13
ES WAR NEUN UHR und die Hitze noch nicht ganz so erbarmungslos, als der Bus die Monroe hochfuhr. Er fuhr durch Piedmont Park, wo weiße Damen gemächlich durch Grünanlagen spazierten, sich an Sonnenschirme klammerten, Kinderwagen schoben und etwas frische Luft schnappten, bevor sie stickig wurde. Noch klebte Tau auf den Wiesen und schlaftrunkene Eichhörnchen versteckten sich im Schatten der Nussbäume und Roteichen.
Boggs fuhr nur selten mit dem Bus. In Sweet Auburn gab es alles, was er brauchte, und wenn es etwas von weiter weg sein sollte, gab es das Auto seines Vaters. Doch sein heutiges Ziel bildete eine Ausnahme, dafür unterwarf er sich wie die Mehrheit der Negroes in der Stadt den Vorschriften und setzte sich in den hinteren Teil des Busses. Er unterwarf sich den Kommentaren des Busfahrers über Negroes, die er gegenüber den weißen Männern im vorderen Teil machte. Unterwarf sich der Tatsache, dass die Straße, auf der sie fuhren, ihren Namen von Boulevard in Monroe änderte, nicht weil es sich um eine neue Straße handelte, sondern weil der südliche Teil durch ein farbiges Viertel führte und der Nordteil weiß war und die Anwohner dort eine andere Adresse angaben.
An der Kreuzung Piedmont stieg er aus. Die Häuser hier lagen nahe an der Straße, ragten allerdings hoch hinaus mit ihren Treppen aus Backstein und breiten Veranden, manche davon umgeben von riesigen Rhododendronsträuchern, die bis zum ersten Stock reichten. Ansley Park war eins der reicheren Viertel der Stadt, und Boggs durchquerte es zum ersten Mal. Es fühlte sich an, als würden ihn die hochragenden Tudor- und Queen-Anne-Häuser beobachten, ihre Terrassen wirkten wie verächtlich gerümpfte Nasen.
Er war hierhergekommen, um den ehemaligen Arbeitgebern von Lily Ellsworth einen Besuch abzustatten.
Er trug ein weißes, bis obenhin zugeknöpftes Hemd, das er in die Hose gesteckt hatte. Er war frisch gebadet, hatte seine Kleidung jedoch bewusst nicht gebügelt, aus Angst, zu aufgetakelt zu wirken. Nach seiner Begegnung mit Otis Ellsworth war klar, dass er zumindest ein bisschen schäbig daherkommen musste, um als dessen Sohn durchzugehen.
Am Tag zuvor hatte der Farmer in der Zentrale angerufen und Boggs eine Nachricht mit allen Absenderadressen der Briefe seiner Tochter aus Atlanta hinterlassen sowie den Namen des Senators, für den sie gearbeitet hatte. Daraufhin hatte Boggs die Adressen nachgeschlagen und sie mit den spärlichen Akten auf seiner Wache abgeglichen. Die ersten beiden Adressen waren Pensionen. Die dritte gehörte zu Mama Dove’s, einem Bordell. Vielleicht hatte Ellsworth deshalb nicht gewollt, dass Boggs nach Peacedale kam, um die Briefe zu lesen. Wusste er, wie tief seine Tochter gesunken war? Mit dem Anruf wollte er Boggs’ Besuch vielleicht verhindern. Das kam auch Boggs entgegen. Denn so wichtig es ihm erschien, dorthin zu fahren und zu überprüfen, was Ellsworth noch eingefallen war, nachdem der erste Schock vorüber war, so dringend er mit dem Rest von Lilys Familie reden wollte, um mehr über den Streit zwischen Mutter und Tochter herauszufinden, so sehr war er auch auf der Hut. McInnis würde ihn auf der Stelle feuern, wenn er erfuhr, dass Boggs durch den Bundesstaat reiste, um in einem Mordfall zu ermitteln. Doch vor allem lag Peacedale sehr weit entfernt von der Schutzzone, die Atlanta bot. Die Vorstellung, so tief in die Provinz zu fahren, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Stattdessen hatte er sich lieber die Akte über den Mord an Lily durchgelesen, was nicht lange gedauert hatte. Die weißen Detectives hatten vermerkt, dass Otis zugegeben habe, nicht ihr biologischer Vater zu sein, etwas, das er Boggs gegenüber unterschlagen hatte. Der Bericht erwähnte auch die Theorie der Ermittler, dass Ellsworth sie umgebracht haben könnte, was Boggs absurd fand. Offenbar war auch den Detectives bewusst geworden, wie wacklig ihre Hypothese war, denn sie warteten weder mit Beweisen auf noch klagten sie den Mann an. Die Forensiker hatten sich nicht viel Mühe mit der Leiche gemacht. Die weißen Ermittler schienen anzunehmen, dass man sie in der Gasse getötet und liegen gelassen habe, obwohl Boggs dort keine Blutspuren gefunden hatte. Für ihn war offensichtlich, dass man sie woanders getötet und dann dorthin geschafft hatte.
Deshalb stattete Boggs heute dem Haus eines – nein, keines Senators, wie Ellsworth fälschlicherweise behauptet hatte – Kongressabgeordneten namens Billy Prescott einen Besuch ab. Er war schon lange im Amt, berühmt für sein Verhandlungsgeschick und einer der wenigen gewählten Volksvertreter, denen Boggs bisher persönlich begegnet war.
