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RAKE WAR GERADE dabei, die Burger auf dem Grill zu wenden, als seine Neffen Brooks und Dale Jr. sich an ihn heranpirschten. Dass sie ihre Hände hinter dem Rücken versteckt hielten, bedeutete entweder, dass sie ihn mit etwas bewerfen wollten, oder, dass sie auf harmlose Kids mit naiven Fragen machten.

»Onkel Denny?«, fragte Dale Jr., der Sechsjährige.

»Ja, bitte?« Rake nahm einen Schluck von seiner Cola.

»Stimmt das, dass du als Pfadfinder im Krieg warst, als Boy Scout?«

»Von wem hast du das gehört?«

»Mutter und Vater haben behauptet, du warst bei den Boy Scouts«, sagte Brooks, der Vierjährige mit den Sommersprossen.

»Ich war ein Scout. Aber gut, wahrscheinlich war’s wie bei den Pfadfindern.« Mit dem Pfadfinderdasein hatte das Ganze nicht die geringste Ähnlichkeit gehabt. »Ich war eher so eine Art Fremdenführer.« Das stimmte sogar, zumindest gegen Kriegsende.

Sonntags war Grillparty bei den Rakestraws. Wie üblich spielten Rake und seine Frau Cassie Gastgeber. Cassie war mit Baby Margaret und dem zwei Jahre alten Dennis Jr. im Haus sowie mit Rakes Schwester Sue Ellen und seinem Schwager Dale, der irgendwo bei seinem dritten oder achten Bier war. Rake sah durchs Fenster in die Küche und erhaschte Cassies Blick. Sie zwinkerte ihm zu. Er wünschte, die nächsten beiden Stunden wären schon vorbei. Es war einer seiner seltenen freien Abende, sein Tagesablauf glich also in etwa ihrem, und das Baby gestattete ihnen mittlerweile endlich ein wenig Zweisamkeit.

Durch das andere Fenster sah er seinen Vater Colson, der mit Dennis Jr. spielte und dabei durchaus glaubwürdig den glücklichen Großvater gab.

Die Jungs waren gerissen und löcherten Rake über den Krieg, sobald ihr Großvater außer Hörweite war. Rake redete selten darüber, besonders nicht vor Colson. Schon komisch, wie selbst die freche Brut davon Wind bekam.

»Hast du Menschen getötet?«, fragte Brooks.

»Brooks!« Dale Jr. verpasste seinem jüngeren Bruder eine auf den Hinterkopf, dann warf er Rake einen äußerst aufmerksamen Blick zu, sodass offenkundig wurde, wie ihn die Frage elektrisierte und dass er die Antwort gar nicht abwarten konnte.

»Fragt mich was anderes.«

Dale Jr. schien enttäuscht zu sein. Beinahe niedergeschmettert. Es dauerte eine Weile, bis ihm eine neue Frage einfiel. Wie lange beschäftigten sie diese Dinge schon? Tage, Wochen, Jahre?

»Was macht ein Scout?«

»Deine Großmutter, die vor deiner Geburt starb, kam als Teenager hierher. Sie sprach Deutsch und hat es mir beigebracht, als ich kaum älter war als ihr. Ich habe so viel geübt, dass ich es beinahe so sprechen konnte, als wäre es meine Muttersprache. Als der Krieg anfing, brauchte man Leute wie mich, die da drüben zurechtkamen.«

Jahre später, nach der Kapitulation, war er Fremdenführer gewesen. Er wurde im Konzentrationslager Dachau stationiert und sollte sicherstellen, dass alle Bürger im Umkreis das Lager besichtigten. Hier sind manche verbrannt worden. Und hier wurden sie vergast. In diesen Käfigen wurden sie gehalten. Zwei Monate lang. Wir wussten das alles nicht, hatten die »Touristen« behauptet. Und Fremdenführer wie Rake hatten geantwortet: Deshalb sind wir hier. Deshalb haben wir euer Land besetzt. Das hier hat eure Regierung getan. Wir sind hier, um euch zu befreien.

Rake nahm den Deckel vom Grill und wendete die Burger erneut, obwohl es nicht notwendig war. Seine Frau bevorzugte die Dinger halb verbrannt.

»Hat Onkel Curtis Deutsch gesprochen?«

Er schloss den Deckel wieder. »Nein. Onkel Curtis war nicht so fleißig.«

Die Jungs dachten kurz darüber nach, erstaunt, dass über ihren sagenumwobenen verstorbenen Onkel gesprochen wurde. Er hatte nur zwei Kriegsjahre im Pazifik überlebt, und es war zu bezweifeln, dass sich selbst die älteren Jungs noch an ihn erinnern konnten.

