10

RAKE BETRAT DEN Observationsraum. Aufgrund des spärlichen Lichts sah er zuerst Otis Ellsworth, der auf der anderen Seite der Scheibe im Verhörraum an einem leeren Tisch saß. Rake hatte in den letzten Monaten einige Leute in dem Raum sitzen sehen, und alle hatten sie auf ihre Weise gleich einsam gewirkt. Zugegeben, diese Art von Einsamkeit konnte man nicht messen oder vergleichen, doch der dünne Negro hier war auf jeden Fall einsam.

Als sich Rakes Augen an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte er auch die beiden anderen Cops im Observationszimmer.

»Auch wegen der Show hier?« Rake erkannte die Stimme von Dunlows Kumpel Brian Helton, aber mehr auch nicht, Helton saß mit dem Gesicht zum Einwegspiegel gewandt.

»Will nur dabei sein, wenn hier hoffentlich ein Fall abgeschlossen wird.«

»Der wird abgeschlossen, garantiert«, sagte ein älterer Cop in Zivil. Große Nase, rote Wangen, schwarzer Anzug. »Und du bist?«

»Denny Rakestraw, Sir. Ich arbeite mit Officer Dunlow zusammen.«

»Setz dich und schau zu, wie man eine Vernehmung richtig anstellt. Sharpe holt aus jedem ein Geständnis raus. Vor allem wenn er Clayton dabeihat.«

»Clayton hat doch für die Dogs gespielt, oder?«, fragte Helton.

»Middle Linebacker«, sagte der Cop mit der großen Nase. »Ich hab ihn mal spielen gesehen. Dem willst du nicht unter die Räder kommen.«

Es gab drei Metallstühle in dem Raum, also nahm Rake den noch freien.

»Die Polizei von Peacedale sagt, er hat keine Vorstrafen, aber dass er ein komischer Kauz ist«, sagte die große Nase.

»War ’n hübsches Mädchen, hab ich gehört«, antwortete Helton.

Wo hat er das gehört?, fragte sich Rake. Von wem? Verdammt, mittlerweile sieht sie alles andere als hübsch aus. Nur Boggs und Smith haben sie noch in der Nacht vor ihrem Tod gesehen.

»Ich wette, der redet, bevor wir ihm auch nur ein Haar gekrümmt haben«, sagte Helton.

»Nicht bei der eigenen Familie. Der wird das erst mal abstreiten.«

Einen Moment später öffnete sich die Tür zum Verhörzimmer und die Detectives Sharpe und Clayton traten ein. Ellsworth richtete sich, so weit er konnte, auf.

»Lass die Hände auf dem Tisch«, befahl Clayton, der Linebacker.

Ellsworth gehorchte.

»Erzähl uns von deiner Tochter, Otis«, sagte Sharpe.

Ellsworth starrte geradeaus, wich seinem Blick aus. »Was … was wollen Sie denn wissen, Sir?« Diese leise Stimme. Rake konnte ihn über das Mikro kaum verstehen.

»Wann ist sie nach Atlanta gezogen?«

»Denke, das war im Februar, Sir.«

»Warum ist sie zu Hause ausgezogen?«

»Na ja, Sir, sie wollte was Neues erleben, könnte man sagen. Wahrscheinlich hat sie zu viele Geschichten über das Leben in der Stadt gehört, Sir.«

»Viele von euch sind hergezogen, stimmt schon. Uns geht langsam der Platz für euch aus.«

»Der Witz ist, dass viele in den Strafkolonien landen«, fügte Clayton hinzu, »und die liegen außerhalb der Stadt. Wenn man so will, kommen sie also hierher, nur um sofort wieder weggeschickt zu werden.«

»Aber bei Mord geht’s nicht in die Strafkolonie, dafür wirst du gehängt.«

Rake konnte den Schweiß erkennen, der Ellsworth die Wangen hinunterlief. Er saß im heißesten Raum des Gebäudes. Sharpe beugte sich nach vorn. »Lass mich mal eins von Anfang an klarstellen, Otis. Ich hab keine Ahnung, mit was für Polizisten ihr da draußen in Peacedale zu tun habt, aber wir hier sehen eine Menge Morde. Wir sehen eine Menge hässlicher Dinge. Ich hab mehr als genug gesehen. Und ich brauch keinen farbigen Bengel, der mich hier auf meiner eigenen Wache verarscht, klar?«

