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LUCIUS ERKANNTE ZU SPÄT, dass es ein Fehler gewesen war, zu der Beerdigung zu gehen.
Er nahm nicht an allen Beerdigungen teil, die sein Vater leitete, doch die war etwas Besonderes. Er wusste, dass die Kirche voll sein würde, wusste, dass die Leute wütend und aufgebracht waren und nur sein Vater sie beruhigen konnte. Er war als Mitglied der Gemeinde hergekommen, obwohl er jede Sekunde daran erinnert wurde, dass er ihr längst nicht mehr auf dieselbe Weise angehörte wie früher.
Von Anfang an spürte er die Blicke. Er war es gewohnt, in der Kirche seines Vaters Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber das waren keine respektvollen oder freundlichen Blicke. Oh nein, die Beerdigung von James James Jameson war in der Tat eine ganz neue Erfahrung.
Er saß neben seinen Brüdern Reginald und William. William war immer noch am Morehouse und der Sohn, der am ehesten in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Reginald war schon immer ein wenig zu sehr den weltlichen Dingen zugewandt gewesen. Lucius selbst hatte mit der Kanzel geliebäugelt, hatte die Last der väterlichen Erwartung gespürt, eines Tages der Kirche vorzustehen, und bereits als Teenager angefangen, Predigten zu verfassen. Doch irgendetwas hatte nicht gepasst. Er hatte damit gerechnet, eine Stimme zu vernehmen, ein Zeichen zu empfangen. Stattdessen bekam er eine Vorladung zur Musterung.
Lucius beobachtete den Reverend und war wie immer beeindruckt von seinem Einfluss auf die Menge. Reverend Boggs war so groß wie Lucius, doch ein ganzes Stück breiter. Er zog Lucius oft damit auf, dass auch er eines Tages diese Statur annehmen würde, doch Lucius hatte den leisen Eindruck, dass das weniger mit der Genetik als mit dem vielen Essen zusammenhing, das einem Priester serviert wurde, wenn er Familien besuchte, um mit ihnen zu feiern oder zu trauern. Er war in der Tat ein viel beschäftigter Mann, und es gab Tage, an denen er an drei verschiedenen, über die ganze Stadt verteilten Abendessen teilnahm, ein kulinarisches Opfer, das er Gott darbrachte. Vor einer Menschenmenge gebot seine Leibesfülle jedoch Respekt.
Reverend Boggs sagte der Gemeinde, dass er wusste, wie wütend sie war, er war es auch. Er wusste, dass es Zeiten gab, in denen sie Gott anschreien wollten, weil er sich von ihnen abgewandt hatte. Er wusste das, denn auch er fühlte sich manchmal alleingelassen und wollte Antworten vom großen Mann da oben. Jeder Satz, der über seine Lippen kam, verursachte ein Nicken, ein zustimmendes Murmeln, gleichmäßig wie das Ein- und Ausatmen eines einzigen Körpers. Und doch fürchtete Lucius, dass jeder Satz – ob der Reverend es nun wollte oder nicht – jenen eine Stimme verleihen könnte, die dachten: Warum haben die Cops schon wieder einen von uns getötet? Wann hört das auf? Und warum hat Ihr eigener Sohn nichts dagegen unternommen, Reverend Boggs?
Lucius war Jameson nur ein einziges Mal begegnet, das war vor Jahren bei einem Kirchenfest gewesen. Er hatte keinen besonders guten Eindruck hinterlassen, aber da sprach womöglich der Snob aus ihm. Jameson war ungebildet wie seine Mutter und seine Geschwister, und seine Familie war gerade erst in die Kirchengemeinde eingetreten. Vielleicht hatte sich Jameson fehl am Platz gefühlt mit seinem schlecht sitzenden Hemd, den viel zu weiten Hosen und den viel zu breiten Vokalen. Vielleicht hatte er deshalb so viele schlechte Witze gerissen, weil er nicht gewusst hatte, worüber er sonst in so einer Gesellschaft hätte reden sollen.
Später hatte man Triple James wegen des brutalen, beinahe tödlichen Angriffs auf einen sechzehnjährigen weißen Jugendlichen verhaftet (der überlebt hatte, allerdings in einem Zustand, bei dem man sich wünschte, Gott hätte Mitleid mit ihm gehabt und den Job zu Ende gebracht).