Prescott war seit 1932 im Kongress. Natürlich war er Demokrat wie beinahe alle Volksvertreter in Georgia und den umliegenden Staaten der alten Föderation. (Die Republikaner waren Lincolns Partei, die Partei des Sklavenbefreiers, und deshalb in den Augen weißer Südstaatler kaum besser als Negroes, Juden und Kommunisten.) Atlantas Politiker waren in der Regel keine Mistgabeln schwingenden Demagogen wie die Senatoren des Bundesstaats oder die Kongressabgeordneten aus der Provinz, und so hatte sich auch Prescott in seinen ersten Amtsjahren in Rassenfragen eher bedeckt gehalten. Genau wie der Rest seiner Delegation sprach er sich gegen Anti-Lynch-Gesetze aus und vermied gemeinsame öffentliche Auftritte mit Anführern der farbigen Gemeinschaft. Und doch hatte sich seine Zurückhaltung gegenüber dem, was die Weißen die »Negro-Frage« nannten, offenbar in den letzten Jahren gewandelt, entweder weil er es sich aufgrund der langen Amtszeit leisten konnte oder weil er beobachtete, wie die Stimmen der Negroes die Machtverhältnisse in seinem Wahlkreis verschoben.
Vor zwei Jahren hatte er neben Bürgermeister Hartsfield bei einem Treffen mit Reverend Boggs und anderen farbigen Anführern gesessen und deren Anliegen besprochen, wovon das wichtigste die Rekrutierung farbiger Polizeibeamter gewesen war. Wochen nach dieser Zusammenkunft stimmte er sogar zu, eine Rede während einer Konferenz für die Rechte der Negroes am Morehouse zu halten – eine bisher nicht dagewesene Aktion eines Kongressabgeordneten aus Georgia –, unter der Bedingung, dass seine Anwesenheit nicht im Vorfeld angekündigt wurde. Boggs hatte die Konferenz zusammen mit seinem Vater besucht, er war einer der wenigen Kriegsveteranen gewesen, denen vorher eine kurze Audienz bei Prescott gewährt worden war. In diesen wenigen Minuten hatte Prescott auf Boggs einen intelligenten, wenn auch nicht unbedingt um Gleichberechtigung der Rassen bemühten Eindruck gemacht. Zumindest schien er neugierig auf die vernachlässigten Ecken seines Wahlkreises zu sein. Monate später verursachte Hartsfields Entscheidung, schwarze Cops einzustellen, den meisten Gesetzgebern Georgias Herzrasen, und eine Gruppierung setzte sogar ein bundesstaatliches Gesetz zum Verbot von farbigen Polizeieinheiten auf. Doch Prescott drohte (zumindest laut Reverend Boggs, der es von seinen Freunden aus dem Rathaus wusste) einflussreichen Großbauern mit dem Einfrieren der landwirtschaftlichen Fördermittel in ihren Bezirken, falls sie das Gesetz weiterverfolgten, und daraufhin ließen sie es fallen. Seitdem bezeichnete Boggs’ Vater den Mann als »Verbündeten«, wenn auch einen, den er nicht besonders gut einschätzen konnte.
Da Ende Juli immer noch der Kongress tagte, hatte Repräsentant Prescott oben im Norden alle Hände voll mit seiner Legislative zu tun. Obwohl er den Großteil des Jahres in Washington lebte, ließ sein Haus in Atlanta nicht viel zu wünschen übrig. Es war ein weißes Tudor-Gebäude mit einer breiten Veranda hinter zwei Magnolienbäumen und einem perfekt gepflegten Rasen ohne auch nur eine einzige Magnolienhülse oder ein vereinzeltes Blatt darauf. Der Garten war mit schwarzäugigen Rudbeckien gesprenkelt, und zwei lavendelfarbene Mönchspfeffer flankierten die Einfahrt, die Zweige verziert mit langen, spitzen lila Blüten, die wie ein außergewöhnlicher Haarschnitt wirkten. Das Haus schrie geradezu nach einem Gittertor und vermutlich dauerte es auch nicht mehr lange.
Noch hatte Boggs sein Hemd nicht durchgeschwitzt, doch sein unterer Rücken war bereits feucht. Auf der Straße hinter ihm herrschte nur wenig Verkehr.
Die Haustür erschien ihm breiter als notwendig. Der Türklopfer war aus Messing, und Boggs stellte sich vor, dass er ein ziemlich autoritäres Geräusch verursachte.
Er hatte nicht vor, ihn zu benutzen.
Stattdessen lief er am Vordereingang vorbei, seine Schuhe knirschten auf dem Kies der halbrunden Einfahrt. Nachdem er seinen Stolz abgelegt hatte, folgte er einem Trampelpfad an der Flanke des Hauses auf der Suche nach dem Hintereingang. Er achtete darauf, keinen Blick in die Seitenfenster zu werfen. Die Stechpalmen waren sorgfältig geschnitten, ihre trockenen Blätter ganz sicher scharf genug, um sich daran zu ritzen. Er fand den deutlich unscheinbareren Hintereingang, nahm die drei Holzstufen und klopfte.
Die Stufen knarzten unter seinem Gewicht und waren von Holzbienen durchlöchert worden. Hinter ihm standen drei Feigenbäume, ein Kolibri schoss vorbei. Er hatte lange genug gewartet, um über ein zweites Klopfen nachzudenken, doch dann öffnete sich die Tür einen Spalt weit und er blickte in das Gesicht eines Dienstmädchens. Sie war jung, vielleicht zwanzig, hübsch und wirkte genervt.
