17
SERGEANT JOSEPH MCINNIS hatte kaum im einsamen Besucherstuhl von Captain Dodds Büro Platz genommen, als er schon gefragt wurde, was zum Teufel mit den Niggern vom »sogenannten Butler-Revier« los sei.
Dodds Büro war klein und eng, die fehlenden Fenster und die Schleifspuren auf dem Boden deuteten darauf hin, dass es sich um einen ehemaligen Abstellraum oder etwas in der Art handelte. Jemand hatte die Regale entfernt und irgendwie einen fetten Schreibtisch durch die Türöffnung gequetscht. Dodd war seit zehn Jahren Captain, beinahe so lange, wie McInnis Polizist war. Dodd hatte deutlich weniger Haare als vor zehn Jahren. McInnis hätte nicht behaupten können, dass er den Captain besonders mochte, aber er schien ein einigermaßen fairer Vorgesetzter zu sein, vorausgesetzt, niemand in deinem Team machte einen katastrophalen Fehler.
McInnis wurde das Gefühl nicht los, dass jemand aus seinem Team einen katastrophalen Fehler gemacht habe.
Er hatte seine Runde im Hauptquartier gedreht, die Berichte und Protokolle der echten Cops überprüft und wollte gerade rüber ins Y in der Butler Street, wie es in den letzten Monaten zur merkwürdigen und ungeliebten Gewohnheit geworden war. Er war der einzige weiße Cop unter den Farbigen, ohne eine verwandte weiße Seele zum Plaudern. Dieser viel zu kurze Augenblick vor der eigentlichen Schicht war beinahe die einzige Gelegenheit, sich auf der Arbeit mit anderen Weißen zu unterhalten. Außer er war draußen auf den Straßen, um das Chaos bei groß angelegten Festnahmen unter Kontrolle zu bringen; wenn er dafür sorgte, dass seine Negro-Officer keinen Unsinn veranstalteten, und gleichzeitig die weißen Beamten davon abhielt, auf »seine Männer« loszugehen.
»Ich hab mich heute Morgen lange mit Dunlow unterhalten«, sagte Dodd.
McInnis wusste nicht, worauf Dodd anspielte, wie er die Leerstellen hätte füllen sollen. Er hatte die Protokolle gelesen, und ihm war nichts Außergewöhnliches aufgefallen. »Und?«
»Es steht in keinem Bericht, weil ich denen gesagt habe, sie sollen es rauslassen. Will nicht, dass uns das noch mehr um die Ohren fliegt, als es uns ohnehin um die Ohren fliegen wird. Auf jeden Fall hat Dunlow zwei Ihrer Männer wegen Mord auf dem Kieker.«
»Entschuldigung, wie bitte?«
»Schwarzer Alkoholschmuggler namens Chandler Poe wurde zusammengeschlagen und niedergestochen, schätzungsweise vor ein paar Tagen. Der Leichenbeschauer sagt, die haben ihn erst vermöbelt, dann aufgeschlitzt und am Kanal auf der West Side entsorgt.« Deshalb hatte McInnis nichts darüber in den Einsatzberichten gelesen – es war nicht sein Revier. »Und Dunlow behauptet, dass es zwei Ihrer Jungs waren: Boggs und Smith.«
McInnis war keiner, der seine Beine übereinanderschlug. Seine Füße blieben auf dem Boden, und die Knie bildeten einen rechten Winkel dazu, als er fragte: »Basierend worauf?«
»Basierend auf einem Augenzeugen bislang, doch die sagen, es gibt noch einen weiteren. Wir haben Ermittler drauf angesetzt. Also frage ich Sie jetzt noch mal: Was zum Teufel haben Sie diesen Niggern beigebracht?«
McInnis musste erst ein paar Dinge im Kopf sortieren: In den letzten Berichten von Boggs und Smith wurde kein Kontakt mit Poe erwähnt, zumindest nicht seit der Verhandlung im Gerichtsgebäude, bei der er freigekommen war.