Während der von der Öffentlichkeit mit Argusaugen verfolgten Gerichtsverhandlung hatten es einige Polizeibeamte mit der Wahrheit nicht so genau genommen, doch die (weiße) Jury hatte offensichtlich wenig Wert auf solche Dinge wie Beweise oder Fairness gelegt und sich keine zehn Minuten lang beratschlagt. Ein weißer Jugendlicher war vor einem Nachtklub in einem schwarzen Viertel zusammengeschlagen worden, mehr interessierte sie nicht. Wie der weiße Jugendliche dahin gekommen war und was genau er da wollte, war nicht angesprochen worden – das galt als respektlos gegenüber dem Opfer. Jameson hatte in der Nähe des Clubs gewohnt und war erst vor Kurzem wegen Körperverletzung verhaftet worden, somit galt er laut Staatsanwaltschaft als Gewaltverbrecher. (Besagte Anklage stammte von einer Schlägerei, in die er mit zwei anderen farbigen Teenagern geraten war, als einer von ihnen die Schwester des anderen beleidigt hatte. Das hatte man ihm krummgenommen, die Dinge waren ein wenig aus dem Ruder gelaufen, und obwohl niemand ernsthaft verletzt worden war, war inmitten der Prügelei ein Streifenwagen aufgetaucht, und man hatte alle drei für eine Woche ins Gefängnis gesperrt.) Jameson war ein vorbestrafter schwarzer Junge, da mussten die weißen Geschworenen nur eins und eins zusammenzählen.
Boggs fiel auf, wie angespannt er war, während sein Vater sprach. Bitte hör auf mit dem Gerede über die Polizei und Ungerechtigkeit, dachte er. Bitte komm endlich zum »Wir müssen alle zusammenhalten«-Teil. Es sah ihm nicht ähnlich, die Strategie seines Vaters während einer Messe infrage zu stellen, doch er war ihm fremder als sonst. Obwohl es nicht der Fall war, fühlte er sich, als wäre er in Uniform.
Dann vergaß Reverend Boggs für einen Moment den Mord und begann eine Geschichte zu erzählen, die sein Sohn so gut kannte, dass er schon beim Wort »Eisenbahn« wusste, was gleich kommen würde.
Jetzt erzählt er die Geschichte von Onkel Richard. Lucius musste gar nicht mehr zuhören, so oft hatte er sie schon gehört.
*
Damals, 1904, war Reverend Boggs noch der kleine Daniel Boggs gewesen, Sohn eines Postboten, der jahrelang stolz seine Uniform trug, die Post in Downtown austrug und so seine drei kleinen Söhne ernährte, mit anständiger Kleidung versorgte und in einem Haus lebte, das er nach langer Zeit umsichtigen Sparens von seinem eigenen Geld gekauft hatte.
Und dann kam diese eine Woche, als die hysterischen weißen Zeitungen von Vergewaltigungen und Angriffen der Negroes berichteten und die Leser vor der zunehmenden Selbstermächtigung der dunkleren Rasse warnten, sollten die Weißen nicht für sich selbst eintreten. Niemand aus der farbigen Gemeinde hatte eine genaue Vorstellung davon, woher die Geschichten kamen oder wie sie so plötzlich ins Bewusstsein der Weißen gedrungen waren. Plötzlich schienen alle Weißen gleichzeitig von einem Virus befallen zu sein, und man konnte nichts tun außer abwarten, bis das wieder vorbeiging. Das Problem war nur, dass zwar die Weißen vom Virus befallen wurden, aber andere Leute sterben mussten.
Der kleine Daniel Boggs war erst vier Jahre alt, geboren im ersten Monat des neuen Jahrhunderts, und ahnte nichts vom Virus der weißen Leute, wusste nicht, dass man seinen Vater davor gewarnt hatte, an dem Tag das Haus zu verlassen, und dass der Virus sich weiter ausbreitete und dafür sorgte, dass manche Weiße in Zungen redeten und sich auf die Brust schlugen, sich mit Pistolen und Gewehren, Spaten und Fleischermessern bewaffneten. Und doch war Mr. Boggs, der zuverlässige Postbote, zur Arbeit gegangen und hatte sogar noch etliche Briefe ausgetragen, bevor er die Menschenmengen sah, ihr Gebrüll hörte.