»Was wollen Sie?«
»Ich hatte gehofft, mit Mrs. Prescott sprechen zu können.«
Sie beäugte den Verband auf seinem Kopf. So wie alle. »Worum geht’s?« Sie wirkte ein paar Jahre jünger als Boggs, aber sie redete mit ihm wie mit einem Minderbemittelten. »Denn wenn das, worüber Sie mit ihr reden wollen, nicht wirklich, wirklich wichtig ist, lassen Sie sie besser in Ruhe.«
»Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester, die hier gearbeitet hat. Ich hatte gehofft, Mrs. Prescott wüsste, wo sie jetzt arbeitet. Bitte, Miss.«
Eine Sekunde lang musterte sie ihn. Die Erwähnung ihrer Vorgängerin schien ihre Neugier geweckt zu haben. Was wiederum seine weckte.
»Welches Mädchen?«, fragte sie, aber die Frage kam ihm scheinheilig vor, als wollte sie damit nur ihre ursprüngliche Reaktion überspielen.
»Lily Ellsworth. Ich bin ihr Bruder, Lucius. Wir haben seit einer Weile nichts mehr von ihr gehört.«
Ihr Blick senkte sich kurz. »Ich sehe nach, ob sie verfügbar ist.« Sie machte einen Schritt nach hinten und war dabei, die Tür zu schließen, doch Boggs hielt sie auf.
»Ich kenne Sie, oder? Oder zumindest Ihre Familie. Die gehen doch in die Kirche in der Wheat Street? Familie Jones?« Es war eine Lüge, aber sie funktionierte.
»Nein, wir gehen in die Ebenezer Baptist. Wir sind die Cannons. Ich bin Julie.«
»Tut mir leid, mein Fehler. Sie kamen mir nur so bekannt vor.«
Im Geiste notierte er Julie Cannon, während er wartete und seine Umgebung studierte. Er fragte sich, ob weiße Ermittler den Prescotts schon einen Besuch abgestattet hatten. Wäre Lily das weiße Dienstmädchen eines Kongressabgeordneten gewesen, hätte ein Detective zumindest ein paar Fragen gestellt, wenn auch diskret. Doch im Süden wurde Diskretion so hochgehalten, dass es vermutlich auch bei einem weißen Mädchen nicht zu einer richtigen Ermittlung gekommen wäre. Und Lily war nur ein Negro, der Fall wurde als zu unwichtig eingestuft, um einen so angesehenen Haushalt damit zu behelligen. Allein die Andeutung sexueller Ungehörigkeiten (hatte die Frau sie aus Eifersucht gefeuert, weil der Mann sie belästigt hatte?) war undenkbar. Boggs hätte wetten können, dass er der erste Cop war, der sich nach dem Mord an Lily hier blicken ließ. Im Haus wusste man womöglich noch nicht einmal, dass sie tot war.
Er hörte Schritte. Er stellte sicher, dass er aufrecht stand, aber nicht zu aufrecht, die Hände am Körper.
Caroline Prescott – er hatte ihren Namen gestern noch in der Bibliothek der Auburn Avenue nachgeschlagen – war außergewöhnlich dünn, die Sehnen am Hals waren deutlich zu sehen. Der strenge Zopf, zu dem sie ihre Haare zurückgebunden hatte, schien ihre hellblauen Augen hervortreten zu lassen.
Sie stand ohne Gehstock vor ihm, aber er fragte sich, ob sie außerhalb der Wohnung einen benutzte.
»Ja, bitte, was liegt denn heute an?«, fragte sie in einem Teekränzchen-Ton, den bestimmte weiße Ladies benutzten, wenn sie mit Negroes redeten.
»Ma’am, mein Name ist Lucius Ellsworth, und soweit ich weiß, arbeitet meine Schwester Lily hier?« Er schaute ihr nicht in die Augen. Er ahmte Otis Ellsworths Akzent nach, nur nicht ganz so ländlich. Otis hatte seine Tochter als gebildet beschrieben, also musste sie anders als ihr Stiefvater klingen. »Wir haben schon länger nichts von ihr gehört, und meine Eltern haben mich gebeten, herzukommen …«
»Lily arbeitet nicht mehr hier.«
»Oh. Entschuldigung, Ma’am, das wusste ich nicht. Und seit wann ungefähr …?«
Sie schien irritiert, dass man sie mit so einer Banalität belästigte. »Ich erinnere mich nicht. Bis vor ein, zwei Monaten.«
»Sie hat nicht zufällig eine Adresse hinterlassen oder vielleicht ein …?«
»Ich habe nicht die geringste Idee, wo sie sein könnte. Ich fürchte, sie kam hier nicht zurecht. Ich hoffe, sie hat eine Stelle gefunden, die besser zu ihren Fähigkeiten passt.«
Er konnte nicht genau sagen, ob sie mit allen Farbigen so unterkühlt sprach oder ob sie nur bei diesem speziellen Thema die Klauen ausfuhr.
»Alles klar. Ich danke Ihnen, Ma’am.« Über ihre Schulter hinweg konnte er in etwa drei Metern Entfernung das neue Hausmädchen, Miss Julie Cannon, stehen sehen, das das Szenario mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgte. Julie war aufgefallen, dass er anders sprach als zuvor. Er machte einen Schritt nach hinten, so als wollte er gehen, doch dann fügte er noch schnell hinzu: »Sie hat in höchsten Tönen von diesem Ort gesprochen, Ma’am. Sie hat wirklich gerne hier gearbeitet.«
»Sicher hat sie das.« War Mrs. Prescotts Stimme vorher schon unterkühlt gewesen, klang sie jetzt vollkommen blutleer. Und doch schlug sie ihm nicht die Tür vor der Nase zu, das hätte sich für eine Dame nicht geziemt. Sie schloss sie noch nicht einmal. Sie zog sich einfach nur zurück, und an ihrer Stelle tauchte Julie wieder auf, das Schließen der Tür fiel in ihren Zuständigkeitsbereich.
