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MEHR ALS NUR einmal hatte sich Rake vorgestellt, wie er seinen Partner versehentlich erschoss. Nur vorgestellt. Nicht geplant. Nicht tatsächlich durchdacht oder irgendwo eine Waffe deponiert, die er danach wegwerfen würde. Nicht tatsächlich einen Ex-Knacki gefragt, ob er den Job im Tausch für ein zugedrücktes Auge beim nächsten Vergehen erledigen könne. Noch standen die Dinge nicht so schlecht. Dennoch hatte er sich vorgestellt, wie bequem es wäre, wenn sein Partner ganz zufällig tödlich verunglückte. Vielleicht ereilte Dunlow ja bald ein Herzanfall. Oder er schikanierte irgendwann den falschen Negro, geriet an einen Hünen mit einer Scheißwut und einem Messer in der Hosentasche. Wenn das passierte, würde Rake vielleicht absichtlich die eine oder andere Sekunde länger warten, bevor er eingriff. Nur um sicherzustellen, dass Dunlow auch tot war.
Dunlow war zwanzig Jahre lang Streife gelaufen, und obwohl er zu glauben schien, dass ihn das zu einem besseren Streifenpolizisten mache, überlegen gewissermaßen, bedeutete es in Wirklichkeit nur, dass ihn nie jemand hatte befördern wollen. Angesichts der wachsenden Zahl von Prügeleien und Erpressungen, die Dunlow in ihren ersten gemeinsamen Wochen angezettelt hatte, fragte sich Rake ernsthaft, was Dunlow noch in petto hatte. Welche noch viel größeren Schweinereien er vor Rake verbarg. Testete Dunlow ihn, um zu sehen, wie weit er sich die Dunlow-Art schon angeeignet hatte? War Rake schon durch die entscheidende Prüfung gefallen, weil er sich noch nicht hatte bestechen lassen? Hatte er versagt, weil er in der Nacht, in der sich Boggs verletzt hatte, den Krankenwagen gerufen hatte?
Und was, wenn überhaupt, hatte Dunlow mit dem Tod der Ellsworth-Tochter zu tun?
»Hat sich schon jemand damit befasst, wer das Mädchen im Müll getötet hat?«, fragte er vom Beifahrersitz aus. Es war der Abend nach Rakes mitternächtlichem Gespräch mit Mr. Calvin.
»Hab gehört, ihr alter Herr war’s«, sagte Dunlow.
»Lebt der nicht irgendwo draußen auf dem Land?«
»Schon, aber die haben Züge da. Ich hab gehört, der ist in die Stadt gekommen und hatte einen Streit mit ihr, hat sie erschossen.«
Dass ein Vater seine Tochter nach einem hitzigen Streit erschoss, war nicht so unwahrscheinlich, wie manche glauben wollten, das wusste Rake. Wenn dich jemand umbringt, dann kennst du den Täter meistens persönlich, bist vielleicht sogar mit ihm verwandt. Lust und Liebe, Stolz und Kränkung, die Hitze des Gefechts, konnte einem nur einen Moment später wieder leidtun. Aber die Leiche seiner eigenen Tochter wegwerfen wie Müll? Ihm erschien das zu weit hergeholt, doch aus Dunlows Sicht war den Negroes jede Scheußlichkeit zuzutrauen.
»Streit weswegen?«
»Weil sie mit weißen Männern ins Bett ging.«
»Woher hast du das?«
»Aus der Gegend hier. Manche von uns unterhalten sich mit den Leuten, wenn sie Streife laufen, Grünschnabel. Manche von uns machen sich auch mal die Hände schmutzig, lassen sich auf das Leben hier im Viertel ein. Würd ich dir auch empfehlen.«
»Was weißt du über den Kerl, den wir vor ein paar Wochen angehalten haben?«, fragte Rake, versuchte, beiläufig zu klingen. »Diesen Brian Underhill?«
»Warum fragst du?«
»Das Mädchen aus dem Müll saß in der Nacht in seinem Auto, sagt Boggs. Sagt, er hat sie geschlagen, dann ist sie ausgestiegen und abgehauen.«
Und dann hast du den Mann laufen lassen.
»Sagt Boggs?!« Dunlows Reaktion ließ den Wagen ins Schlingern geraten. Er starrte seinen Partner an. Die Zähne zusammengebissen. Die Augen ebenso zusammengebissen, wenn das möglich wäre. »Du holst dir Tipps von den Nigger-Cops? Bist du völlig wahnsinnig geworden?«
Er hielt am Straßenrand. Rake starrte zur Frontscheibe hinaus, um dem heißen Atem seines Partners zu entgehen.