Dann bemerkte Rake, dass seine Neffen sich an den Händen hielten.

»Onkel Dennis?«, fragte der kleinere.

»Ja?«

»Wenn noch mal ein Krieg kommt, muss dann einer von uns sterben?«

»Der, der nicht so fleißig lernt?«, fügte Dale Jr. hinzu.

Rake ging in die Knie, sodass er mehr oder weniger auf Augenhöhe mit ihnen war. »Wir haben in diesem Krieg dafür gekämpft, dass es keine weiteren mehr geben wird. Macht euch keine Sorgen. Und jetzt rein mit euch, geht euren Eltern auf die Nerven. Und kein Wort mehr davon.«

»Jawohl, Sir«, riefen sie im Chor und trabten hinüber zur Haustür.

Sie wollten sie gerade öffnen, als Rake ihnen etwas hinterherrief. »Dale Jr., du kommst nächsten Herbst in die Schule?«

»Jawohl, Sir.«

»Streng dich an.«

*

Nach dem Essen begleitete Rake Dale und seine Familie zurück zu ihrem Haus und half ihnen beim Tragen von Colaflaschen für die Jungs und einer halben Wassermelone. Es war spät geworden mit der Nachspeise, und jetzt erhellten Glühwürmchen die Hortensien, während Dale Jr. und Brooks auf der Straße vorausliefen, die keinen Gehweg besaß, und die Warnungen ihrer Mutter vor Autos ignorierten.

Die beiden Familien lebten nur sechs Blocks voneinander entfernt in Hanford Park, einem beschaulichen Viertel im Westen der Stadt. Beinahe jedes Haus dort war ein Bungalow, und selbst wenn es noch ein weiteres Stockwerk gab, nahm man es kaum wahr unter dem dichten Astwerk von Pappeln, Tupelobäumen und Weißeichen. Die Baumkronen waren so dicht, dass die Straßenmitte selbst am Mittag noch im Schatten lag. Hanford Park war keine so wohlhabende Gegend wie Buckhead nördlich von Downtown oder Ansley Park und Inman Park im Osten, aber es gab alles, was sie brauchten: gute Schulen, einen Park in der Nähe, verlässliche Buslinien und Straßenbahnen, die Cassie zu den Läden Downtowns brachten, wenn Rake mit dem Auto zur Wache fuhr. Die Nachbarn lächelten und winkten, während sie sich um ihren Garten kümmerten oder bei einem rosafarbenen Sonnenuntergang auf der Veranda saßen.

Auch einige andere Cops wohnten in der Gegend, darunter sein verfluchter Partner.

Als sie bei Dale ankamen, wollte Rake ihm die Hand schütteln und eine gute Nacht wünschen, schließlich hatte Sue Ellen auch die beiden Bengel schon ins Haus gejagt, doch dann sagte Dale: »Warte kurz. Ich muss dir was zeigen.«

Dale marschierte die Straße hinunter, Rake folgte ihm.

»Das da mein ich«, sagte er und schien auf einen Neubau zu deuten, der nur einen halben Block entfernt stand. Das Holz war noch nicht gestrichen, und der Garten bestand aus nackter roter Erde, die man für das Fundament umgegraben hatte. Einige der Fenster waren so neu, dass noch die Klebebänder des Herstellers darauf hafteten.

»Was ist damit?«, fragte Rake. Er nahm die Gegenstände in eine Hand, sodass er mit der anderen einen Moskito von seinem Nacken verscheuchen konnte.

»Davon hab ich dir doch erzählt. Der Nigger hat es letzte Woche fertig gebaut.«

Rakes Mutter hatte ihnen, als sie klein waren, nie erlaubt, das Wort in ihrem Haus in den Mund zu nehmen. Den Rakestraw-Kindern war beigebracht worden, jeden unabhängig von seiner Hautfarbe zu achten. Es hatte Jahre gedauert, bis Rake ein paar Dinge klar wurden. Ihr Bewusstsein für die bösartigen Auswüchse von Rassenhass hingen zum Teil mit der Zeit des Ersten Weltkriegs zusammen, als sie als Einwanderin aus Deutschland hierhergekommen war und man ihre Familie als blutrünstige, kindermordende und Nonnen vergewaltigende »Hunnen« gebrandmarkt hatte. Rake glaubte nicht, dass seine Mutter jemals mit irgendwelchen Negroes befreundet gewesen war, aber sie hatte es selbst erlebt, dass jemand Worte als Waffe gegen sie verwendete, zumal in den so empfindlichen Jahren ihrer Jugend, und so zeigte sie keine Nachsicht mit Menschen, die ähnliche Taktiken anwendeten. Rakes Vater hatte ihr dabei stets Rückendeckung gegeben. Rake erinnerte sich, dass Curtis in seinen rebellischen Jahren der Hintern versohlt wurde, wenn er sich mit den farbigen Kindern geprügelt oder sie beleidigt hatte, und dass auch sein Vater das Wort nur selten in den Mund genommen hatte, etwa wenn er mit seinen Freunden auf der Veranda gesessen oder ein Spiel der Crackers gesehen hatte, weit außer Hörweite seiner Frau.

