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BOGGS WAR STINKSAUER, als er den weiten Weg nach Hause zurücklegte. Er war ein großes Risiko eingegangen, durfte mindestens mit einer Strafpredigt von McInnis und im schlimmsten Fall mit einer Suspendierung rechnen, und das für nichts und wieder nichts. Höchstwahrscheinlich verhörten die weißen Cops Ellsworth in diesem Moment und wendeten zweifellos Gewalt an. Was hatte er auch anderes erwartet?

All die Wählerstimmen, bei deren Registrierung er geholfen hatte, sie alle führten ein Ende der Polizeibrutalität als wichtigsten Grund für farbige Cops an. Und doch hatte sich dadurch offenbar nichts geändert. Es passierte nach wie vor. Überall, auf der Wache genau wie in den Straßen. So wie die beiden Detectives Ellsworth abgeführt hatten, konnte man sich vorstellen, wie es weiterging. Das und Dunlows Ausraster letzte Nacht machten es geradezu offiziell mit Stempel vom APD: Boggs war nichts weiter als ein belangloses Aushängeschild.

Er hätte nie mit dem Reporter von der Daily Times reden sollen. Er hätte die Familie weiter im Unklaren lassen sollen, hätte das Geheimnis um Lilys Verschwinden bewahren sollen. Auch das wäre die Hölle für sie gewesen, aber nicht diese. Er hatte ihre Hölle einfach nur gegen die nächste ausgetauscht. Das war alles, was Officer Lucius Boggs für seine farbigen Mitbürger tun konnte: sie in die nächste Hölle schicken.

Die einzige Möglichkeit, den Tag noch zu retten, war erneut mit einem Risiko verbunden. Doch war er wirklich so dumm? Wollte er sich um seinen Job bringen? Waren dieser einzelne Farmer und seine Tochter es wert?

Er kehrte um und ging zurück zur Wache.

*

Die Einwohner Atlantas sahen nicht oft farbige Männer vor dem Polizeihauptquartier herumlungern, doch genau das tat Boggs. Er stand an der gegenüberliegenden Straßenecke neben einem Laternenmast mit rotem Klebeband, das eine Bushaltestelle markierte. Er hatte die Atlanta Constitution in der Hand, wobei er sie nicht wirklich las. Überflog den einen oder anderen Artikel, ließ das Polizeigebäude nicht aus den Augen.

Die weißen Detectives hatten Ellsworth vor circa anderthalb Stunden in Richtung Verhörzimmer abgeführt. Nach Boggs’ Einschätzung musste der Mann längst wieder auf freiem Fuß sein. Oder verhaftet. Das hoffte Boggs nicht. Er wollte sich mit dem Mann unterhalten, obwohl er nicht ganz sicher war, wie genau er das bewerkstelligen sollte, wie lang er überhaupt hier stehen bleiben konnte.

Er war ein Cop, der eine Polizeiwache observierte.

Er hatte ungefähr zehn Minuten gewartet, als ihn zwei weiße Polizisten, die aus dem Gebäude kamen, sahen, sich etwas zuraunten und ihn beobachteten.

Boggs fluchte leise, während sie quer über die Straße auf ihn zuliefen. Er kannte sie nicht, aber womöglich kannten sie ihn. Es würde sicher noch Jahre dauern, bis er sich all die Gesichter der weißen Cops merken konnte, doch wie lang dauerte es, bis sich die Cops die acht farbigen Gesichter in ihren Reihen eingeprägt hatten?

»Was machst du hier, Junge?«

»Ich warte«, sagte er und sah von seiner Zeitung auf. Die Cops wirkten beide jünger als er, die Highschool konnte noch nicht lange her sein. Vielleicht lagen ein, zwei Jahre Aushilfsjobs dazwischen, bevor sie sich zur Aufnahmeprüfung entschlossen hatten. Boggs war klar, dass er besser darin werden musste, sich Gesichter zu merken und sie zu beschreiben, aber gerade fiel ihm nur eine zutreffende Beschreibung für sie ein: jung, weiß und wütend. Er konnte sie noch nicht einmal richtig auseinanderhalten.