»Und diese Augenzeugen behaupten, dass sie gesehen haben, wie meine Beamten Poe getötet haben?«
»Ein Zeuge bislang, aber ja.«
»Wer?«
»Nigger namens Shane Andrews.«
McInnis musste lachen. »Wir haben also einen toten farbigen Schmuggler und einen lebendigen farbigen Schmuggler, der behauptet, ein Cop habe den anderen getötet. Und das glauben wir? Sie kennen doch Dunlow, das ist derselbe Cop, der einem meiner Jungs was wegen Trinken anhängen wollte.«
»Sie können nicht behaupten, dass er ihm was anhängen wollte, Mac. Kann doch sein, dass er recht hatte und es nur nicht beweisen konnte. Oder es war ein harmloser Irrtum und er hat einfach die Negroes verwechselt.«
»Dunlow kann einen verdammten Negro vom anderen unterscheiden, das kann ich Ihnen versichern. Der hat’s auf meine Jungs abgesehen, das wissen Sie genau.«
Dodd schüttelte den Kopf und seufzte. »Jesus, Mac. Mir macht das doch auch keinen Spaß.«
»Bei allem Respekt, aber Sie müssen sich nicht den ganzen Tag damit auseinandersetzen, so wie ich. Wissen Sie, ich denke, mit den Mitteln, die man mir zur Verfügung gestellt hat, habe ich bisher einen mehr als angemessenen Job abgeliefert. Ich befehlige acht Negroes, aus denen Sie Polizisten machen wollen, und …«
»Ich bin nicht derjenige, der das will.«
»Okay, dann schieben Sie’s auf den Bürgermeister. Was ich sagen will: Ich sitze da draußen auf einer Insel und gebe mein Bestes, und das mögen nicht die großartigsten Polizisten sein, die Atlanta je hervorgebracht hat, aber ein in die Jahre gekommener, übergewichtiger Streifenpolizist wird meine Beamten nicht als Mörder anprangern.«
Darüber dachte Dodd einen Moment lang nach. Mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. »Ich wollte damit nicht sagen, dass sich das negativ auf Sie auswirkt. Ich wollte Ihnen nur den Gefallen tun, es von mir zu hören, bevor Sie es anderweitig herausfinden. Es geht schon alles seinen Gang. Zwei meiner Detectives übernehmen den Fall, und ich könnte mir vorstellen, dass die mit Boggs und Smith reden wollen. Und wenn das passiert …«
»Sie können nicht mit meinen Jungs reden.«
»Wie bitte?«
»Wenn die Dienstaufsicht eine formale Beschwerde gegen das Verhalten meiner Beamten einreichen will, soll sie das tun. Ansonsten sind meine Beamten nicht verpflichtet, die Fragen eines Detectives zu beantworten, und das wissen Sie.«
Dodd sah aus, als könnte er sich nicht zwischen Wutanfall und Schock entscheiden.
»Was? Jetzt stellen Sie sich hier vor Ihre Nigger? Wenn Sie so sicher sind, dass die’s nicht waren, warum schützen Sie sie dann?«
»Schätze, ich tue nur, was jeder andere Vorgesetzte an meiner Stelle auch tun würde, Sir. Meine Männer müssen sich nicht der irrsinnigen Hexenjagd eines faulen Cops aussetzen, dem stinkt, dass er eine seiner zuverlässigsten Schmiergeld-Quellen verloren hat.«
Dodd faltete seine Hände über der Brust. »Sergeant McInnis, nur damit wir uns hier richtig verstehen. Ich habe einen langgedienten weißen Cop, der aussagt, dass Ihre schwarzen Rookies die Nerven verloren und einen Kriminellen zu Tode geprügelt haben. Und Ihr Stolz als ihr Ausbilder macht Sie blind für die richtige Seite.«
»Es sind meine Nigger, meine Rookies, genau wie Sie sagen. Wer meine Nigger des Mordes bezichtigen will, muss erst an mir vorbei. Das verlangt das Protokoll.«
»Ich würde es ›hirnrissigen Stolz‹ nennen.«
»Der eine so, der andere so.«
»Hören Sie, Mac«, sagte Dodd, »ich weiß, dass Sie diesen Posten nie wollten, aber …«
»Verdammt richtig, ich wollte ihn nicht.« McInnis stand auf, um zu gehen. »Ich erkenne eine Selbstmordmission, wenn ich eine sehe.«
»Setzen Sie sich wieder auf Ihren Arsch.«