Der kleine Daniel wusste nur, dass sein Vater plötzlich mitten am Tag völlig außer Atem nach Hause kam. Dann wurden die Vorhänge zugezogen, das Licht gelöscht und die Türen verriegelt. Nur hin und wieder wurde die Hintertür geöffnet, wenn Freunde und Verwandte auf der Suche nach Zuflucht anklopften, schlau genug, sich nicht am Vordereingang blicken zu lassen.
Bald stieß Onkel Richard zu ihnen. Mit einer Schnittwunde am rechten Ohr und einer weiteren unter dem Haaransatz, das halbe Gesicht blutverschmiert. Daniel hatte so etwas noch nie zuvor gesehen, sein Lieblingsonkel sah aus wie ein Untoter. Daniel rannte schreiend davon, seine Mutter erwischte ihn erst im Kinderzimmer, zog ihn am Ohr und zischte, er müsse auf der Stelle leise sein. Sie durften nicht wissen, dass bei den Boggs jemand zu Hause war.
Also blieb Daniel so leise wie möglich weinend auf dem Bett sitzen, während sich die Erwachsenen um Richard kümmerten.
Gelegentlich konnte er sie hören. Hörte, wie der Virus sie durch die Stadt trieb.
Er hörte, wie die Erwachsenen von Feuer und Rauch sprachen, er hörte das Knallen, offenbar Schüsse, wenn man der Expertenmeinung seiner älteren Brüder Glauben schenkte, die extra in sein Zimmer gekommen waren, um ihm das mitzuteilen, bevor sie wieder nach unten in den Salon zu den Eltern gingen. Der Virus breitete sich in den Vierteln aus, und niemand wusste, wann es ihres erwischen würde.
Es klang, als wäre er ganz in der Nähe.
Erst ein paar Stunden später kam Onkel Richard zu ihm. Der letzte schwache Lichtstrahl der Dämmerung fiel durch den Vorhang und bewahrte den Raum vor völliger Dunkelheit. Der Virus verursachte draußen weiterhin merkwürdige Geräusche, Schreie und Gebrüll, Feuerwerkskörper und Knallfrösche, jemand sang. Richard trug einen Verband, am Ohr entlang und über der Stirn. Er sah aus wie die Soldaten auf Bildern aus dem Bürgerkrieg, die Daniel aus Büchern kannte. Richard lächelte den Jungen an, fragte ihn, ob es ihm gut gehe, warum er weinend vor seinem Lieblingsonkel davongelaufen sei. Du hattest doch keine Angst vor mir, oder? Daniel hatte damals ein so schlechtes Gewissen, eine solche Angst, die Gefühle seines Onkels zu verletzen, dass er mit nur vier Jahren lieber log und behauptete, er habe nur geweint, weil seine liebste Spielzeug-Eisenbahn kaputtgegangen sei.
Er würde sich noch lange fragen, warum er das gesagt hatte. Es stimmte, dass die Achse seines Holzzuges vor ein paar Tagen gebrochen war, doch es hatte ihm nicht besonders viel ausgemacht. Und doch sagte er es, und Onkel Richard lächelte.
Na, dann schauen wir mal, was Onkel Richard da machen kann. Wo steht sie denn?
Es war nicht leicht, die kaputte Eisenbahn in einem Zimmer von drei Jungs in fast vollständiger Dunkelheit zu finden. Doch es gelang ihnen, und plötzlich hielt Richard einen Schraubenzieher in der Hand. Richard war Zimmermann und gerade in der Werkstatt gewesen, als der Virus Besitz von den Weißen ergriffen hatte. Er war sofort hierhergerannt, die Taschen vollgestopft mit Werkzeug. Erst Jahre später, als er die Geschichte nacherzählte, fragte sich Daniel, ob Richard immer so viele Schraubenzieher in seinem Overall mit sich geführt oder ob er vor der Flucht möglichst viele scharfe Gegenstände mitgenommen hatte, um sich zu verteidigen. Onkel Richard sah sich das Spielzeug an, drehte das Rad an der gebrochenen Achse, griff in seine andere Tasche und holte einen kleinen Holzdübel hervor. Es hätte Daniel nicht gewundert, wenn er auch noch einen weißen Hasen oder eine Taube herausgeholt hätte. Der Dübel erwies sich als zu dick, aber – aha – in der anderen Tasche war einer, der besser passte. Nur Gott allein wusste, woran der Mann zuletzt gearbeitet hatte, aber an dem Tag war er perfekt ausgestattet, um Spielzeug zu reparieren, als käme er direkt vom Nordpol.