»Das nennt man ›Herumlungern‹«, sagte der eine. »Du verschwindest jetzt besser.«

Der Blick des anderen fiel auf Boggs’ Verband. »Sieht so aus, als hättest du deine Tracht Prügel schon bekommen, wär doch schade, wenn du noch eine …«

»Mein Name ist Officer Lucius Boggs, und ich warte auf jemanden.«

Die weißen Cops warfen sich einen Blick zu. »Ach du Scheiße«, sagte einer von ihnen.

Der andere kam näher. »Du hast hier nichts zu suchen. Geh heim zu deinesgleichen.«

»Ich warte auf jemanden.« Er bemühte sich um einen entspannten Gesichtsausdruck. Jahrelang hatte man ihm beigebracht, genau diese Art von Konfrontationen zu vermeiden, in denen er sich nun ständig wiederfand. Auch nach drei Monaten irritierten sie ihn noch gleichermaßen. »Sobald er kommt, bin ich weg.«

»Auf wen wartest du?«

Er wollte so etwas sagen wie: Das ist meine Angelegenheit, kümmert euch um eure. Wollte sie fragen, ob nicht der Streifendienst auf sie warte. Er hatte Lust zu stänkern, und im Moment interessierte ihn auch nicht, dass sie 2:1 in Überzahl waren. In Wirklichkeit hatten sie Tausende hinter sich.

Also versuchte er, freundlich zu wirken, lächelte sogar. Hasste sich dafür. »Wie lange seid ihr schon beim Verein, drei Monate, so wie ich? Und da sucht ihr schon Ärger?«

Sein Bluff funktionierte nicht. »Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Geld wir bekommen, wenn wir dich fertigmachen? Da ist eine Menge Geld auf deinen Kopf ausgesetzt.«

»Hab ich gehört.« Boggs schoss das Adrenalin ins Blut, und er merkte, wie seine Brust anfing zu beben. Er befürchtete, dass der Energiestoß ein Zittern auslöste und er aussah, als hätte er Angst. Oder dass sich die Energie Bahn brach und er einem von ihnen eine verpasste. Er war sich nicht sicher, was schlimmer war. »Vor ein paar Wochen waren es noch 75 Dollar, oder? Sind wir schon bei hundert? Wusste gar nicht, dass ein Negro nach Abschaffung der Sklaverei noch so viel wert sein kann.«

Einer der Cops lächelte, der andere kam Boggs noch näher und sagte: »Einen Scheiß bist du wert.« Er blieb noch für einen Moment so stehen, dann wich er zurück, und die beiden weißen Cops liefen davon. Bis sie an der nächsten Querstraße waren, schauten sie noch zweimal über die Schulter zu ihm, dann waren sie außer Sichtweite.

Boggs’ Herz raste immer noch, und er musste herumlaufen, um seinen Puls zu verlangsamen. Grundgütiger. Er wollte nach etwas treten. Versuchte sich zu beruhigen, begriff, dass er mit seinem Auf- und Ablaufen wirkte wie ein vollgedröhnter Junkie und damit noch mehr Aufmerksamkeit erregte.

Zwanzig Minuten später verließ Ellsworth das Hauptgebäude. Er lief noch langsamer als heute Morgen. Da war es die Angst gewesen, jetzt war es der Schmerz. Boggs konnte sehen, wie er mit zusammengebissenen Zähnen über die Straße hinkte.

»Mr. Ellsworth«, rief ihm Boggs beim Überqueren der Straße zu. Ellsworth zuckte zusammen, wich einen Schritt zurück. Die hastige Bewegung ließ ihn nach Luft schnappen, und er presste eine Hand auf die linke Brust. Sein Gesicht sah unversehrt aus, die Detectives wussten, dass man am besten tiefer zuschlug. Sein Hut war weg. »Ich hatte gehofft, dass wir uns kurz unterhalten können.«

»Hab genug geredet.« Die Stimme war brüchig.

»Ich bitte Sie, Sir. Ich will Ihnen nur ein paar Fragen zu Ihrer Tochter stellen.«

»Das haben Ihre weißen Kollegen schon getan.« Ellsworth begann davonzuhinken. Boggs hob die Hände.