Mac musste eine Menge Stolz hinunterschlucken, um sich wieder auf seinen Arsch zu setzen, und doch nahm er erneut Platz. Genau wie er den Posten angenommen hatte, als Dodd es ihm befohlen hatte. Genau wie er die Negroes ausgebildet hatte, als Dodd es ihm befohlen hatte. Seit vier Jahren war er jetzt Sergeant, im ersten war er der Ermittlung gegen den Lotterie-Ring zugeteilt worden, von der er von Anfang an wusste, dass sie ihm deutlich mehr Feinde als Freunde bei der Polizei einbringen würde. Und er sollte recht behalten. Und dennoch erledigte er seinen Job, weil es das Richtige war und weil es ihm von Vorgesetzten befohlen worden war, die er respektierte und denen er vertraute. Korrupte Polizisten kontrollierten das Glücksspiel in der Stadt, also ließ er sie hochgehen. Und was war der Dank? Zunächst schickte man ihn in eine unterbesetzte Mordkommission, die für ein paar der trostlosesten Ecken von Darktown und Buttermilk Bottom zuständig war. Die Art von Posten, bei der man einen niederschmetternden Mordfall nach dem anderen bearbeitete, während es den Vorgesetzten egal war, ob die echten Täter bestraft wurden, solange man nur genug Negroes wegsperrte, bis der Rest der Bevölkerung den Hinweis verstand und sich beruhigte. Die Art von Posten, die einem aufstrebenden jungen Sergeant jede Chance nahm, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Und dann, als er dachte, er habe seine Zeit abgesessen und ein Anrecht auf einen besseren Posten? Hey, Mac, wir stellen ein paar Nigger ein, und du bekommst ein schönes neues Kellerbüro, tief im Dschungel.
»Wenn Sie glauben, Sie hätten eine Vorzugsbehandlung verdient, weil Sie der einzige Sergeant sind, der sich mit den Nigger-Cops herumschlägt, dann haben Sie sich getäuscht. Ich denke, ich habe über die Jahre bewiesen, dass bei mir niemand bevorzugt wird«, sagte Dodd. »Wir haben Arbeit, und die erledigen wir. Teil meiner Arbeit ist, herauszufinden, wer diesen Schmuggler getötet hat, und wenn die Beweislage auf einen Ihrer Jungs hindeutet, dann wird jemand dafür Rechenschaft ablegen.«
Was für McInnis so klang wie: Dafür stehen Sie gerade, Mac. Wenn einer Ihrer Jungs jemanden getötet und die Berichte gefälscht hat, dann ist das Ihre Schuld. Dieses ganze verdammte Negro-Cop-Experiment wird den Bach runtergehen, was dem Rest von uns die reinste Freude bereiten wird. Und Ihre Karriere geht gleich mit den Bach runter.
»Sollten Ihre Detectives etwas herausfinden, das Dunlows Behauptung stützt, dann hör ich mir das an«, sagte McInnis und stand wieder auf. Er packte den Türknauf. »Bis dahin erledigen meine Jungs ihre Arbeit, genau wie ich, Sir.«
*
Am selben Nachmittag musste Boggs vor Dienstantritt noch einmal zum Arzt, um sich die Fäden ziehen zu lassen. Als er danach in den Spiegel schaute, war er enttäuscht von dem Ergebnis. In der Mitte zwischen seinem rechten Auge und dem Haaransatz war eine fünf Zentimeter lange Narbe zurückgeblieben, die Haut an der Stelle etwas heller und röter als der Rest, wobei der Doc behauptete, die Verfärbung werde sich mit der Zeit geben. Die Narbe bleibe allerdings sichtbar.
»Wirkt männlich«, sagte der Doc und steckte Boggs’ Geld ein. »Ist ein Statement.«
Genau, dachte Boggs. Und es sagt: Ich bin jemand, auf den die Leute mit Sachen schmeißen.
*
Auf dem Revier in der Butler Street rief McInnis Boggs kurz nach dem Appell in sein Büro.
»Nehmen Sie Platz.«
Boggs gehorchte, während er auf zwei Wasserrinnsale starrte, die an der Wand hinunterliefen. Am Nachmittag hatte es geregnet, nicht stark, aber es brauchte nicht viel, um die Wände zum Weinen zu bringen. Als sie angefangen hatten, den Keller als Büro zu nutzen, hatten sie Lappen und alte Handtücher unten an der Wand ausgelegt, um das Wasser an schlechten Tagen daran zu hindern, sich auszubreiten. Doch irgendwann fingen die Lappen an, nach Schimmel zu riechen, also schmissen sie sie weg. Man konnte nicht jede Schlacht gewinnen.