Rakes Schwager war dagegen ein großer Fan des Wortes.

»Ich glaube nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen musst«, sagte Rake.

»Sorgen? Ich mach mir keine Sorgen, Denny. Ich werde was dagegen unternehmen, und ich hab mich gefragt, ob du mir dabei helfen willst.«

Die halbe Wassermelone durchnässte Rakes Hemd. Die Häuser, an denen sie auf dem kurzen Spaziergang vorbeigekommen waren, wirkten nicht kleiner als die in seinem eigenen Block, die Bäume schienen gesund zu sein, und am Straßenrand lag kein Müll. Dennoch stand Dales Haus nur zwei Querstraßen von der inoffiziellen Grenze zum farbigen Teil der Stadt entfernt. Besagter Negro hatte sein Haus auf der falschen Seite gebaut.

»Der Nigger hat sein Haus nur einen Block entfernt von meinem da hingestellt«, sagte Dale. »Ich bin sicher, ihr habt es schön gemütlich da hinten, aber was passiert mit eurem hübschen neuen kleinen Zuhause, wenn dieser Block hier fällt und danach die nächsten beiden? Ich bin eure erste Verteidigungslinie. Du hilfst mir doch sicher, bevor’s zu deinem Problem wird. Die ziehen das auf wie ein verdammtes Kriegsmanöver, weißt du? Attackieren hier unsere Flanke, unterlaufen sie unten auf der North Street.«

Die Kriegsvergleiche hinkten. Dale sah auch nicht besonders gut, weshalb er für die Armee nicht infrage kam. Es war ein heikles Thema; offenbar dachte er, man zweifle nicht an seiner Sehfähigkeit, sondern an seiner Männlichkeit, zumindest behauptete das Sue Ellen.

Rake nahm die Wassermelone in die andere Hand wie ein Halfback, der sich auf den Ansturm der Gegenspieler vorbereitet.

»Ich hab nicht gesagt, dass mir das Viertel egal ist, Dale. Aber vielleicht wartest du erst mal ab, wer der Kerl überhaupt ist, bevor du gegen ihn Sturm läufst.«

»Wer er ist? Ein Nigger. Du siehst sie doch jeden Tag zur Genüge in Darktown, du weißt doch, dass man die nicht herkommen lassen darf. Willst du, dass deine eigene Nachbarschaft zu dem Ort wird, an dem du die ganze Nacht Streife läufst?«

»Das wird nicht passieren.«

»Verdammt richtig, weil wir es verhindern.«

Rake starrte wieder auf den Neubau, fürchtete, dass der Hausbesitzer herauskommen und Dale weiß Gott wie reagieren würde. Gleichzeitig war auch Rake nicht besonders begeistert von der Vorstellung, dass Negroes hierherzogen. Er hatte sein Haus nur mithilfe der staatlichen Unterstützung für ehemalige GIs finanzieren können und keine Lust auf eine völlig wertlose Hypothek, sobald das Grundstück von Negroes umzingelt war.

Dale kam näher, sprach jetzt mit gesenkter Stimme. »Ein paar Kumpel und ich haben schon einige Ideen, wenn du verstehst. Wir dachten, jemand wie du könnte uns dabei helfen.«

Jesus Christus. Rake war wütend auf sich selbst, weil er es so weit hatte kommen lassen. Er hatte allerdings auch keine Lust, sich mit seinem Schwager zu streiten, also versuchte er, sich zu beruhigen.

»Ich rate dir davon ab, das Gesetz zu brechen.«

Dale lächelte, als wollte er sagen: Der war gut, hab’s kapiert. Doch sein Lächeln verblasste, als er sah, dass Rake es nicht erwiderte.