»Ich tue das anders als sie.«

Ellsworth ignorierte ihn. Boggs ließ ihn vorbei. Er beobachtete, wie Ellsworth kurz stehen blieb, als müsste er sich erst sammeln, nur um wieder ein paar Schritte zu wagen. Der Mann konnte kaum mehr laufen.

»Wie lange brauchen Sie so zum Bahnhof? Was glauben Sie? Zwei Stunden?«

Keine Antwort. Ein weiterer Schritt, dann noch einer. Dann blieb er stehen.

Boggs ging zu ihm. »Lassen Sie mich ein Taxi rufen, und wir fahren gemeinsam. In der Nähe vom Bahnhof gibt es einen Laden, wo ich Ihnen ein Mittagessen spendieren kann. Ein Schluck Wasser schadet Ihnen sicher auch nicht.«

Ellsworth blickte ihn wütend an. »Was wollen Sie?«

»Den weißen Beamten ist es egal, was mit Ihrer Tochter passiert ist, Sir. Mir nicht. Lassen Sie mich Ihnen helfen.«

Ellsworth starrte die Straße hinunter. Boggs fragte sich, wie viele Felder der Mann in seinem Leben bestellt hatte, und begriff, dass er schon weit mehr durchgemacht hatte, als mit gebrochenen Rippen eine Meile auf solidem Bordstein zu laufen. Er konnte nicht beurteilen, ob Ellsworth gerade die Entfernung einschätzte und versuchte, sich an den Zugfahrplan zu erinnern, oder ob ihm Fetzen dessen, was die Ermittler ihm angetan hatten, in den Sinn kamen. Oder ob er an das letzte Mal dachte, als er seine Tochter lebend gesehen hatte.

Der Farmer klang zutiefst resigniert, als er sagte: »Versuchen Sie Ihr Glück.«

*

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ein Taxi gefunden hatten, das Negroes beförderte, doch dann machten sie sich endlich auf den Weg. Die Taxigebühr war ein Luxus, den sich Boggs normalerweise nicht leistete.

Sie saßen erst ein paar Sekunden im Taxi, da fiel Boggs auf, dass Ellsworth nach Urin roch. Sein Hemd hing aus der Hose, bei seiner Ankunft war das noch anders gewesen. Aus Scham hatte er die verräterischen Flecken bedeckt.

Sie schwiegen, während sie durch Downtown fuhren. Sie passierten Restaurants, in denen man sie nicht bedient hätte. Etliche dieser Köche und Kellner wären sogar handgreiflich geworden, hätte Boggs das Restaurant betreten. So war es einem 18-jährigen Besucher aus New York ergangen, hatte er in der Daily Times gelesen. Sie passierten Bürotürme, in die man nur diejenigen Negroes ließ, die Schuhe oder Toiletten putzten. Sie passierten weiße Frauen, die schon bei Blickkontakt mit ihnen geschrien hätten. »Unsittliche Blicke« lautete der offizielle Vorwurf der Polizei in solchen Fällen. Als Boggs Cop wurde, hatte er in den Statuten nachgelesen, ob es das wirklich gab. Das gab es.

Sie passierten Hotels, zu denen er keinen Zutritt hatte, mit ihren lächerlich kostümierten Negro-Pagen, den einzigen farbigen Angestellten solcher Hotels. Während der Wirtschaftskrise hatten Silberhemden, Braunhemden und andere Faschisten die Hotelchefs des Verrats an der eigenen Rasse bezichtigt, weil sie in einer Zeit Negroes beschäftigten, in der viele Weiße dabei waren zu verhungern. Ein Cousin von Boggs wurde damals genau wie die meisten anderen Pagen gefeuert, denn nachdem eine Parade Uniformierter im Stechschritt die Peachtree hinuntermarschiert war, konnten die Hotelinhaber urplötzlich der Logik der Faschisten folgen. Jetzt, da die Wirtschaftskrise nur noch eine schlechte Erinnerung war, hatten etliche der weiße Pagen eine bessere Arbeit gefunden, und Boggs’ Cousin durfte wieder voller Stolz das Gepäck der Weißen schleppen.