»Scheiße, du gibst dich mit denen ab, hast du sie noch alle?«
»Jesus, Dunlow, Boggs hat sie nur kurz erwähnt, als wir zusammen auf den Krankenwagen gewartet haben. Das kann man wohl kaum ›abgeben‹ nennen.« Später würde es ihm leidtun, wie schnell er sein Gespräch mit Boggs geleugnet hatte, doch die Wucht von Dunlows Reaktion hatte ihn eingeschüchtert, und er spürte, wie sein Partner sich mental vor weiteren Fragen zu verbarrikadieren begann, die Rake gern gestellt hätte.
Dunlow nickte, sah ein, dass er aus der Fassung geraten war. Er brachte sie zurück auf die Straße.
»Ich weiß zumindest, dass Brian Underhill kein Mörder ist.« Ein Frachtzug stieß seinen einsamen Heulton aus. »Er ist ein ehemaliger Cop. Fünfzehn oder sechzehn Jahre Dienst.«
Den Teil kannte Rake bereits – er hatte sich über den Mann informiert. Wollte ein paar Antworten kennen, bevor Dunlow ihm welche gab, so konnte er Abweichungen erkennen. »Was ist passiert?«
»Diese beschissene Lotterie-Sache.«
Vor vier Jahren hatte eine staatlich geleitete Undercover-Untersuchung der diversen Lotteriebetriebe der Stadt etliche Korruptionsfälle in den Reihen der Polizei aufgedeckt. Lotterien gehörten zu den einträglichsten Geschäftsmodellen in ganz Atlanta – manche Journalisten sahen sie sogar auf Platz drei hinter der Eisenbahn- und der Textilindustrie. Das nicht besonders kleine, nicht besonders geheime schmutzige kleine Geheimnis dahinter war, dass die Freunde und Helfer Atlantas ihre Finger mit im Spiel hatten, die Betreiber protegierten, Befehle entgegennahmen und dafür ihren Anteil abgriffen. Neun Cops wurden gefeuert, nachdem die Ermittlungen die Titelseiten des Journal und der Constitution gefüllt hatten. Zweifellos profitierte die Karriere des einen oder anderen Bezirksstaatsanwalts davon. Aus Sicht der Polizei waren die neun Cops nur Sündenböcke für die ranghohen Beamten. Rake war zu dem Zeitpunkt in Europa gewesen, hatte aber dennoch genug Klagen von gekränkten Cops über die Operation vernommen, genau wie über einen vergleichbaren Schlag gegen den Ku-Klux-Klan ein paar Jahre zuvor.
»Kennst du ihn?«
»Einigermaßen. Er war Detective bei der Mordkommission, und ich hab ein paarmal mit ihm gearbeitet. Hat jetzt keinen außergewöhnlichen Eindruck auf mich hinterlassen, wenn ich ehrlich bin.«
»Zumindest hat’s gereicht, um mit ziemlicher Sicherheit zu behaupten, dass er kein Mörder ist.«
»Verhören Sie mich gerade, Officer Rakestraw?«
Rake versuchte es mit einem ehrlich überraschten Tonfall, der ihm nicht besonders gut gelang, wie er merkte. »Ich stell nur ein paar Fragen. Er ist immerhin der Letzte, der mit dem Mädchen gesehen wurde, und außerdem …«
»Behaupten die Äffchen.«
»… die einzige Spur in dem Fall, der sollte man doch nachgehen.«
»Und warum? Klär mich über deinen Gedankengang auf.«
»Na ja, du hast doch selbst gesagt, es ist vorstellbar, dass sie mit einem weißen Mann ins Bett ging. Vielleicht war’s ja Underhill. Vielleicht haben die sich gestritten, oder er hat gedacht, sie geht fremd.«
»Das lässt du einen wie ihn besser nicht hören.«
»Warum nicht? Weil er so einer ist, der dich abknallt und deine Leiche auf den Müll wirft?«
»Du hältst dich wohl für besonders schlau.«
»Ich versuche nur, ein paar Dinge herauszufinden.«
»In dem Bericht, den übrigens nicht nur einer hier in diesem Auto gelesen hat, steht, dass sie mit einem .22er-Kaliber erschossen wurde. Die Leute erzählen sich ja so einige üble Dinge über Underhill, aber mit einer Kinderpistole rumzulaufen, gehört nicht dazu.«
»Was für üble Dinge erzählt man sich denn über ihn?«
Dunlow schüttelte den Kopf. »Ich krieg noch Kopfschmerzen wegen dir, verdammt.«
*
Um zehn Uhr am nächsten Morgen observierte Rake die letzte bekannte Adresse von Brian Underhill, ein dreistöckiges Wohnhaus aus Backstein in Mechanicsville, südlich von Downtown. Das Viertel war schon während des Krieges überfüllt gewesen, da so viele Männer bei der Eisenbahn gebraucht wurden, und überfüllt blieb es auch danach. Es gab genug Fußgänger, um sich im Wagen ein bisschen verdächtig vorzukommen, aber nicht genügend, um das Ganze abzubrechen.