Julie musterte ihn sorgfältig. Er zwinkerte ihr zu, ohne zu lächeln, dann ging er.
*
In der Nacht zuvor war Boggs nach einer weiteren langen Schicht nach Hause gekommen und hatte sich ins Arbeitszimmer seiner Eltern gesetzt, mit einer einsamen Lampe als einziger Gesellschaft. An den meisten Abenden benötigte er diesen kurzen Moment, vielleicht zehn Minuten, egal, wie müde er war, um sich zu setzen, zu entspannen und all das, was er erlebt hatte, im Geiste Revue passieren zu lassen. Ein Glas Wasser stand auf einem Untersetzer neben ihm, durch das offene Fenster zirpten die Heuschrecken, und er las in der Bibel.
Er hatte sich verschiedene Verse über Beharrlichkeit eingeprägt, um es durch die schrecklichen Monate im South Carolina Army Camp zu schaffen. Obwohl er sie auswendig kannte, las er sie nun in der alten Familienbibel nach – derselben Bibel, mit der seine noch in Sklaverei geborene Urgroßmutter Lesen gelernt hatte. Als wären die Worte auf Papier wahrhaftiger als in seiner Erinnerung.
Brief an die Galater, 6:9.
»Lasst uns also nicht müde werden, Gutes zu tun. Es wird eine Zeit kommen, in der wir reiche Ernte einbringen. Wir dürfen nur nicht vorher aufgeben.«
Jakobus, 1:12.
»Glückselig der Mann, der die Versuchung erduldet! Denn nachdem er bewährt ist, wird er den Siegeskranz des Lebens empfangen, den der Herr denen verheißen hat, die ihn lieben.«
Schon deutlich düsterer: Die Offenbarungen des Johannes, 2:10.
»Fürchte dich nicht vor dem, was du erleiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr geprüft werdet, und ihr werdet Bedrängnis erfahren, zehn Tage lang. Sei treu bis zum Tod und ich werde dir den Siegeskranz des Lebens reichen.«
Manchmal half es, sich zu vergegenwärtigen, dass auch andere so empfunden hatten wie er, über die Jahrhunderte hinweg, auf der gesamten Erdkugel. Andere hatten noch so viel mehr erdulden müssen. Er, ein Mann mit Einkommen, einem Dach über dem Kopf und einer liebenden Familie, würde ja wohl dem standhalten können, was ihn gerade heimsuchte.
Manchmal zermürbten ihn die Verse auch. Immer wieder drehten sie sich um Leid und das Erdulden desselben, um den Edelmut, der darin lag, die Schmerzen zu ertragen, die einem andere zufügten. Die Worte auf der Seite fühlten sich dann genauso tot an wie ihre Verfasser, und Boggs stellte das Buch zurück ins Regal und ging zu Bett.
*
Boggs und Smith liefen in südlicher Richtung zu den Nachtklubs der Decatur Street, dem miesesten Teil der Stadt, gleich gegenüber den Eisenbahngleisen.
Hier schlenderten Frauen in grellen und freizügigen Kleidern allein über die Gehwege, leere Flaschen rollten über die Straße, und Messer fanden immer wieder ihren Weg in den Rücken von Leuten. Es war erneut ein schwüler Abend, und an der Leuchtreklame vom Early Late angekommen, hörten sie das Getrampel von Schuhen und wuterfülltes Brüllen. Sie beeilten sich und rannten längst, als sich das Knäuel aus Männern auf die Straße ergoss.
»Polizei«, brüllte Smith. »Auseinander!«
Männer stürzten zu Boden, rappelten sich wieder auf, wurden wieder zu Boden gerissen. Ein Zirkel aus Raufbolden, der sich immer weiter ausdehnte und immer mehr außer Kontrolle geriet.
Boggs dachte, er habe fünf Männer gezählt, doch irgendwo dadrin steckte wohl noch ein Sechster. Er merkte, wie er noch am Rand des Geschehens weilte, während sein Partner sich bereits ins Getümmel stürzte.
»Auseinander, hab ich gesagt!«, schimpfte Smith und schubste einen Mann aus dem Weg, der ohnehin gerade umfiel.
Ein anderer Mann holte zu einem Schlag aus, streifte mit dem Ellenbogen Smiths Schirmmütze und schlug sie ihm vom Kopf. Smith nahm seinen Schlagstock und schlug damit auf die rechte Schulter des Mannes. Der Mann ging zu Boden, sein nie ausgeführter Schlag blieb eine Erinnerung, die schnell verpuffte. Wen auch immer er hatte treffen wollen, stand jetzt auf und sah einen hutlosen Officer Smith mit gezücktem Schlagstock vor sich stehen, auf der Suche nach einem neuen Ziel.
»Is’ ja gut, is’ ja gut.« Der Mann ergab sich, hob die Hände.
Smith ließ seinen Stock in Position und deutete mit der anderen Hand hinter sich. »Auf den Gehweg. Los, runter auf den Arsch. Jetzt.«
Zwei andere Männer waren immer noch ineinander verkeilt und rollten über den Asphalt. Ihre Körper waren wie die ineinander verhakten Finger zweier Hände, die verzweifelt versuchten, sich zur Faust zu ballen. Derjenige, der oben lag, versuchte jedes Mal, seinen Arm loszureißen und einen Treffer zu landen, bevor ihn sein Gegner wieder auf den Rücken warf. Ein endloses Wogen sinnloser Wut.