Am Hauptbahnhof bezahlte Boggs das Taxi. Auf der anderen Straßenseite war ein Café, an dessen Ausgabe Negroes Essen kaufen konnten, das sie allerdings woanders verzehren mussten. Ellsworth beharrte darauf, keinen Hunger zu haben, also sparten sie sich das und betraten den Bahnhof. Die breiten Türen waren zugunsten der Luftzirkulation weit aufgerissen, und ihr Blick fiel auf die geschwungene Decke hoch über ihnen und den Marmorboden, der trotz des Getrampels bereits Tausender an diesem Tag immer noch glänzte. Sie gingen nach links in den überfüllten Wartesaal für Farbige, in dem die Luft nicht zirkulierte und es kaum Sitzplätze gab. Das Ende einer Bank bot gerade genug Platz für Ellsworths schmale Statur. Boggs blieb vor ihm stehen.

»Ich bedauere Ihren Verlust zutiefst«, sagte Boggs und fühlte sich schuldig, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, ihm das zu sagen. Er sprach mit leiser Stimme, verstehen konnten ihn die Leute ringsum sicher trotzdem. Es war nicht unbedingt der ideale Ort für eine Befragung, doch es war der einzig mögliche.

Ellsworth starrte abwesend in die andere Richtung. Boggs kam sich kaltherzig professionell vor, als er sein kleines Notizbuch aus der Tasche holte. Er fragte nach Lilys vollem Namen und Alter. »Können Sie mir sagen, was sie in Atlanta gemacht hat?«, fragte er dann.

»Ich weiß es nicht. Sie war ein Sturkopf.«

»Was meinen Sie damit?«

»Schätze, sie hat gedacht, ihr geht’s hier besser.«

»Inwiefern?«

»Keine Ahnung. Aber wissen Sie, sie hatte nie was für harte Arbeit übrig. War keine Frau für einen Farmer.«

»Sie haben Ihr eigenes Land?«

»Nein. Aber ich komm zurecht.«

»Also wollte sie hier irgendwo als Dienstmädchen arbeiten?« Es war unwahrscheinlich, dass ein farbiges Mädchen vom Land bessere Arbeit als im Haushalt fand. Die wenigen Stellen für farbige Frauen in den Textilfabriken waren von den Einheimischen besetzt, und seit Ende des Krieges gab es ohnehin weniger davon. »Warum wollte sie keine Stelle in der Nähe von Peacedale?«

Ellsworth schüttelte den Kopf und machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Hätten Sie selbst Töchter, würden Sie diese Fragen nicht über sie stellen.

»Warum Atlanta?«

»Sie hat sich mit meiner Frau gestritten. Haben sich zuletzt nicht mehr so gut verstanden.«

»War sie ein schwer zu erziehendes Mädchen?«

»Die meiste Zeit kamen sie gut miteinander aus. Doch hin und wieder passieren Dinge. Ich misch mich da nicht ein. Die müssen sich gut genug verstehen, um zu kochen und sich um die Kleinen zu kümmern. Mehr verlang ich nicht. Ich greif nur ein, wenn die sich vor mir streiten oder rumschreien.«

»Wissen Sie, wo sie gewohnt hat, als sie hierherkam? Wo sie gearbeitet hat?«

»Ja, sie hat uns ein paar Briefe geschrieben. Da standen Adressen drauf.«

»Haben Sie die noch?«

»Hat meine Frau.«

»Die würd ich mir gern anschauen.«

»Dann müssen Sie zu uns kommen und sie suchen. Ich komm hier nicht mehr her.«

»Das würde ich gerne.« Er fragte nach Ellsworths Adresse und notierte sie.

»Wenn Sie am Tag kommen, bin ich draußen auf dem Feld. Und wenn Sie am Abend kommen, nein, das sollten Sie lieber nicht.«

»Ich schaff das schon, Sir.«

Ellsworth beobachtete ihn. Sein Gesicht war jetzt leer wie ein noch nicht gravierter Grabstein. »Gut.«

»Gab es da etwas in ihren Briefen, dass Sie um ihre Sicherheit hat fürchten lassen, Mr. Ellsworth?«

»Hat mir nicht gefallen, dass sie hier lebt, falls Sie das meinen.«

»Aber hat sie irgendetwas Besonderes erwähnt, was Ihnen …?« Ellsworths Kopfschütteln reichte ihm.