Rake musste herausfinden, was es mit dem Mann auf sich hatte. Dass ihm Dunlow so entschieden abgeraten hatte, machte das notwendiger denn je. Eine einfache Recherche hatte Underhills Adresse, die Kopie eines Fotos (vier Jahre alt, aber ausreichend) und einen kurzen Abriss seiner verkürzten Laufbahn ergeben. Als Detective bei der Mordkommission hätten Rake natürlich mehr Mittel zur Verfügung gestanden und dazu ein hilfsbereiter Partner, doch er war eben nur Streifenpolizist. Außerdem stand mittlerweile fest, dass im Fall des Mordes an Lily Ellsworth niemals ermittelt werden würde. Am Ende würde ein wegen Mordes verhafteter Negro auch den Mord an ihr »gestehen« und zack, war der Fall gelöst. Niemand würde je herausfinden oder sich darum scheren, wer Lily umgebracht hatte.
Scherte sich Rake darum? Ja, tat er. Kein Mädchen, egal, welcher Hautfarbe, hatte es verdient, ermordet, in eine Gasse geworfen und vergessen zu werden. Er nahm seine Pflicht als Gesetzeshüter auch dann ernst, wenn es die anderen nicht taten.
Nicht allein die ehrbaren Absichten motivierten ihn hier allerdings. Es war genauso die leise Ahnung, der Schauer in seinem Nacken, der ihm sagte, dass sein Partner wesentlich mehr über den Mord wusste, als er zugab. Sein Partner, der einen der farbigen Polizisten ohne jeden Beweis wegen Trinkens feuern lassen wollte, der sich einen Spaß daraus machte, sie zu provozieren. Rake hatte nie mit einem korrupten Cop zusammenarbeiten wollen und lange auf eine neue Zuteilung gehofft. Doch Warten war ein Luxus, den er sich nicht mehr leisten konnte.
Also saß er im Auto und wartete. Er hatte seine Frau angelogen, ihr erzählt, die Schicht fange früher an, nur damit er die zwei kostbaren Stunden vor Dienstbeginn mit der Beschattung Underhills verbringen konnte.
Im Autoradio lief ein Bericht über die Nationalversammlung in Philadelphia, bei der sich die Delegierten gerade so auf eine Änderung im Zivilrecht hatten einigen können, zweifellos zurückzuführen auf Trumans überraschenden Beschluss, die Rassentrennung in der Armee aufzuheben und ein bundesweites Komitee für Bürgerrechte einzurichten. Das Votum hatte die Demokraten der Südstaaten in Rage versetzt. Die Delegierten von Mississippi und Alabama waren aus dem Sitzungssaal gestürmt und wollten angeblich ihre eigene States Rights Democratic Party mit Strom Thurmond als Kandidat gründen. Einige nannten sie »Dixiecrats« und behaupteten, dass die Zersplitterung nichts weiter bewirke, als die Wahl an Dewey zu verschenken. Rake schaltete das Radio aus.