Innerhalb weniger Minuten und dank Holzleim aus einer anderen Tasche war der Zug so gut wie neu. Onkel Richard lehnte sich an die Wand und schubste den Zug über den Holzboden zu seinem ehrfürchtig staunenden Neffen, der ihn lächelnd zurückrollte. So ging das noch eine Weile. Daniel musste lachen (Richard erinnerte ihn sanft daran, es nicht zu laut zu tun), und der riesige Verband um den Kopf seines Onkels fiel ihm kaum mehr auf.
Dann wurde der Virus lauter.
Daniel schickte den Zug zurück zu Onkel Richard, in dessen riesige Hand er ganz hineinpasste. Er schickte ihn nicht zurück. Stattdessen nahm er ihn, stand langsam auf und öffnete den Vorhang einen Spalt, legte einen Finger auf die Lippen.
Der Virus ließ die weißen Menschen »Dixie« singen, und sie waren jetzt nah genug, sodass Daniel den gesamten Text verstehen konnte.
Daniel wünschte, sein Onkel würde den Zug wieder zu ihm schubsen, doch er begriff, dass gerade etwas Bedeutsames vor sich ging. Onkel Richard war bei ihm, es konnte ihm eigentlich nichts passieren, und doch hatte er Angst. Der Virus ließ Glas zerbrechen. Dann ein Knall und noch einer. Mehr Glas.
Jemand schrie. Danach Schritte und Gebrüll, als jagte man die schreiende Person. Es ist nur ein Spiel, flüsterte ihm Richard zu, nur ein seltsames Spiel, das die Leute spielen. Aber heute Abend musst du still bleiben.
In der Nacht musste Daniel aufs Klo und lief in den Flur, sah seine Onkel und Vettern im Salon und in der Diele versammelt. Das Licht war schummrig, sein Hirn matschig, und seine Mutter scheuchte ihn weg. Eine Weile fragte er sich, ob er nur geträumt hatte, dass sein Vater und sein Onkel Gewehre in der Hand hielten.
Zwei Tage später, nachdem der Virus der weißen Leute verschwunden war, trauten sich die Menschen langsam wieder aus ihren Häusern. Daniels Vater ging nach Absprache mit seinen Freunden wieder seiner Arbeit nach und Daniel, seine Mutter und seine beiden Brüder wagten sich nach draußen, in der Hoffnung, einen geöffneten Lebensmittelhändler zu finden, denn ihre Vorratskammer war leer.
Auf dem Weg fiel Daniel auf, dass die meisten Straßenschilder Hüte trugen. Das an der Ecke Juniper und Pierce trug einen grauen Derby. Das an der Bushaltestelle einen Block weiter eine karierte Schirmmütze. Ein schwarzer Fedora war über das Straßenschild an der Ecke Courtland und Ellis gestülpt.
Und da, an der Kreuzung Peachtree und Auburn, saß die blaue Mütze eines Postboten, so unverkennbar wie das Lachen seines Vaters. Daniel zog seine Mutter am Ärmel und zeigte darauf. Schau mal, Daddys Mütze! Er begriff nicht, warum ihre Miene gefror, als sie es sah, verstand nicht, warum sie seine Hand so fest packte, die Kinder weiterscheuchte und ihnen strenger als sonst befahl, den Mund zu halten.
Daniel dachte noch jahrelang an die Hüte, rief sie sich ins Gedächtnis, als man ihm später erklärte, dass sie Negroes gehört hätten, die der Mob getötet oder zusammengeschlagen habe. Man hatte die Hüte wie Trophäen in die Luft geworfen. Fast wie in Zeiten, als die Leute die Köpfe ihrer Feinde aufgespießt und sie den Aasgeiern überlassen hatten. Es war nicht der Hut seines Vaters gewesen, doch er hätte es sein können.