»Hat sie jemals den Namen Brian Underhill erwähnt?«

»Nein. Wer soll das sein?«

»Nur jemand, den wir im Auge haben. Wie sieht’s mit Lionel Dunlow oder Denny Rakestraw aus?«

Wieder Kopfschütteln. »Sind keine Namen gefallen, soweit ich weiß. Außer der eine, dieser Senator.«

»Senator?«

»Sie hat als Dienstmädchen bei einem Senator gearbeitet. Also für die Frau vom Senator. Der Senator war nie da.«

Boggs gab sich Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. »Welcher?«

»Erinnere mich nicht.«

Boggs konnte nicht glauben, dass der Mann sich nicht an den Namen des Senators erinnerte, für den seine Tochter gearbeitet hatte. Dann wiederum konnte er es doch.

»Wann war das?«

»Mai. Erdbeerzeit. Ich hab den Brief gelesen, und als meine Frau dran war, hat sie sich beschwert, dass mein Schweiß draufgetropft ist. Hat ein paar Wörter verschmiert.« Ein winziges Lächeln, das schnell wieder erstarb.

»Haben Sie das den Polizisten auf der Wache erzählt?«

»Haben mich nicht danach gefragt. Wollten nur was über mich wissen. Haben widerwärtige Dinge angedeutet. Ich bin ein gottesfürchtiger Mann. Ich les die Bibel. Hat mir Lily beigebracht. Bin jeden Sonntag in der Messe, und auch an den anderen Tagen. Diese Polizisten da, die haben widerwärtige Dinge angedeutet.«

»Das tut mir leid, Mr. Ellsworth.«

»Warum nennen Sie mich ›Mr. Ellsworth‹?«

»Das ist Ihr Name, Sir.«

Ellsworth schüttelte den Kopf und sah zornig aus, als könnte er nicht begreifen, warum dieser merkwürdige Mann aus der Stadt in Rätseln sprach. »Ich heiß Otis.«

»Okay, Otis. Aber ich bin nicht wie diese Cops.«

»Hab ich gemerkt. Wie können Sie überhaupt ein Cop sein?«

»Wir tun seltsame Dinge hier in Atlanta.«

»Ja, das tut ihr. Bin seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Und komm sicher so schnell nicht mehr her. Vielleicht nie wieder.«

»In dem Brief, den sie geschickt hat, als sie für den Senator arbeitete, hat sie da was über ihn oder seine Frau erwähnt? Oder deren Haus oder ihren Job?«

»Was soll man über die Hausarbeit schon sagen?« Ein hohles Lachen. »Hat uns nichts über Staubwischen und so geschrieben. Wollte nur Hallo sagen, Sie wissen schon. Hat nach der Ernte und der Familie gefragt. So was eben.«

Ellsworth hielt seine Fragen offenkundig für lächerlich. Boggs wollte um jeden Preis mehr über ihre Stelle herausfinden, doch entschied sich, das Thema auf sich beruhen zu lassen, bis er die Briefe selbst lesen konnte.

»Klang sie glücklich?«

»Lily?« Seine Augen waren glasig, als würde er wieder abschweifen. Der Klang ihres Namens aus seinem Mund wirkte wie ein Zauberspruch.

»Ja, Sir. Hat sie irgendwas in den Briefen erwähnt, worüber sie sich Sorgen machte oder wovor sie Angst hatte? Oder das Gegenteil, hat sie sich auf ein bestimmtes Ereignis gefreut?«

»Sie hat sich nie was anmerken lassen. Die Briefe klangen immer so: Stadt ist so toll, Essen ist toll, Kleider sind toll, Musik ist toll. Ich kenn sie, ich weiß, dass sie wahrscheinlich einsam und durcheinander war, und vielleicht hatte sie sogar Angst, aber das hätte sie nie in einen Brief geschrieben, sonst hätte ihre Mutter doch gewusst, dass sie recht hatte.«

»Die Mutter wollte nicht, dass sie nach Atlanta geht?«

»Sie sagt immer, Städte sind nichts für junge Frauen. Schätze, das ist wohl so.«

»Warum ist Ihre Frau heute nicht mitgekommen?«

Ellsworth schaut auf seine Hände. »Zu schwer. Das ist zu schwer für sie. Ich weiß nicht … ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll.«

Irgendetwas klang seltsam in Boggs’ Ohren, aber er kam nicht darauf, was es war.