»Auseinander!«, schrie Boggs und versuchte den, der gerade oben war, vom anderen herunterzuziehen. Doch sie rollten weiter und zogen ihm dabei fast die Beine weg. Er wich aus und wollte es erneut versuchen, als er hörte, wie jemand hinter ihm getroffen wurde, dann fiel jemand von hinten gegen ihn.
Er drehte sich rechtzeitig um, um den Sturz desjenigen mit anzusehen, und Smith preschte vor, um auf einen anderen Mann einzuschlagen.
Smith schenkte seinem Partner einen abfälligen Blick. »Um Himmels willen, kannst du die gefälligst in den Griff kriegen?«
Boggs befahl den beiden Ringern lautstark, aufzuhören, doch Smith schlug jetzt wahllos auf den Unglücklichen ein, der gerade oben lag. Ein Hieb zwischen die Schulterblätter reichte aus. Die Cops vernahmen ein Grunzen, doch noch bevor der Mann zusammensackte, hatte ihn sein Gegner schon triumphierend auf den Rücken geworfen.
Also verpasste Smith auch dem Kerl einen Schlag, diesmal auf den Schädel.
Kurze Zeit später lagen die Subjekte wie aufgereiht auf dem Gehweg. Die Cops hatten diejenigen, die es selbst nicht mehr geschafft hatten, eigenhändig dorthin gezogen. Es stellte sich heraus, dass es sogar sieben waren, zwei davon bewusstlos.
Aus dem Nachtklub kam ein großer Mann gestürzt, dessen weiße Schürze und dicker Bauch ihn als den Koch oder Besitzer des Klubs auswiesen, möglicherweise beides. Der herrliche Geruch von Räucherfleisch erfüllte die gesamte Nachbarschaft, und er haftete vor allem an ihm.
»Wir hatten die Lage unter Kontrolle«, sagte er. »Polizei wär gar nicht nötig gewesen.«
Boggs antwortete zuerst, versuchte nach dem geringschätzigen Blick seines Partners etwas von seiner Autorität wiederzugewinnen. Es war ihm nicht entgangen, dass er zusammen mit Little letzte Nacht beinahe den Kürzeren gezogen hätte, doch heute mit Smith hielten sie eine ganze Gruppe von Streithähnen in Schach. Was nicht ihm zu verdanken war, sein Schlagstock ruhte jungfräulich in seinem Gürtel. »Ganz genau. Die Lage schien völlig unter Kontrolle, als wir kamen.«
»Wir haben Besseres zu tun, als Ihre Sauerei wegzumachen.« Smiths Stimme war viel lauter als die seines Partners. »Bewegen Sie Ihren Arsch wieder da rein, sonst geht es Ihnen wie denen da.«
»Mein Geschäft ist sauber, Officers. Es zieht nur hin und wieder die falschen Typen an.«
»Kann man sich gar nicht vorstellen«, sagte Boggs. Der Schweiß auf seiner Stirn brannte in der genähten Wunde. Sogar mit Mütze auf dem Kopf konnte man noch ein paar Zentimeter von dem weißen Mull erkennen. Seine Kollegen hatten ihm das Gegenteil versichert, doch er wusste, dass er lächerlich aussah.
Einer der Männer, die sie verprügelt hatten, rieb sich den Nacken. »Ihr habt gefälligst ›Polizei‹ zu rufen, bevor Ihr jemanden von hinten angreift. Das wissen sogar die weißen Cops.«
»Wir haben ›Polizei‹ gerufen«, sagte Boggs. »Vielleicht haben Sie’s nicht gehört, weil der da Sie im Schwitzkasten hatte, aber wir haben’s gesagt.«
Manche von ihnen, oder eigentlich alle, rochen nach Schnaps.
»Deine Partner da drinnen kippen gerade alles in den Ausguss, stimmt’s?«, fragte Boggs den Koch.
»Warum machen Sie uns solche Scherereien?«, wollte der Koch wissen. »Die Männer brauchen einen Ort, an dem sie sich entspannen können, und den biete ich ihnen. Es gibt so gut wie nie Ärger, und wenn doch, dann sollen die das draußen unter sich ausmachen.«
Einer der Männer fing an zu schnarchen.
Der Koch beugte sich zu Smith und flüsterte: »Ich hab mich gut um Ihre Jungs gekümmert.«
Smiths Gesichtsausdruck ließ den Koch wissen, dass es ein Fehler gewesen war, ihm so nahe zu kommen. Genau wie sein Kommentar.
»Meine Jungs? Ich wusste nicht, dass ich irgendwelche Jungs habe.«
Der Koch hatte also ein paar weiße Cops bestochen. Zumindest nahmen Smith und Boggs das an. Von den anderen Negro-Cops hätte keiner auch nur einen Cent von diesem Mann angenommen. Oder?
»Wenn Sie irgendwas brauchen, fragen Sie einfach«, sagte der Koch und machte ein verlegenes Gesicht. »So funktioniert das.«
»Sie gehen jetzt besser rein, Sir«, sagte Smith. »Bevor einer von uns was tut, das Ihnen leidtun wird.«
Kopfschüttelnd gehorchte der Koch schließlich.
»Vielleicht sollte ich auch aufs College gehen«, sagte der Jüngste der Streithähne, der mit den unrasierten, vielleicht noch nie rasierten Wangen. »Dann werd ich auch Cop und kommandiere andere Farbige herum.«
Smith ging näher und bückte sich zu dem Jungen hinunter, suchte Blickkontakt. »Am meisten reißen immer die das Maul auf, die noch nicht den Stock abbekommen haben.«
Einer der Männer, die den Stock abbekommen hatten, murmelte in Richtung des Jungen, er solle den Mund halten.
