nicht den Ex-Vize einbuchten, du Idiot«, sagte Peterson. »Wir müssen das Ganze einfach nur auflösen.«

»Wo genau findet das statt?«, fragte Rake.

»Haben die noch nicht gesagt. Kündigen die wahrscheinlich so kurzfristig wie möglich an.«

Nachdem sie gegessen hatten und die Kellnerin alles bis auf ihre Kaffeetassen abgeräumt hatte, fragte Helton: »Habt ihr schon das Neuste von dem Nigger Bayle gehört? Der darf wieder zum Dienst.«

»Bullshit«, sagte Dunlow.

»Bullshit, aber wahr.«

Dunlow war derjenige gewesen, der Negro-Officer Bayle wegen Alkoholkonsums gemeldet hatte. Er behauptete, Bayle und zwei andere Negroes vor einer Bar aus Flachmännern trinken gesehen zu haben. Rake hatte in den Tagen danach erfahren, dass das nicht stimmte. Eigentlich hatte ihn einer von Dunlows farbigen Informanten gesehen, angeblich.

»Das nächste Mal, wenn du einen Neger suspendieren lassen willst, musst du dir schon etwas Heftigeres ausdenken«, sagte Helton zu Dunlow.

»Schlimm genug, dass die dieselben Marken tragen wie wir«, sagte Dunlow, »aber dann saufen die auch noch.«

Obwohl Rake offiziell Dunlows Partner war, hatte er in den ersten Wochen ein paar Schichten mit Peterson und Helton zusammengearbeitet. Das Department wollte, dass die Rookies so viel wie möglich von den Veteranen lernten. Schnell kam Rake zu dem Schluss, dass von denen nicht viel zu lernen war. Genau wie Dunlow waren sie mit weit über vierzig eigentlich zu alt für den Streifendienst und interessierten sich mehr für ihren Anteil an Glücksspiel und Schnaps als dafür, das Gesetz zu vollstrecken.

Beim ersten Treffen mit Peterson hatte der ältere Cop die linke Hand ausgestreckt und zu ihm gesagt: »Ich habe einen Freund in Black Rock.« Rake hatte ihm die Rechte hingehalten, verwirrt über den Kommentar. Ihre beiden ausgestreckten Hände hingen in der Luft wie ein unterschiedliches Paar Schuhe. Peterson hatte seinen Kommentar wiederholt, die linke Hand weiterhin ausgestreckt. Wer zur Hölle schüttelt die Hand mit links?, hatte sich Rake gefragt. Dann hatte Peterson die Hand zurückgezogen und war ohne ein weiteres Wort gegangen. Erst bei der nächsten Begegnung zwischen Peterson und einem Rekruten dämmerte es Rake. Dieses Mal schüttelten sich Peterson und der Rookie gegenseitig die linke Hand, mit losen Fingern, beinahe wie zwei Fische, die leblos aufeinanderpatschten. Sie bemerkten, wie Rake sie dabei beobachtete, und warfen sich einen Blick zu. Da begriff Rake, dass diese Sache mit der linken Hand eine geheime Begrüßung des Ku-Klux-Klans war.

Bei seiner ersten Streife mit Helton hatten sie einen älteren Negro festgenommen, der einfach nur gegen Mitternacht auf der Juniper Street nach Hause gelaufen war. Helton wollte seine Arbeitsbescheinigung sehen, einen Beweis, dass er nachts arbeitete und deshalb so spät noch unterwegs war. In Atlanta gab es keine offizielle Ausgangssperre, und doch zwangen die Cops sie der farbigen Bevölkerung auf. Helton hatte allein in Rakes Gegenwart drei Leute deswegen verhaftet, und Rake hatte sich jedes Mal still geschworen, beim nächsten Mal zu protestieren, es als lächerlich zu bezeichnen oder zumindest nicht zur Rufsäule zu laufen. Und doch ließ er es jedes Mal geschehen, weil er sich keine neuen Feinde machen wollte.