»Als Sie den Zeitungsartikel gesehen haben, wieso haben Sie da gedacht, dass es sich um Lily handelt?«

»Ein Freund hat mir davon erzählt. Hat den Artikel gesehen. Wusste, dass wir uns Sorgen um Lily machen, und das Medaillon wurde dadrin erwähnt. Die Frau hat es ihr vor langer Zeit geschenkt.«

Ein Baby schrie, während die Mutter inmitten von Gepäckstücken ihre Reisetasche nach etwas durchsuchte. Es waren locker über dreißig Grad hier drinnen.

»Ihre Tochter muss ja tadellose Manieren gehabt haben, wenn sie für einen Senator gearbeitet hat.«

»Haben sie gut erzogen.«

»Wenn sie Ihnen Lesen beigebracht hat, dann ist sie zur Schule gegangen, oder?«

»Gab einen guten Lehrer bei uns. Manchmal reicht so einer, damit die anfangen zu lernen. Hat ihr und all ihren Freunden was beigebracht. Vielleicht zu viel.«

»Wieso?«

»Sie hat sich was drauf eingebildet.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wollte, dass wir wählen gehen.« Der durchdringende Blick machte deutlich, dass es sich dabei um eine unsinnige Aufforderung handelte, und forderte Boggs auf, sein Verständnis durch ein Nicken zu äußern. »Hat dauernd wieder damit angefangen, musste ihr irgendwann verbieten, drüber zu reden. Im anderen County haben sie einen farbigen Mann zusammengeschlagen, weil der sich für die Wahl melden wollte. Haben ihn totgeschlagen. Polizisten waren das.«

Boggs war mit dem Mordfall nur allzu vertraut. Er hatte es nicht in die weißen Zeitungen geschafft, doch die Daily Times hatte ausgiebig darüber berichtet, und sein Vater hatte versucht, der Familie des getöteten Mannes einen Anwalt zu besorgen. Am Ende entschloss sie sich, in den Norden zu fliehen.

»Und Lily hat das auch von uns verlangt.«

»Dann war ihr das wohl wichtig.«

»Dieser Lehrer hat ihr das in den Kopf gesetzt. Wir tun alles, um sie zu beschützen, wissen Sie? Wir versuchen ihr klarzumachen, dass sie uns damit ins Unglück stürzt.«

Die Mühe, schwarze Wähler in Atlanta zu registrieren, hatte sich ausgezahlt, doch Boggs wusste, dass es auf dem Land nicht so glatt abgelaufen war. Überall hatte man Schilder aufgehängt, die Negroes davor warnten, zur Wahl zu gehen, und dieser eine Mord war exemplarisch für das Schicksal von Farmpächtern, die sich das getraut hatten. Boggs und Ellsworth lebten in unterschiedlichen Welten.

Er notierte sich die Namen des Lehrers und der Schule, dachte, es wäre einen Besuch wert.

»Hat sie über diese Dinge in der Öffentlichkeit gesprochen?«, fragte Boggs.

»Hoffe nicht. Wir haben sie gewarnt, haben gesagt, sie soll auf sich aufpassen. Wir wollten sie nur beschützen.« Seine Augen wurden feucht, dann hörten sie, wie eine blecherne Stimme den Zug nach Macon ankündigte.

»Hätte gar nicht so herkommen müssen, wissen Sie?«, sagte Ellsworth, als sie in Richtung Gleise gingen. »Mit dem Zug und zu Fuß. Hätte genauso meinen eigenen Pick-up nehmen können.«

»Sie besitzen einen Pick-up?«

»Jawohl, Sir. Bisschen runtergekommen, aber funktioniert bestens. Hab ihn vor ein paar Wochen einem anderen Farmer abgekauft. Bringt mich dahin, wo ich will. Hab ’n bisschen Geld verdient, müssen Sie wissen.«

»Haben Sie lange dafür gespart?«

Ellsworth blickte auf die kleine Menschenmenge, die sich vor dem Gleis staute, und sein Schwung, sein prahlerischer kleiner Redefluss war dahin. Als wäre ihm plötzlich bewusst geworden, dass er zu viel gesagt hatte.