*
»Es hätten unsere Hüte sein können«, sagte der Reverend zu seiner Gemeinde. »Aber dieses Mal hat es James getroffen.«
In Wahrheit war Lucius so bestürzt über die Blicke und Kommentare, dass er seinem Vater gar nicht genau zugehört hatte, gar nicht hörte, wie der alte Mann eine Parallele zwischen der Tragödie damals und dieser hier zog. Welche Lektion er versuchte zu vermitteln, wofür die Holzeisenbahn stand. Ob Onkel Richard, der ebenfalls jung verstorben war, als Symbol für Jameson und andere dienen sollte, was er mit der Geschichte eigentlich sagen wollte. Er hatte sie so oft gehört, und jedes Mal lief es auf eine andere Moral hinaus. Im Kern blieb es bei der Aussage, dass einem das Leben furchtbar unfair und ungerecht erschien, doch das war es gar nicht, denn Gott hatte einen Plan. Selbst wenn dieser Plan ziemlich dürftig formuliert war und dringend und von Grund auf hätte überarbeitet werden müssen.
Nachdem die Messe zu Ende war, ließ Lucius seine Brüder wissen, dass er nicht an der Beerdigung teilnehmen könne, er müsse auf die Wache. Sie nickten, obwohl sie die Lüge durchschauten, schienen es ihm aber nicht übel zu nehmen. Kurz darauf bahnte er sich draußen seinen Weg durch die Menge, durch die Hüte und Anzüge, die Trauben von Angehörigen. Viele der Köpfe schienen in seine Richtung zu zucken. Dann kam es zu mehr als nur einem Zucken: Ein Mann mit grauem Haar und einem dichten Schnurrbart stellte sich ihm in den Weg, er kam näher, als es die Höflichkeit gebot.
»Sie sind einer der Polizisten?« Seine Augen waren rot, aber nicht so, als hätte er in der Kirche geweint, sondern als hätte er in letzter Zeit kaum geschlafen und vielleicht auch viel geweint, nur eben nicht in den vergangenen Stunden.
»Ja, Sir.«
Lucius kannte ihn nicht. Er gehörte nicht zur Gemeinde. Er wusste, dass jetzt alle Augen auf sie gerichtet waren, jedes Wort und jede Geste genau verfolgt wurden.
»Ich dachte, Sie unternehmen etwas gegen das hier«, sagte der Mann. »Mein Sohn sitzt im Gefängnis, genau wie meine Schwiegertochter, und was tun Sie dagegen?«
Es handelte sich also um Freddies Vater und Belles Schwiegervater. Boggs hatte gehört, dass sie in eine gut situierte Familie eingeheiratet hatte, und der feine Anzug dieses Gentleman schien das zu bestätigen.
»Es tut mir sehr leid, was passiert ist, Sir, und …«
»Die haben sie gefoltert. Das wissen Sie, oder? Haben ihr kochend heiße Maisgrütze über den Kopf gegossen. Was hat sie denn schon getan? Was hat sie getan? Wollte nur ihren Bruder vor denen beschützen.«
Boggs spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er konnte nicht beurteilen, ob die Leute um sie herum näher rückten oder ob es ihm nur so vorkam, weil völlige Stille herrschte.
Eine Frau tauchte neben dem Mann auf. Sie war klein und ihr Gesicht kaum sichtbar hinter dem schwarzen Schleier, der von ihrem breitkrempigen Hut perlte. Und doch spürte er ihren hasserfüllten Blick.
Der Mann presste einen Finger in Boggs’ Brustkorb. »Ich dachte, ihr wolltet dafür sorgen, dass das aufhört!«
Lucius schaute auf den Finger herab, holte tief Luft. »Wir tun, was wir können, um die Dinge zu verbessern, Sir.«
»Sie haben ihn auf der Straße erschossen wie einen räudigen Hund«, sagte die Frau.
»Mein Bruder arbeitet hart für unser aller Wohl«, sagte William. Boggs hatte vergessen, dass sein kleiner Bruder neben ihm stand. »Ich weiß, das ist eine schwierige Zeit für uns alle, aber es bringt nichts, wenn wir mit dem Finger aufeinander zeigen.«
Der Finger des Mannes schien in sich zusammenzufallen. Die Augen des Paares richteten sich nun auf William, sein sanftes, hübsches Gesicht, das ein Leben lang Gemüter beruhigt und Eifersüchteleien geschlichtet hatte. In einem Raum mit William schien es keinen Zorn zu geben. Diese Magie hatte er schon als Kind besessen. Jetzt war er ein Mann, zwanzig Jahre alt, hatte nur noch ein Jahr Schule vor sich, und seine Kräfte waren noch größer geworden.