»Vielleicht lag dein Informant falsch bei Bayle«, sagte Rake zu Dunlow.

»Ernsthaft jetzt?«

»Der Frischling kapiert wohl nicht, wie wertvoll Freundschaften sind«, sagte Helton.

Rake trank in Ruhe seinen Kaffee aus und setzte dann die Tasse ab.

»Nenn mich nicht ›Frischling‹, Helton. Ich war vier Jahre an der Front, während du hier ältere Negroes wegen Missachtung eines Ausgangsverbots festgenommen hast.«

Nach einer Sekunde Schweigen lachte Peterson. »Hat Eier, der Junge, Dunlow.«

»Verdammt richtig«, sprang ihm Dunlow bei. »Hat mir den Rücken bei Triple James freigehalten, während ihr beide und alle anderen ihn auf der falschen Seite der Stadt gesucht habt.«

»Ich würde trotzdem gerne seine Meinung über den Nigger Bayle hören«, sagte Helton. »Kommt mir nämlich so vor, als würde ihm mehr an Bayle liegen als an Dunlow. Das klingt nicht nach Partner-den-Rücken-Freihalten.«

Rake wurde klar, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. Gott allein wusste, wo das Wasser zu tief zum Stehen wurde.

»Die Stadt wird ihre Meinung da nicht mehr ändern«, sagte er zu ihnen. »Die Negro-Cops bleiben. Ich sage nicht, dass euch das gefallen muss, aber wenn wir uns nicht verrückt machen wollen, lernen wir besser, damit umzugehen.«

»Oh, wir gehen damit um«, sagte Dunlow. »Da kannst du dich drauf verlassen«

»Ich glaube nur, ihr seht das alle ein bisschen falsch.«

»Dann klären Sie uns auf, Officer Rakestraw«, sagte Peterson. »Lassen Sie uns an Ihrer noblen Weltanschauung teilhaben.«

»Passt auf, ihr beide patrouilliert doch eh drüben in Kirkwood, also was kümmern euch die farbigen Cops? Die sind meilenweit entfernt. Dunlow und ich dagegen sind jede Nacht in Downtown, nur zwei Blocks von Darktown entfernt.« Er sparte sich die Anmerkung, dass Dunlow jede verdammte Nacht nach Darktown ging, um dort sein Revier zu markieren. »Klar kommt euch das im Moment komisch vor, weil sie uns so nahe sind. Aber wenn sie mal aufgeholt und sich als gute oder einigermaßen gute Cops erwiesen haben, dann stellt die Stadt noch mehr ein, und dann …«

»Mal den Teufel nicht an die Wand.« Peterson spuckte beinahe seinen Kaffee aus.

»… haben sie genug Personal, um sich selbstständig um ihren Teil der Stadt zu kümmern. Das bedeutet, weiße Polizisten kümmern sich um weiße Viertel und müssen keine weitere Minute mehr in der Nähe der Auburn Avenue, der Decatur Street oder der West Side verbringen.« Er wartete kurz, damit sie ihm folgen konnten. »Das wollt ihr doch, oder? Ihr regt euch so dermaßen über Negroes in Uniform auf, dass ihr überseht, was das wirklich bedeutet. Eine noch konsequentere Rassentrennung. Lasst den farbigen Polizisten die farbigen Viertel, und wir müssen da nie wieder auch nur einen Fuß reinsetzen. Die kümmern sich um ihre Angelegenheiten und wir uns um unsere.«

Dunlow schwieg und beobachtete Rake mit versteinertem Gesichtsausdruck. Die anderen sahen aus, als könnten sie seiner Argumentation entweder nicht ganz folgen oder als hielten sie ihn für verrückt.