»Geht so.«

»Komisch, dass Lily wegwollte, wo Sie doch Geld haben.«

»Wir kommen zurecht, mehr nicht. Kommen zurecht. Aber wird bald alles besser. Geh’n nämlich nach Chicago, Sir. Besseres Leben dort oben.«

»Wann wollen Sie los?«

»Frühling. Eine Ernte noch, dann den Winter dort oben abwarten. Aber hab jetzt genug gespart, jetzt können wir’s schaffen. Hätten sogar genug, um in einem dieser feinen Waggons zu reisen. Aber ich glaube, wir nehmen meinen neuen Pick-up, schauen uns unterwegs die Gegend an. So machen wir’s.«

Hier ergab so einiges keinen Sinn. Hatte Ellsworth wirklich Geld oder prahlte er nur, um seine Männlichkeit wiederzuerlangen? Er war Farmpächter, kein Grundbesitzer. Alles, was Boggs über das Leben auf den Pachthöfen in Georgia wusste, sagte ihm, dass es erstaunlich war, dass der Mann überhaupt etwas hatte beiseitelegen können. Wo sollte das Geld auch herkommen? Eine Rekordernte war unwahrscheinlich bei dem ganzen Regen in diesem Jahr und den Geschichten um das im Boden verfaulte Gemüse. Doch woher dann?

Der Zug fuhr ein.

»Hat Lily jemals etwas nach Hause geschickt? Souvenirs aus der Stadt? Ein schönes Kleid für ihre Schwestern?«

»Sie hat keine Schwestern, nur zwei Brüder. Die brauchen keine schönen Kleider.« Darüber lachte er ein bisschen zu heftig. Boggs fand es nicht komisch, und Ellsworth sah ihn auch nicht dabei an. Er stierte auf den Zug, als könnte er ihn so schneller herbeiwinken, damit er keine Fragen mehr beantworten musste.

Der Zug hielt mit einem Ächzen. Die Waggons mit den weißen Passagieren ließen die Fenster geschlossen, um die kühle Luft aus der Klimaanlage nicht nach draußen entkommen zu lassen. Die Negro-Waggons hatten die Fenster geöffnet, und die Passagiere, die nicht ausstiegen, fächelten sich in der stehenden Hitze Luft zu. Gepäckträger sprangen ab, Menschen strömten in alle Richtungen, sodass Boggs eine Hand auf den Arm des Farmers legte, aus Angst, jemand könne den verletzten Mann über den Haufen rennen. Sein Arm war dünn, aber hart wie eine Eisenstange.

»Ich komme so bald wie möglich vorbei, um die Briefe zu holen. Und eventuell mit Ihrer Frau zu sprechen.«

»Machen Sie sich keine Umstände. Wir trauern und werden uns dann auf den Weg machen.«

Verbarg Ellsworth etwas oder war er einfach so an seinen Platz ganz unten in der Nahrungskette gewöhnt, dass er sich merkwürdig verhielt, sobald ihm jemand aufrichtig helfen wollte? Es bereite ihm überhaupt keine Umstände, erklärte Boggs, doch da war kein Ausdruck von Dankbarkeit im Gesicht des Farmers, vielmehr eine grimmige Akzeptanz, und das löste etwas tief in Boggs aus. Als wäre es einfacher für Ellsworth, demütig die nächste biblische Plage hinzunehmen, statt in die Finsternis zu rufen und nach Erklärungen zu verlangen.

Lilys Vater hinkte die Stufen des Waggons hoch, seine Finger umklammerten bei jedem Schritt das Geländer.

Als Ellsworth weg war, verließ Boggs den Bahnhof und tippte dabei mit dem Notizbuch gegen seinen Oberschenkel. Er musste mit Smith reden und sich genau überlegen, wie er weiter vorging. Als farbiger Beamter war ihm jetzt vieles gestattet, doch Ermittlungen gehörten nicht dazu.

Er hatte heute gegen zahlreiche Regeln verstoßen. Wenn sie ihn deshalb nicht rauswarfen, würde er noch gegen ein paar mehr verstoßen.