»Wie alt bist du, Junge?«, fragte Boggs. »Ihr da. Ihr füllt ein Schulkind ab?«
»Er ist kein Schulkind.«
»Dann ist er auch noch Schulschwänzer«, stellte Smith fest. Niemand machte sich die Mühe zu antworten.
»Ich geh zur Rufsäule«, sagte Boggs.
Seufzen und Flüstern, ein paar leise Flüche. Sie wussten, dass die Rufsäule den Einsatz eines Streifenwagens bedeutete, und der bedeutete Festnahme, was wiederum eine Nacht auf der Wache bedeutete, mit weißen Cops.
»Komm schon, Mann«, jammerte einer von ihnen. »Lass uns doch nach Hause gehen.«
»Nenn ihn ›Officer‹«, empfahl ein anderer. »Die mögen das.«
»Uns gefällt’s auch, wenn die Leute in diesem Viertel sich nicht wie ein Haufen Idioten verhalten«, sagte Boggs. »Es ist Mittwochabend, Herrgott noch mal.«
»Ruf an«, sagte Smith.
Keiner von ihnen wollte heute etwas mit weißen Cops zu tun haben, vor allem nach der Sache mit Dunlow gestern, doch sie benötigten einen Wagen, um so viele Männer in die Arrestzelle zu bringen.
Boggs eilte die Straße hinunter. Die nächste Notrufsäule war einen Block entfernt.
Mehr Gemurmel und Gefluche. Einer von ihnen sagte: »Ihr seid doch auch nicht besser als die Weißen.«
Dass diese Bemerkung ausgerechnet jetzt fiel, kurz nachdem sie bewiesen hatten, dass sie anders waren und eben nicht bestechlich, machte Smith wütend. Er hielt seinen Schlagstock quer vor die Brust, die linke Hand am unteren Ende, und sagte: »Der Nächste, der den Mund aufmacht, landet ohne Zähne im Grady.«
Immerhin schnarchten jetzt schon zwei von ihnen. Wer noch wach war, starrte betreten auf seine Schuhe.
*
Boggs und Smith warteten eine volle Stunde auf den Streifenwagen. Nur noch zwei der festgenommenen Männer waren wach. Als der Wagen am Straßenrand hielt, erspähte Boggs jemanden auf dem Rücksitz. Der Motor lief weiter, und die Fahrertür blieb zu. Boggs stand weiter Wache, genervt, weil ihm klar wurde, was da vor sich ging. Smith ging hinüber zum Fahrer.
»Sorry, Jungs«, sagte der Fahrer. »Ihr müsst erst warten, bis ich mit der da fertig bin.«
Auf dem Rücksitz saß eine weiße Frau Ende dreißig mit langen, dunklen Haaren. Ihrem benommenen Blick und der zerzausten Frisur nach zu urteilen war sie betrunken. Sie warf Smith einen kurzen Blick zu, dann schaute sie wieder aus dem anderen Fenster. Verhaftete schwarze Männer durften nicht in denselben Wagen wie verhaftete weiße Frauen gesteckt werden. So lautete das Gesetz. Smith verkniff sich einen Kommentar und brachte im Ansatz so was wie ein Nicken zustande.
»Ich ruf einen anderen für euch«, sagte der Fahrer. Smith war sich nicht sicher, ob er ihm glauben sollte.
Der Wagen fuhr davon.
»Heißt das, wir sind jetzt frei?«, fragt einer der Zelleninsassen in spe.
Ein anderer sagte: »Hier gibt’s keine freien Männer«, und jemand lachte.
Eine Minute Stille, ein wütend auf und ab laufender Smith, Boggs regungslos wie ein Stein.
Dann teilte einer der jungen Männer den Beamten mit, dass er aufs Klo müsse.
*
Noch mal neunzig Minuten später. Alle Raufbolde im Tiefschlaf.
Boggs und Smith vermuteten, dass die weißen Cops ihr Durchhaltevermögen testen wollten. Ist es euch das wirklich wert? Wär’s nicht einfacher gewesen, ihr hättet sie nach Hause gehen lassen? Warum tut ihr euch das überhaupt an? Der letzte dieser unausgesprochenen Gedanken war wie ein Echo im Kopf. Warum tut ihr euch das überhaupt an?
Mit jeder Minute, die verging, fiel es ihnen schwerer, weiter tatenlos herumzustehen. Und mit jeder weiteren Minute wurden sie entschlossener, nicht aufzugeben. In gut einer Stunde endete ihre Schicht, doch keiner von ihnen wollte darüber nachdenken, was passieren würde, wenn der Wagen dann immer noch nicht da war. Sie hatten schon ganz andere Wartezeiten ertragen, stundenlang nach Schichtende, und das mehr als einmal. Sie würden es wieder tun, falls sie müssten.
Heute Nachmittag hatte Boggs Xavier Little noch gut zugeredet. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte, hatte Little ihm gestanden. Wie Dunlow den niedergestochenen Mann verprügelt hatte, wie er so leichtfertig mit dessen Leben gespielt hatte, das hatte ihn zutiefst schockiert. Die weißen Cops machen so was vor meinen Augen, warten drauf, dass ich was unternehme. Was Dunlow getan hat, ist noch nicht mal das Schlimmste. Nur das Neuste. Nur das, was ich gerade nicht aus dem Kopf bekomme.