Boggs stand nur da und spürte, wie ihn der scheinbar riesige Schatten seines jüngeren Bruders abkühlte.
»Mein Sohn darf immer noch nicht mit einem Anwalt reden.« Der Mann sprach jetzt mehr zu William, sein Ton wandelte sich, war weniger anklagend, eher leidend. »Ich weiß noch nicht einmal, ob mein Sohn noch lebt!« Die Tränen kehrten zurück. Seine Frau ergriff seinen linken Unterarm, als ob die Menge sie trennen wollte, statt ihnen beizustehen.
William nahm den anderen Arm des Mannes. »Mein Vater hatte gehofft, mit Ihnen sprechen zu können, Mr. Simmons. Warum gehen wir nicht rüber zu ihm?« Mit seiner freien Hand deutete er auf die Kirche. »Ma’am?«
Mrs. Simmons nickte, und William ging ruhigen, doch sicheren Schrittes voran. Zwanzig Jahre alt! Boggs sah die Hände seines Bruders auf den Schultern des trauernden Paares ruhen, sah, wie die Menge sich öffnete, sie passieren ließ und all die schwarzen Hüte und Kleider und die dunklen Anzüge sich demonstrativ wieder zueinander drehten, als hätte sie das alles gar nicht interessiert.
Boggs ging die Kirchenstufen hinunter, versuchte, nicht zu laufen, obwohl er es gern getan hätte.
»Hey«, sagte Reginald hinter ihm. »Komm, lass uns in mein Büro gehen. Ich hab eine Flasche Whiskey, kannst du sicher jetzt vertragen.«
»Du weißt, dass ich das nicht mehr darf.«
Reginald lachte. »Ach ja, entschuldige. Aber komm schon, lass uns irgendwohin gehen, wo du dich beruhigen kannst. Das brauchst du jetzt.«
»Ich wäre gerne allein.«
Reginalds Schritte verstummten, als Lucius weiterging.
»Bruder, genau das bist du.«
*
Am Abend erhielt er im Y einen Anruf von Toon aus der Redaktion der Daily Times.
»Wir haben was über eure Tote. Ein Farmer aus Peacedale hat sich gemeldet und meinte, es könnte sich um seine Tochter handeln.«
»Hat er Name und Nummer hinterlassen?«
»Otis Ellsworth, und er hat kein Telefon. Hat ein Münztelefon benutzt, irgendwo an der Hauptstraße einer Kleinstadt oder so. Meinte, er kommt morgen her und schaut sich die Leiche an.«
»Klang er überzeugt?«
»Hat gesagt, sie besaß kein solches Kleid, soweit er weiß, aber sie wohnt seit ein paar Monaten in Atlanta und hat sich vermutlich neue Sachen gekauft. Meinte, sie hat ein Muttermal auf der Schulter, und sie haben seit ein paar Wochen nichts mehr von ihr gehört, so wie sonst.«
Die Tote befand sich im Leichenschauhaus, und das war im Zentralgebäude. Weder Boggs noch die anderen farbigen Beamten durften es betreten, das war undenkbar.
»Wann, sagte er, wollte er kommen?«
»Es gibt einen Zug, der um halb eins am Hauptbahnhof ankommt«, sagte Toon. »In dem wird er sein.«
Jemand hatte Boggs’ Bericht gefälscht und Brian Underhill herausgestrichen – und damit einen Ex-Polizisten geschützt, der nach Recht und Gesetz Hauptverdächtiger einer Ermittlung sein sollte. Aber warum? Genau wie bei Jamesons Beerdigung fühlte er die wutentbrannten Blicke seiner Nachbarn auf ihm, sie nannten ihn unwürdig, einen Versager. Im Fall Jameson hatte Boggs nichts ausrichten können, doch die Tote war etwas anderes.
Boggs schwor sich, Mr. Ellsworth an der Zentrale abzufangen.