»Ja, Sir.«

»Na gut.« Sharpe stand auf. »Was wollte sie in Atlanta?«

»Sie war ein Dienstmädchen, Sir.«

»Und das hat sie auf deiner Farm gelernt?«

»Nein, Sir. Als kleines Ding hat sie noch auf der Farm mitgeholfen, aber als sie älter war, hat sie als Dienstmädchen für weiße Familien in Peacedale gearbeitet. Vier, fünf Jahre lang. Die waren nicht glücklich drüber, dass sie ging.«

»Und du, Otis? Wie hast du dich gefühlt, als dein kleines Mädchen dich verlassen hat?«

Ellsworth hielt inne. »Ich hab mir Sorgen um sie gemacht, Sir.«

»Warum das, Otis?«

»Sie kannte das Leben in der Stadt nicht. Wir haben uns große Sorgen gemacht.«

»Aber du hast sie trotzdem hierherkommen lassen, so ganz alleine?«

»Nein, Sir, meine Frau hat eine Tante hier. Sie hat Lily geholfen, ein Gästezimmer bei guten Leuten zu finden, und sie hat auch gesagt, sie hilft ihr, eine Arbeit zu finden. Aber, ähm, ich glaube, sie ist irgendwann ausgezogen.«

»Und dann wolltest du sie wieder nach Hause holen, richtig, Otis?«

»Du wolltest nicht, dass deine Tochter abhaut und ihr eigenes Geld verdient, statt daheim der Familie zu helfen, richtig?«, fügte Clayton hinzu.

»So ist das nicht, Sir. Ich bin das erste Mal seit zwei Jahren in Atlanta.«

Clayton schlug Ellsworth auf den Hinterkopf, so hart, dass es ihn nach vorn riss. Der Farmer ließ seinen Kopf noch einen Moment unten, für den Fall, dass ein erneuter Hieb folgte.

Sharpe atmete theatralisch aus, um seine Ungeduld zu demonstrieren. »Spar dir die Tricks, Otis. Wir können das alles überprüfen, weißt du. Die Polizei in Peacedale hat dich auf dem Radar.«

Ellsworth wischte sich den Schweiß von den Augenbrauen, seine Hand zitterte. Dann wischte er sie an der Hose ab, bevor ihm wieder einfiel, dass die Cops gesagt hatten, er solle sie in Sichtweite lassen.

»Sie können Mr. Timley fragen, Sir. Er ist der weiße Mann, dem das Land gehört, auf dem wir arbeiten. Er kann Ihnen bestätigen, dass ich nie weg war. Nur heute.«

»Ach, kennen wir etwa wichtige Leute?«, verspottete ihn Clayton.

»Ich mach’s kurz, Otis«, sagte Sharpe. »Wir wissen, dass du es warst. Das wissen wir. Könnte gar nicht offensichtlicher sein. Du hast keine einzige Träne vergossen, seit du hier bist, noch nicht mal beim Anblick dieser hässlichen, aufgedunsenen, stinkenden Leiche. Ich weiß, wie’s aussieht, wenn Leute trauern, Otis. Und besonders die Neger, meine Güte, ihr lasst ja alles raus. Und du trauerst nicht, Onkel. Kein Stück. Du bist vielleicht traurig, das geb ich zu. Traurig, dass wir dich erwischt haben. Vielleicht bereust du’s sogar ein bisschen. Aber trauern tust du nicht.«

»Bereust du’s, Otis?«, fragte Clayton.

Ellsworth schien seine Spucke hinunterzuschlucken, vielleicht auch Blut, womöglich hatte er sich beim Schlag auf den Kopf in die Zunge gebissen. Es dauerte eine Weile, bis er sagen konnte: »Ich bereue eine Menge Dinge, Sir.« Ellsworths Finger schienen sich in den Holztisch zu bohren. Sie wirkten kräftig, und Rake hätte sich nicht gewundert, wenn er die oberste Schicht der Eiche mit den Nägeln abgekratzt hätte. Rake spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und er angefangen hatte zu schwitzen.