Jetzt, da er hier in dem heißen Auto saß und sich langweilte, ertappte er sich bei dem Gedanken an seinen Bruder. Curtis war immer der Schelm in der Familie gewesen, das Schlitzohr. Der daran geglaubt hatte, dass sie ein Vermögen machen würden, wenn sie Limonade auf der Straße verkauften oder nach Schätzen grüben. Einer seiner Lieblingstricks war damals, seinen Bruder von hinten zu Boden zu reißen, am besten vor Publikum. Rake drehte seinen Kopf von klein auf unablässig, er blieb ständig auf der Hut vor möglichen Hinterhalten, wurde aber immer wieder aufs Neue überrumpelt. Curtis’ Fähigkeit, einen ganzen Tag lang auf den richtigen Ort und den richtigen Zeitpunkt zu warten, war ihm unheimlich. Die Phase der Hinterhalte und Tacklings ging zu Ende, als Curtis alt genug war, um Auto zu fahren und noch größeren Ärger zu verursachen. Curtis wäre zweifellos allzu gern bei einer Beschattung dabei gewesen. Er hätte geduldig auf die Zielperson gewartet, Hauptsache, jemand saß neben ihm, dem er stundenlang Witze erzählen konnte. Die Vorstellung ließ Rake ihn noch mehr vermissen.
An diesem ersten Tag verhielt Underhill sich nicht sonderlich auffällig, besuchte lediglich ein paar Blocks weiter ein Diner, wo er ein sehr spätes Frühstück zu sich nahm, und ging danach wieder nach Hause.
Auch am nächsten Tag unternahm er nichts Auffälliges, und doch blieb Rake dran.
Beim dritten Mal war es mitten in der Nacht, als Rake ihn beobachtete, drei Uhr morgens, nach Ende seiner Schicht. Er hatte erwartet, dass Underhill schlief, doch es brannte noch Licht bei ihm. Er stand eine Querstraße entfernt auf einem Parkplatz, als er eins der parkenden Autos auf der anderen Straßenseite erkannte.
Das von Dunlow.
Rake stieg aus und schloss lautlos die Autotür. Wich Pfützen des vorangegangenen Regenschauers aus, lief auf dem Grasstreifen zwischen Straße und Gehsteig, so geräuschlos wie möglich.
Vom Auto aus hatte Rake erkennen können, dass die Jalousien in Underhills Wohnung im ersten Stock heruntergelassen waren, die Fenster wegen der Luftzufuhr einen Spaltbreit geöffnet. Er quetschte sich zwischen zwei Stechpalmen, um sich an der Seite des Hauses zu postieren, lehnte sich neben einem Fenster gegen die klamme Mauer.
In diesem Teil der Stadt war es nachts bemerkenswert ruhig, von den Heuschrecken abgesehen. Zuerst hörte er nur ein Schnarchen aus der Erdgeschosswohnung. Dann Männerstimmen, die er nicht ganz verstehen konnte. Dunlows Stimme. Und noch eine, die Underhill gehören musste. War da noch eine dritte? Nein, er glaubte nicht.
Die Stimmen wurden lauter. Er hörte, wie Underhill sagte: »Das ist nicht dein verdammtes Problem.« Dunlows Antwort war jedoch nicht ganz so deutlich, auch wenn er erneut das Wort »Problem« aufschnappte. Vermutlich stand Dunlow weiter vom Fenster entfernt oder mit dem Rücken dazu.
»War das Cleverste, was du verdammt noch mal je gemacht hast«, sagte Underhill. Den nächsten Dialog konnte er nicht verstehen. Dann erwähnte Dunlow etwas von einem »Insider«. Die Stimmen wurden mal deutlicher, dann wieder schwerer verständlich, doch ein paarmal fiel der Begriff »Trust Division«, was auch immer damit gemeint sein mochte.
»Weil ich mehr will«, hörte er Underhill sagen. »Ich hab keine Lust mehr auf die Knochen, die sie uns hinwerfen. Ich hab da was. Dürfte eine hübsche Summe wert sein.«
Dann wieder Schweigen. Rake war jetzt ziemlich wach, hatte das Gefühl, dass er kurz davorstand, etwas aufzudecken.
Lügen haben kurze Beine, dachte Rake auf Deutsch. Dunlow hatte jetzt zwei Mal so getan, als kenne er Underhill kaum, doch offensichtlich war das Gegenteil der Fall.
Er hatte nicht mitbekommen, wie lange schon geschwiegen wurde, als er hörte, wie sich die Vordertür öffnete. Scheiße. Dunlow haute schon ab. Die Stechpalmen links und rechts waren größer als er, und der Schein der nächsten Straßenlampe reichte nicht aus, um ihn preiszugeben. Er duckte sich trotzdem.
Ein paar Sekunden später konnte er sehen, wie Dunlow auf seinen alten Dodge zuschlenderte, die Tür öffnete, einstieg und davonfuhr.
Er fragte sich, ob Dunlow seinen Wagen auf der anderen Straßenseite bemerkt hatte.