»Gott sei uns gnädig«, sagte Helton schließlich und schüttelte den Kopf. Er winkte der Kellnerin, sie sollte ihm nachschenken. »Ein weißer Cop, der behauptet, dass wir mehr schwarze Cops brauchen. Du hast wohl drüben in Frankreich ein bisschen zu lang im Schützengraben gelegen, Junge. Bist wohl ein bisschen kriegsmüde.«

»Das ist ja eine ganz feine Geschichte, Rakestraw«, sagte Peterson, »aber dieses kleine Experiment kann nur auf zwei Arten enden. Entweder rennen die Nigger am Ende durch brennende Straßen und schießen mit Gewehren um sich, während die ganze verdammte Stadt im Chaos versinkt. Oder wir schieben ihnen ihre Marken so tief in den Hals, dass wir ihnen die Eier damit abschneiden können.«

*

Kaum waren Rake und Dunlow losgefahren, da meldete die Zentrale einen Überfall in Darktown. Eine ältere farbige Frau, die auf der Fitzgerald lebte, hatte »vier oder fünf« Männer kämpfen sehen, von denen sie einige für farbige Polizisten hielt.

»Klingt gut«, sagte Dunlow zu Rake, nachdem er der Zentrale mitgeteilt hatte, dass sie auf dem Weg seien.

*

Es handelte sich um eine Nebenstraße fünf Blocks südlich der Auburn, und Dunlow fuhr so schnell, dass er beinahe einen Haufen Negroes in der Mitte der Straße überfahren hätte; er bremste gerade noch rechtzeitig. Rake fragte sich, ob er mit dem Gedanken gespielt hatte, sie aus dem Weg zu räumen.

Negro-Officer Little legte einem von zwei Negroes, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Gehweg lagen, Handschellen an. Der andere war bereits gefesselt, seine Hände voller Blut. Ein paar Schritte weiter kniete Negro-Officer Boggs und hielt sich ein Taschentuch an die Stirn.

»Was haben die Nigger angestellt?«, bellte Dunlow.

Little blickte auf, nachdem er dem Mann die Handschellen angelegt hatte, seine Augen funkelten wütend. Er und Boggs waren immer noch außer Atem.

»Der hier hat den anderen niedergestochen«, sagte Little.

Rake wusste wenig über Little, der schwarz wie Pech und dünn wie Draht war, außer dass sein Onkel Chef des lokalen Negro-Blatts war. »Und als wir sie trennen wollten, hat der mit dem Messer eine Flasche nach Officer Boggs geworfen.«

Rake begriff, dass einer der Männer auf dem Boden nicht außer Atem war, sondern vor Schmerz stöhnte.

»Tja«, lachte Dunlow, »deshalb lass ich das die Nigger immer unter sich ausmachen, bevor ich mich da einmische.«

»Da waren zwei Kinder und eine Frau bei ihnen. Wir hielten das für keine gute Idee.«

Boggs wirkte, als wäre ihm schwindlig. Blut rann ihm über die Stirn, das Taschentuch konnte es kaum auffangen. Er schien es nicht eilig mit dem Aufstehen zu haben, brachte gerade so ein »Rufen Sie bitte den Krankenwagen« heraus.

»Ach, das wird schon wieder«, sagte Dunlow. »Musst halt an deinen Reflexen arbeiten.«

»Nicht für mich. Für ihn.«

Boggs deutete mit dem Ellenbogen des Arms, mit dem er seine Hand auf die Wunde presste, in Richtung eines der beiden Männer auf dem Boden.

»In den Bauch gestochen«, erklärte Little. »Sieht übel aus.«

Dunlow trat zu dem Niedergestochenen. »Umdrehen, Nigger.«

Rake hielt es für angebracht, zum Auto zu gehen, um einen Krankenwagen zu rufen, Dunlow selbst hatte bisher noch keinerlei Anstalten gemacht. Die Wagentür stand offen, das Funkgerät lag nur ein paar Schritte entfernt.

Der verletzte Negro konnte sich nicht aus eigener Kraft umdrehen, also trat Dunlow ihm in die Rippen.

Little ging dazwischen. »Er kann sich nicht umdrehen, Dunlow, er trägt Handschellen!«

Dunlow trat den Negro erneut, der heulte vor Schmerz auf.