Boggs hatte der Versuchung widerstanden, Little danach zu fragen, was das Schlimmste gewesen sei. Er hatte seinem Kollegen geraten, wieder Mut zu fassen, stark zu bleiben, zu beten, all die Klischees, die er so ungern bemühte, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Etliche von ihnen hatten sich gegenseitig ihre Ängste eingestanden, ihre Zweifel, ob dieser Job wirklich so eine gute Idee gewesen war. In diesen Momenten fiel einem von ihnen die Rolle zu, die anderen daran zu erinnern, warum sie das taten, dass sie jetzt nicht aufgeben konnten, dass sie als Gemeinschaft so viel verlieren würden, wenn einer von ihnen seine eigenen Sorgen in den Vordergrund stellte und kündigte. Little war ein belesener Typ, ein Job bei der Zeitung seines Onkels hätte besser zu ihm gepasst. Boggs hatte Angst, dass er der Erste sein würde, der hinschmiss.
Allerdings konnte Boggs selbst Zuspruch gebrauchen. Er stand vor diesen Idioten, die er gerade verhaftet hatte, und fragte sich, ob es das alles wert war.
Zwei Stunden nachdem er einen Wagen angefordert hatte, brach ein Gewitter los. Als hätte der Regen nur auf die Erlaubnis des Donners gewartet, öffnete sich der Himmel, und der Regen prügelte so heftig auf sie ein, dass die Bewusstlosen wach wurden, ohne die geringste Ahnung, wo sie waren.
*
Volle drei Stunden nach Boggs Anruf erschien endlich ein weiterer Wagen. Erneut weckten die Beamten die Männer, die allesamt wieder eingeschlafen waren. Sie waren mitgenommen, einige wirkten resigniert, andere, als würden sie nicht im Mindesten begreifen, was gerade passierte. Dann fuhr der Wagen ab, und die beiden Polizisten liefen in Richtung Norden.
Der Regen war heftig, aber kurz gewesen, nach zwanzig Minuten war alles vorbei. Trotz ihrer Umhänge waren sie bis auf die Haut durchnässt. Der Schnitt auf Boggs’ Stirn brannte schlimmer als zuvor. Mit jedem Schritt hörten sie das Schlürfen ihrer klatschnassen Socken. Am Morgen würden sie Blasen haben, das kannten sie schon.
Boggs wollte einfach nur weitermarschieren. Rennen, wenn er ehrlich war, doch er beließ es beim Marschieren. Durch die ganze Stadt marschieren, bis er nicht mehr konnte, fühlen, wie der Schweiß seinen gesamten Körper bedeckte. An neue Grenzen stoßen, marschieren, bis er zusammenbrach. Im Bürgerkrieg waren Soldaten beider Lager wochenlang nur marschiert. Sklaven zweifellos sogar noch länger, allerdings nicht geradeaus, sondern immer und immer wieder in denselben endlosen Schleifen. Wie weit waren seine Vorfahren marschiert? Ob er es bis zur Grenze des Bundesstaates schaffte, wenn er jetzt loslief? Andererseits – wozu überhaupt? Als ob die Dinge in Alabama oder North Carolina besser wären. Für einen Negro im Süden war es hier noch am besten, hier in Atlanta, ein paar Blocks von der Auburn Avenue entfernt. Zumindest hatte man ihm das immer so gesagt.
Wie lange würde wohl der Marsch nach Chicago dauern, wo so viele auf der Suche nach einem besseren Leben waren?
Vielleicht war er auch einfach nur schwach. Nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, verbittert und voller Zorn auf die sinnlose Zeit im Armeelager, die Seele verletzt von all den Beleidigungen seiner weißen Vorgesetzten, hatte sein Vater gemeint, dass seine relativ behütete Kindheit in der Gemeinde von Sweet Auburn ihn wohl vor dem Hass bewahrt habe, mit dem der Reverend aufgewachsen war. Das war nicht die Art von weisen Worten, die Lucius gerne gehört hätte, doch er befürchtete, dass sein Vater recht hatte.
Boggs und Smith marschierten weiter. Vor dem Sturm war die Stadt ganz still gewesen, doch jetzt schien es ihm, als hätte jemand die Lautstärke aufgedreht. Wasser rauschte in den Rohren der Kanalisation unter ihnen, tropfte von den Dächern, gelegentlich vorbeifahrende Autos ließen Pfützen explodieren, und das Regenwasser fiel in einem zweiten Schauer von den schweren Baumkronen.
Dann vernahmen sie neue Geräusche: Gelächter, das Zerbrechen einer Flasche.
»Warte«, sagte Smith.
Mehr Gelächter, Smith bog in eine Gasse. Boggs wollte ihm nicht folgen, wollte einfach nur weiterlaufen. Er folgte ihm trotzdem.
Die Gasse schlängelte sich durch zwei flache Backsteingebäude, die aussahen wie Arbeiterwohnhäuser, die für den Ausbau einer Fabrik gleich in der Nähe gedacht gewesen waren, zu dem es nie gekommen war. Ein Negro namens Andrews, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, wohnte dort, sie waren ihm ein paarmal begegnet, als sie Chandler Poe überwacht hatten, den Schnapsschmuggler, den Richter Gillespie ungeschoren hatte davonkommen lassen.
Smith schlich unter ein offenes Fenster und riskierte einen Blick, Boggs blieb dicht hinter ihm.
Drei Männer saßen an einem Tisch und spielten Karten. Zwischen ihnen häuften sich Chips und Münzen, bewacht von Gläsern mit einer gelblichen Flüssigkeit. Sie konnten Andrews, Poe und einen breiten, fast glatzköpfigen Mann sehen, den Boggs nicht kannte.