»Lily und ich haben uns nie besonders gut verstanden, das bereue ich.« Das »Sir« ließ Ellsworth jetzt weg, seine Augen füllten sich mit Tränen, und sein Hals war leicht geschwollen. »Am meisten tut es mir um meine Frau leid. Das wird sie nicht verkraften.«

»Aber du schon?«, fragte Clayton. »Du wirkst ja gar nicht so am Boden zerstört, obwohl man deine eigene Tochter einfach so ermordet hat.«

»Vielleicht wär’s schlimmer, wenn sie mein eigenes Fleisch und Blut wär. Sie stammt von einem anderen Mann.«

»Aha!«, entfuhr es Helton im Observationszimmer. »Volltreffer.«

»Du geiler Bock«, sagte Riesennase und wedelte mit dem Finger vor der Scheibe.

Die beiden Detectives im Befragungszimmer waren beinahe genauso begeistert. Sie sahen sich an, genossen den Augenblick. Dann übergab Clayton an Sharpe.

»Das ist doch mal ein interessantes Detail, Otis. Sehr interessant. Ziemlich schade, dass du uns das so lange vorenthalten hast.«

»Wir haben dir doch gesagt, du sollst uns nicht verarschen«, sagte Clayton.

»Oh, ich bin mir sicher, dass das hart für sie wird«, sagte Sharpe. »Aber auch nicht viel härter als die Art, wie du ihre Tochter angeglotzt hast. Muss schon hart für deine Frau gewesen sein, mit anzusehen, wie du mit Blicken fremdgehst. Und das im eigenen Haus.«

Ellsworth hatte seine Augen geschlossen, um seine Tränen zurückzuhalten, schien jetzt erst zu begreifen, worauf die Cops hinauswollten. Er öffnete sie wieder, sie waren rot und feucht.

»Nein, nein, Sir, so ist das nicht.«

»Wie alt war die Kleine, als du mit deiner Frau zusammengekommen bist, Otis? War sie alt genug für dich oder hast du noch ein paar Jahre gewartet, bis du Witterung aufgenommen hast?«

»Ich hab das Mädchen nie angerührt.« Er richtete sich auf, drehte den Kopf zu beiden Seiten, den Blick sicherheitshalber nicht höher als auf Brusthöhe der weißen Männer. Der Blickkontakt eines Farbigen.

»Ich hab sie groß zogen wie meine eigene Tochter.«

»Ich hab dir doch gesagt, Otis, wir haben schon alles gesehen. Loses Weibsbild mit unehelichem Kind nimmt sich einen neuen Kerl, der sie unterstützt, aber der kann seine Finger nicht von dem kleinen Mädchen lassen. So was passiert.«

Rake wusste, dass er kein Genie in Sachen Polizeiarbeit war, aber er konnte sich kaum vorstellen, dass Ellsworth log. Vielleicht lag es auch an seinem bedauerlichen Hang, sich stets auf die Seite der Unterdrückten zu schlagen. Vielleicht stank ihm aber auch die unprofessionelle Art der beiden Vernehmer. Warum fragt ihr nicht nach Underhill, dem Mann, der zuletzt in ihrer Gegenwart gesehen wurde? Sagt euch der Name überhaupt was? Er war sich nicht mehr sicher, ob es sich hier um schlampige Polizeiarbeit oder Schlimmeres handelte.

»Wir haben gehört, dass sie ein sehr hübsches Mädchen war, Otis.«

»Und du hast sie im Müll liegen lassen.«

»Hast uns noch nicht mal gefragt, wie sie gestorben ist. Unschuldige Eltern fragen das normalerweise.«

Rakes Mund war schon trocken, der von Ellsworth musste ausgedörrt sein. Der Farmarbeiter schien nur noch stottern zu können, bevor er schließlich sagte: »Ich hab die Schusswunde gesehen.«

»Du erkennst Schusswunden?«

»Ich bin Jäger.«

»Also besitzt du eine Schusswaffe?«

»Ein Jagdgewehr.«

»Bist du ein guter Schütze?«

Ellsworth wandte den Kopf, und das erste Mal schaute er Sharpe in die Augen. »Ich hab ihr nichts getan.«

Auf der anderen Seite beugte sich Clayton nach vorn und stieß seine Faust in Ellsworths Rippen. Hätte der Farmer damit gerechnet, hätte er wohl aus Stolz die Zähne zusammengebissen, doch da der Schlag aus der anderen Richtung kam, schrie er auf.