Jetzt stand Boggs auf. »Rufen Sie den Krankenwagen.«

Dunlow ignorierte ihn. Rake überlegte, ob er selbst anrufen sollte. Doch er rührte sich nicht von der Stelle.

Little zog den niedergestochenen Mann vorsichtig auf die Knie, dann drehte er ihn so, dass er ihn gegen einen Telefonmast lehnen konnte. Das Blaulicht tanzte. Die Schmerzensschreie des Mannes waren wieder zu einem Stöhnen abgeschwollen. Er trug ein weißes T-Shirt ohne Ärmel, und seine untere linke Seite glänzte schwarz vor Blut.

»Ja, der hat dich ordentlich erwischt«, pfiff Dunlow durch die Zähne. Er machte immer noch keinen Schritt in Richtung Funkgerät, genoss es, die Sache hinauszuzögern.

»Warum wirfst du eine Flasche nach einem Polizisten, der dir helfen will?«

Die zusammengekniffenen Augen und der fest verschlossene Kiefer legten die Vermutung nahe, dass er zu große Schmerzen hatte, um zu reden.

Boggs machte einen kleinen Schritt nach vorn. »Ich ruf jetzt den Krankenwagen.«

»Komm nicht in die Nähe meines Wagens, Junge«, warnte ihn Dunlow.

Sie starrten sich an. Rake stand hinter Dunlow, und er konnte die Wut in Boggs’ Gesicht sehen. Der Schmerz und das Blut schienen die höfliche Fassade vom Gesicht des Predigersohns gewaschen zu haben.

Dann trat Dunlow den verletzten Negro mitten in die Stichwunde. Der Mann schrie auf und auch mindestens einer der Negro-Cops.

Dunlow lachte. Rake bemerkte, wie sich seine Hand um den Griff des Schlagstocks gelegt hatte.

»Was hast du dir dabei gedacht, Jungchen? Eine Flasche auf einen Polizeibeamten zu werfen?«, wollte Dunlow wissen. »Du hast gedacht, das sind keine echten Polizisten, stimmt’s?«

Der Negro war auf die Seite gefallen und rang nach Luft, was ihm ebenfalls große Schmerzen zu bereiten schien.

»Und weißt du, was?«, sagte Dunlow. »Du hast recht.«

Dunlow thronte über dem Negro. Rakes Hand umschloss immer noch den Schlagstock. Die beiden farbigen Beamten standen immer noch genau da, wo sie vorher gestanden hatten, aber sie schienen sich zu ducken, als machten sie sich auf das gefasst, was als Nächstes passieren würde.

»Denn weißt du, Freundchen, wenn du eine Flasche auf einen weißen Beamten geworfen hättest, wärst du jetzt schon ein toter Nigger.«

»Was wollen Sie überhaupt hier, Dunlow?«, fragte Boggs. »Wir haben nicht um Unterstützung gebeten.«

»Ich bin hier, weil das meine Stadt ist, Junge. Ich bin hier, weil ein paar brave Negro-Bürger aus der Gegend die Polizei um Hilfe gerufen haben. Deshalb bin ich hier. Die Frage muss doch verdammt noch mal lauten: Warum seid ihr hier?«

Dann zog Dunlow seine Gürtelschnalle nach oben, die Fußtritte hatten sie ein wenig tiefer unter seine Wampe rutschen lassen. »Ihr wollt einen Krankenwagen für den Nigger? Ruft ihn verdammt noch mal selbst.«

Rake folgte Dunlow zurück zum Wagen. »Dunlow, die brauchen einen Krankenwagen«, sagte er leise.

Dunlow starrte ihn an. »Den rufst du aber nicht mit meinem Funkgerät.«

Rake stand da, überlegte, was er tun konnte.

»Was ist dein verdammtes Problem, mein Sohn?«, fragte ihn Dunlow. Er sprach leise genug, damit die Negroes nichts von der Auseinandersetzung der Weißen mitbekamen. »Du willst den Niggern unbedingt helfen? Was ist denn jetzt mit deiner ›konsequenteren Rassentrennung‹?«

Rake fiel keine Antwort ein.