»Äh, natürlich, klar, ich verstehe. Du musst das sagen. Wegen deinem Job und so, aber …«, Dale sprach jetzt noch leiser, »… aber als Familie, als Verwandtschaft, als Blutsverwandter meiner beiden Söhne hilfst du uns doch, oder?«

Ein anderer Moskito saß jetzt auf Rakes Nacken, doch er ließ ihn lieber saugen als eine Miene zu verziehen. »Ich rate dir davon ab, das Gesetz zu brechen«, wiederholte er. Wahrscheinlich war Dale nur betrunken, sagte sich Rake. Er würde sich nicht mehr im Detail an dieses Gespräch erinnern können. Er würde es seinem Schwager von der Polizei sicher nicht übel nehmen. Hoffte Rake. Er reichte Dale die Wassermelone. Der nahm sie und sah für einen Moment so aus, als hätte er keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Abendlicher Vogelgesang erfüllte die Luft, und Rake hatte sich schon oft gefragt, ob die Vögel sich lautstark gegenseitig vor der Nacht warnten oder ob sie im Grunde den ganzen Tag schon so laut gewesen waren und er zu beschäftigt, um es zu bemerken.

*

Am nächsten Abend kehrten Rake und Dunlow zu ihrem Wagen zurück, nachdem sie einen bewaffneten Raubüberfall bei einem Gemüsehändler auf der Ponce de Leon, Ecke Boulevard Street aufgenommen hatten. Der Himmel über ihnen war eine ruhelose Mischung aus Grau und Rosa, die Sonne war gerade erst untergegangen und entweder stand ihnen ein Sturm bevor oder Gott hatte heute Nacht einfach Lust auf freies Malen.

Minuten später fuhren sie langsam die Decatur hinunter, als Dunlow etwas erspähte.

»Na schau einer an«, sagte er beim Anblick eines langen Schattens, der den Gehweg entlangglitt.

Als sie an ihm vorbeifuhren, ging der Mann in eine Gasse. Dunlow wendete in drei Zügen und bog in die Gasse ein. Der Mann blieb stehen und drehte sich um, als er die Scheinwerfer auf sich spürte. Wie erstarrt hob er die Hände, als wollte er sich ergeben. Dunlow schaltete den Motor aus und stieg aus, Rake hinterher.

»Chandler, mein Junge. Wie schmeckt das Leben in Freiheit?«

»Viel besser, Officer Dunlow.« Der groß gewachsene Negro wirkte einigermaßen erleichtert, als er erkannte, dass er Dunlow vor sich hatte. Rake war so eine Reaktion fremd, normalerweise verspürten die Leute bei seinem Partner eher das Gegenteil. »Wirklich viel besser.«

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte sich Chandler Poe eine Rasur und einen ordentlichen Haarschnitt gegönnt. Sein sonst wirres rötliches Haar war mit Pomade zurechtgekämmt.

»Freut mich zu hören, dass sie dich rausgelassen haben«, sagte Dunlow. Er stand näher bei Chandler, als er das bei Weißen tat. Eine alte Maxime des Südens riet, Negroes in der Nähe zu behalten, damit sie nicht zu aufmüpfig wurden. Dunlow schien sie wörtlich zu nehmen.

»Du musst doch jetzt wahnsinnig dankbar sein, oder?«

»Ja, Sir, Officer Dunlow. Sehr, sehr dankbar.« Der Schmuggler richtete seinen Blick auf Rake, das brachte Dunlow zum Lachen.

»Officer Rakestraw gehört zu mir, Junge, mach dir wegen dem keine Sorgen.«

»Es ist ja nur, Officer Dunlow … Ich bin erst seit einem Tag wieder draußen, ich konnte bisher noch nicht …«

Er hörte auf zu reden, als er Dunlows linke Hand auf seiner Schulter spürte. Chandler war genauso groß wie Dunlow, aber eine ganz andere Gewichtsklasse. Die Hand sah aus, als könnte sie das Schlüsselbein des Negro wie einen Hühnerknochen brechen.

»Tja, Junge, die Gelegenheit ist günstig. Es gibt eine ganze Stadt voller Neger, denen deine Dienste gefehlt haben. Halt dich besser mal ran.«

»Ja, Sir.«

Die Hand ruhte noch für einen Moment auf Chandler. Rake merkte, wie sich sein Magen bei dem Gedanken an das, was normalerweise folgte, zusammenzog. Doch Dunlow hob seine riesige Pranke und senkte sie wieder. Ein freundliches Schulterklopfen, vielleicht mit ein wenig mehr Druck als notwendig, aber mehr nicht. Vorerst.