»Hätte ihm besser einen auf den Solar Plexus gegeben«, kritisierte Helton im Observationsraum.

»Dann können sie nicht mehr sprechen«, korrigierte ihn Riesennase. »Kannst noch nicht mal mehr Luft holen danach. Du willst doch ein Geständnis, du Dummkopf, oder nicht? Also muss er noch reden können.«

»Trotzdem.«

»Die machen das schon noch, wenn’s nötig ist.«

Ellsworth schien auch so Probleme mit dem Atmen zu haben. Seine Handflächen lagen ausgestreckt auf dem Tisch, er war in sich zusammengesackt, sein Kopf hing so tief, dass Rake sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Was ist mit deinen Manieren, Otis? Das passiert, wenn einem bewusst wird, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Normalerweise weiß ein Neger sich zu benehmen, aber wenn man so viel Dreck am Stecken hat wie du, denkt man, das ist alles nicht mehr nötig. Hab ich recht?«

Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sagen konnte: »Ich war’s nicht, Sir.«

Clayton schlug ihm ins Gesicht. Gerade hart genug, um ihn zu demütigen. Und ihm zu zeigen, dass er nicht vor seinem Gesicht haltmachte.

»Sie ist vor dir weggelaufen, oder?«, fragte Sharpe. »Sie hat gesehen, wie du sie angestarrt hast. Sie wusste, was ihr blühte.«

Ellsworth schüttelte den Kopf.

Clayton war um Ellsworths Stuhl herumgelaufen, um mit seinem Partner Plätze zu tauschen, und vollführte jetzt den spiegelverkehrten Schlag in die andere Seite der Rippen.

Rake wünschte, er wäre nicht hergekommen. Es war kein Spaß, das mit ansehen zu müssen. Für Helton und Riesennase offensichtlich schon. Er stand auf, machte zwei Schritte in Richtung Tür.

»Ausgerechnet jetzt geht er«, sagte Helton zu Riesennase.

Rakes Hand verweilte auf dem Türgriff. »Wann fragen die nach Underhill?«

»Nach wem?«, fragte Helton.

»Brian Underhill. Die Person, mit der sie zuletzt lebend gesehen wurde.«

Riesennase hatte geradeaus gestarrt, doch jetzt drehte er sich zu Rake um und musterte ihn eindringlich.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die nach ihm fragen«, sagte Riesennase langsam und deutlich. Mit einer Stimme, die beinahe etwas Physisches hatte, selbst wenn er sich nicht bewegte.

»Warum nicht? Vielleicht weiß der Vater was über eine gemeinsame Vergangenheit von ihr und Underhill?«

»Ich kann hier nichts mehr verstehen wegen deinem Gekläffe«, sagte Riesennase. »Bist lauter als ein Jagdhund, der seinen Knochen verloren hat. Los, mach dich woanders nützlich.«

Rake ging. Die Bemerkung hatte gesessen. Er würde sich tatsächlich woanders nützlich machen. Im Gang klopfte er an der Tür zum Verhörraum.

Zunächst Stille. Dann öffnete sich die Tür. Nur einen Spalt. Ein Streifen von Claytons Gesicht tauchte auf, verschwitzter, als es durch die Scheibe gewirkt hatte. Feindseliger Blick. »Was?«

»Fragt ihn, ob ihm der Name Underhill etwas sagt.«

Es dauerte zu lange, bis Clayton antwortete. Als hätte sich das Adrenalin in seinem Blut so angestaut, dass er nicht einfach so auf eine weniger aggressive Haltung umschalten konnte. »Wie bitte?«

»Die Person, mit der sie zuletzt lebend gesehen wurde, war ein weißer Mann namens Brian Underhill. Sie befand sich in seinem Wagen, am Abend des neunten Juli, in Darktown.«

Clayton blinzelte mehrmals, atmete schwer. »Wer sagt das?«

»Zwei der farbigen Cops. Die haben sie zusammen gesehen.«

Clayton schüttelte den Kopf. »Farbige Cops? Fick dich.« Er schloss die Tür und ging wieder an die Arbeit.