Dunlow öffnete die Fahrertür und stieg ein. »Einen Block entfernt steht eine Rufsäule. Ruf verdammt noch mal selbst an.«

Er knallte die Tür zu und fuhr davon, erwischte beinahe einen der liegenden Negroes.

Rake hatte das Gefühl, eine entscheidende Linie überschritten zu haben, so als wäre er ab jetzt auf sich allein gestellt.

Keiner der Negro-Beamten würdigte ihn eines Blickes, als er ihnen mitteilte, dass er einen Krankenwagen und einen Einsatzwagen rufen werde. Er rannte so schnell wie möglich zur Notrufsäule.

*

Zwanzig Minuten lang presste Little auf die Wunde des Mannes, während Boggs auf dem Gehweg saß und so tat, als benötigte er keine ärztliche Hilfe. Rake wusste, dass er nach dem Notruf die Zeugen hätte aufsuchen sollen, von denen die Beamten gesprochen hatten, eine Frau und ein paar Kinder. Doch die Lage schien ihm zu brenzlig, sodass er beschloss zu bleiben. Er hatte es nicht geschafft, Dunlow davon abzuhalten, den Mann zu attackieren. Und doch wollte er daran glauben, dass er ihn beim nächsten Mal aufhalten würde. Er würde einfach nicht mehr zulassen, dass ihm die Dinge entglitten. Nicht wie bisher.

Außer dem unverletzten Negro, der sich hin und wieder mit Unschuldsbeteuerungen zu Wort meldete oder etwas von einer Verwechslung und einem harmlosen Familienstreit faselte, in den Polizisten wirklich nicht hineingezogen werden sollten, sprachen sie eine Weile kein Wort.

Schließlich kam der Krankenwagen, und die drei Polizeibeamten halfen den Sanitätern dabei, den verletzten Mann, dessen Stöhnen besorgniserregend leise geworden war, in den Wagen zu heben. Rake und Little versuchten Boggs davon zu überzeugen, sich ebenfalls behandeln zu lassen, doch der weigerte sich.

»Ich hab keine Lust, für ein paar Stiche drei Stunden im Grady zu warten. Mir geht’s gut.«

Also kletterte Little als begleitender Polizist in den Krankenwagen.

Nachdem er abgefahren war, deutete Rake auf den anderen Negro. »Ich kann mit ihm auf den Wagen warten, wenn Sie zurückmüssen.«

»Es geht mir gut. Sie können gehen.«

Obwohl sein Verdächtiger Handschellen trug, schien Boggs nicht in der Verfassung, dass man ihn allein lassen konnte, also blieb Rake. Gemeinsam warteten sie eine Weile. Irgendwann fing Boggs an, zögerlich auf und ab zu laufen, seine Beine zu testen. Seine Stirn hatte aufgehört zu bluten, er warf das Taschentuch weg. Er sah dennoch aus wie der Tod. Auch Rake fing jetzt an, auf und ab zu gehen, und als sie weit genug von dem gefesselten Negro entfernt waren, beschloss Rake, dieses beschissene Schweigen zu brechen.

»Ihr erster Arbeitsunfall?«

»Der erste, der eine Narbe hinterlassen wird.«

Er wollte sich für seinen Partner entschuldigen, aber warum sollte er für Dunlow verantwortlich sein? Was war so eine Geste wert? Und was für Folgen hatte es, wenn er vor einem Negro, den er kaum kannte, nicht zu seinem Partner stand.

»Damit sehen Sie verwegen aus. Die Mädchen stehen auf so was.«

Boggs’ erste Reaktion war ein strenger Blick. Als kränkte ihn das und als wäre er bereit, deswegen Streit anzufangen. Dann wandte er den Blick ab.