Smith bemerkte eine Flasche zu seinen Füßen. Er hob sie auf und schmiss sie ohne Vorwarnung gegen die Hauswand. Ein Knall, es regnete Glasscherben. Boggs machte einen Satz nach hinten.
Das Gelächter verstummte. Smith duckte sich unter das Fenster und kroch davon. Boggs presste sich eng an die Mauer.
Die Stimmen drinnen fragten sich, was das gewesen sein könne und wer da draußen sei, einer klang besoffener und konfuser als der andere. Einer von ihnen schlug vor, sie sollten nachschauen, und genau auf diesen heroischen Schwachsinn hatte Smith gesetzt.
Die Männer stolperten aus dem Haus, die drei Holzstufen runter, in die Gasse hinein, blieben Silhouetten, bis ihre Gesichter nah genug waren, um vom Licht einer Lampe erfasst zu werden, die durch ein Fenster nach draußen schien. Keiner von ihnen hatte an eine Taschenlampe oder wenigstens eine Kerze gedacht und keines ihrer Augenpaare hatte sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt und konnte die beiden Cops erkennen.
Smith wollte mit den Fäusten zu Werk gehen, hätte den Impuls genossen, der durch seine Fingerknöchel, seinen Arm und die Schulter gezuckt wäre, doch er hatte keine Lust, Beweise auf seinem Körper zurückzubehalten. Also nahm er seinen Schlagstock und schwang ihn quer über Poes linke Wange. Man hörte nur das Splittern des Knochens, als der Schmuggler zu Boden ging.
Das ist dämlich, dämlich, dämlich, dachte Boggs, als Smith den Griff seines Stocks in Andrews’ Magen stieß und der zusammenklappte.
Andrews musste sich übergeben und war noch nicht einmal zu Boden gegangen, als Smith sich schon dem Dritten im Bunde widmete, der, so gut, wie man es als Betrunkener schaffte, rückwärtslief.
»Nein, nein, nein, bitte nicht«, sagte der Mann und bekam seinen Wunsch erfüllt, denn Smith ignorierte ihn und zog stattdessen Poe vom Boden hoch.
»Polizei«, schrie Boggs den Glatzkopf an. »Ist das Ihr Haus?«
»Nein! Nein, Sir!«, sagte der Mann und wich so weit zurück, dass er über die Holzstufen stolperte.
»Dann ab nach Hause.«
Der Mann rannte davon. Eine Sekunde später hörte Boggs, wie er erneut stolperte und fiel und dann weiterrannte.
Poe versuchte, Smith abzuschütteln, doch der presste ihn gegen die Wand und stieß ihm den Schlagstock in die Rippen. Poe heulte auf.
Boggs trat gegen den zu Boden gegangenen Andrews, wenn auch nicht zu hart. »Zurück in Ihre Wohnung. Auf der Stelle!«
Andrews gehorchte nur allzu freiwillig und schneller, als Boggs für möglich gehalten hätte.
Smith ließ Poe fallen. Er schlug erneut auf den Schmuggler ein, immer wieder.
»Schaff deinen gottverdammt wertlosen Arsch aus meinem gottverdammten Viertel!« Jeder von Smiths Flüchen wurde von einem weiteren Schlag begleitet.
Poe schützte seinen Kopf mit einem Knäuel aus Armen und Händen, nicht, dass es ihm genützt hätte.
»Wo ist dein weißer Freund jetzt, na? Wo ist dein Abschaum von einem Cop jetzt?« Erneut der Schlagstock, er brach ihm die Finger. »Wie viel bezahlst du ihm, du Hurensohn?«
Boggs wandte sich ab und blickte zum Anfang der Gasse in der Hoffnung, keine Schlafzimmerlampen angehen zu sehen.
»Ich zahl euch mehr, ich zahl euch mehr!«
Falsche Antwort. Smith schlug wieder zu, härter jetzt. Ein Speichelfaden hing von seinem Kinn.
»Das hier ist nicht mehr Dunlows Viertel, kapiert? Es ist meins. Es ist mein gottverdammtes Viertel. Nimm deinen verdammten Schnaps und verpiss dich.«
»Okay!«, rief Poe. »Okay!«
Smith bückte sich zu ihm hinunter. »Du bist so verdammt clever, oder? Denkst, du hast die weißen Cops und die Richter in der Tasche, hm? Tja, mich hast du nicht, kapiert? Mich nicht, und wenn ich dich noch mal hier in der Gegend sehe, dann wird dir das hier wie ein harmloser Strafzettel vorkommen. Kapiert?«
»Ich hab’s kapiert! Hab’s kapiert!«
Smith stand wieder auf, doch seine gespannten Schultern deuteten eher auf den nächsten Schlag hin, also ging Boggs zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Es reicht.«
Smith antwortete nicht, bewegte noch nicht einmal den Kopf, aber er schlug auch nicht mehr zu. Stand nur da, tankte Kraft. Hoffte, dass Poe dumm genug war, noch mal das Maul aufzureißen, doch so dumm war er nicht.
In zwanzig Minuten war die Schicht vorbei, sagte sich Boggs. In sechzig Minuten würde er seine müden Knochen hinlegen und versuchen, das alles hier zu vergessen. Obwohl er wusste, dass er es nie vergessen würde. Obwohl die Ahnung davon, dass dieser Abend hier ihn und seinen Partner noch in vielerlei Hinsicht verfolgen würde, wie eine zusätzliche schwere Last auf seinen Schultern saß.