Jesus, war doch nur ein harmloser Scherz, dachte Rake, das hätte er auch zu jedem anderen Cop gesagt, dem so was Undankbares passierte. Das war das Problem mit den Negroes. Entweder waren sie Clowns, die aus allem einen Witz machten, oder so verdammt ernst und schwer beleidigt, sobald sie sich kritisiert fühlten. Vielleicht war Humor der falsche Ansatz.

»Ich wollte Sie noch was zu der Toten fragen, die Sie gefunden haben«, sagte Rake. »Im Bericht steht, Sie haben den gesamten Müll durchkämmt?«

»War nicht gerade meine schönste Schicht. Wissen Sie, wer den Fall bearbeitet?«

»Nein.«

»Neuigkeiten brauchen lange, bis sie im Y in der Butler Street ankommen.«

»Ich sag Bescheid, wenn ich was höre.«

»Danke.« Boggs schien für einen Moment über etwas nachzugrübeln. »Ich frage mich, ob schon jemand mit Underhill gesprochen hat.«

»Mit wem?«

»Brian Underhill. Der letzte Mensch, mit dem sie lebend gesehen wurde.«

Rake brauchte eine Sekunde, aber dann erinnerte er sich an den Kerl, der gegen den Mast auf der Auburn gefahren war. Ihm fiel wieder ein, dass Boggs und Smith behauptet hatten, der Mann habe kurz vorher noch eine Farbige bei sich im Auto gehabt.

»Mir war nicht bewusst, dass wir vom selben Mädchen reden.«

»Ich hab’s in meinen Bericht geschrieben.«

»Nein, haben Sie nicht.«

»Wie bitte?«

Erneut schien Rake eine Art Alarmknopf an seinem Kollegen gedrückt zu haben. Er konnte nicht einschätzen, ob Boggs immer so leicht aus der Fassung zu bringen war oder ob es an dem Schlag auf den Kopf lag oder – was noch wahrscheinlicher war – an seiner jüngsten Begegnung mit Dunlow. An so etwas war Rake leider schon gewöhnt.

»Ich hab den Bericht zu dem Mord gelesen, Boggs. Da stand nichts über Underhill drin. Nichts über die Verkehrskontrolle. Gar nichts.«

Boggs starrte ihn nur an. »Und Sie haben ganz sicher den vollständigen Bericht gelesen?«

»Ja, ich habe ganz sicher den gesamten Bericht gelesen.« Jetzt war Rake derjenige, der verunsichert war. »Alle drei Seiten. Hab ihn heute Abend erst gelesen, und da stand nichts über Underhill.«

Boggs wandte den Blick ab, drehte sich dann vollständig weg, als suche er etwas. So standen sie längere Zeit da, bis es anfing, Rake nervös zu machen.

»Was denn?«, fragte er schließlich.

»Nichts.« Boggs wandte sich ihm wieder zu. »Ich dachte, ich hätte es reingeschrieben. Ich … muss es wohl vergessen haben.«

Schlampige Arbeit, hätte Rake beinahe gesagt. Boggs war nicht der allersympathischste Kollege, doch er strahlte eine gewisse Professionalität aus, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, als ein guter Polizist zu sein. Das respektierte Rake. Ein Predigersohn mit stets korrekter Aussprache, gepflegter Uniform und blank geputzter Marke, die Haltung militärisch vorbildlich. Ihn einen solchen Fehler zugeben zu hören, nahm ihm ein wenig den Glanz.

»Sie sollten ihn neu schreiben«, sagte Rake. »Ich glaube, die haben sonst keine Spuren.«

»Sie denken also, dass niemand den Fall bearbeitet.« Boggs klang vorwurfsvoll, als glaube er, Rake persönlich sei verantwortlich für die Mauertaktik der weißen Kollegen.

»Ja, ich schätze, das will ich damit sagen. Doch der Name einer verdächtigen Person in dem Bericht könnte das ändern.«

Noch mehr unangenehmes Schweigen von Boggs, bevor er schließlich sagte: »Das glaube ich nicht.«