McInnis schien sich sehr für einen bestimmten Bericht auf seinem Tisch zu interessieren. Die Zeit verging ohne ein Wort seines Sergeants, und Boggs begriff, dass McInnis wartete, bis sich keiner der anderen Beamten mehr im Kellergeschoss aufhielt. Als sie das letzte Paar Schuhe die alten Holzstufen hochgehen hörten, sah McInnis endlich auf. Er hatte schmale, eisblaue Augen, die früher sicher weiße Mädchen hatten dahinschmelzen lassen, mutmaßte Boggs.
»Worüber sollen wir Ihrer Meinung nach reden, Officer Boggs?« Seine Hände hatte er sorgfältig über dem Schreibtisch gefaltet, sein Nacken war leicht gekrümmt, so als bereitete er sich zum Sprung vor.
»Ich … ich dachte, Sie hätten mich einbestellt, Sir.«
»Das hab ich. Es gibt da etwas, worüber Sie mit mir reden wollen.«
Du lieber Gott, Weiße und ihre Spielchen. Wie sie die Dinge gerne spannend machten.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber ich versteh nicht ganz.«
»Officer Boggs. Sie sind vermutlich der Schlauste in meiner Truppe. Mir ist das bewusst. Und noch dazu der Sohn eines Priesters. Nicht die Art von Polizist, der ich so etwas zutraue.« Pause. »Eigentlich würde ich behaupten, dass ich ein ganz passables Oktett Polizeibeamter hier versammelt habe. Doch von Ihnen bin ich enttäuscht, Officer Boggs.«
Boggs hatte sich auf einen Rüffel wegen der Prügel für Poe gefasst gemacht. Er hatte Zeit gehabt, seine Reaktion darauf einzuüben, sich die plausibelsten Ausreden zurechtzulegen. Allerdings hatte er sich nicht ausreichend mit Smith abgesprochen, sie hatten nichts, was einem Plan glich. Nichts außer einer knappen Übereinkunft gleich nach der Prügelei, dass sie beide den Vorfall unerwähnt lassen würden.
Ihm war bewusst, dass sein Partner zu weit gegangen war und dass das Folgen haben würde. Klar standen sie beide unter Druck, und natürlich waren die Momente, in denen Boggs daran dachte, die Polizei zu verlassen, zahlreicher als die, in denen ihm sein Beruf Freude bereitete, doch so wie Smith war Boggs noch nie ausgerastet. Er redete sich ein, dass ihm das auch nie passieren würde, dass es nicht in seiner Natur lag, dass er so nicht war.
Er fragte sich, ob das stimmte.
Vielleicht sollte er die Prügelei auch nicht überbewerten. Boggs hatte zahlreiche weiße Cops auf die gleiche Art austeilen sehen. Sie wollten doch lernen, wie man ein guter Polizist wurde, was war also falsch daran, es wie die altgedienten Cops zu machen? Wollten sie besser sein als die oder genauso werden?
Doch stattdessen fragte McInnis: »Was in Gottes Namen hatten Sie in der Zentrale zu suchen?«
Boggs entspannte sich. Ein wenig. Er wusste, dass er dafür Ärger kriegen würde, doch zumindest konnte er bei diesem Verstoß die Wahrheit sagen.
»Es tut mir leid, Sir. Ich dachte, wenn der Vater der Verstorbenen das Gesicht eines farbigen Polizisten sieht, macht das den Vorgang …«
»Die Regeln bezüglich Ihrer Anwesenheit in dem Gebäude könnten nicht klarer formuliert sein.« McInnis sprach langsam, aber er wurde lauter. »Ich will Ihre mickrigen Argumente gar nicht hören. Wenn Sie sich jemals wieder dort blicken lassen, werden Sie suspendiert – mindestens. Und das auch nur, wenn die weißen Kollegen nicht vorher ein Exempel an Ihnen statuieren. Sie haben Glück, dass es nicht so weit gekommen ist.«
»Ja, Sir.«
Einen Moment lang starrte ihn McInnis an. »Also, was haben Sie in letzter Zeit sonst noch ausgefressen? Ach ja, stimmt. Erzählen Sie mir von Chandler Poe.«
»Was ist mit dem, Sir?«
»Sind Sie ihm irgendwann nachts begegnet?«
»Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, wurde er von einem Richter freigesprochen.«
»Nach der ganzen harten Arbeit, die Sie und Smith in die Ermittlungen gegen ihn gesteckt haben.«
»Ja, Sir.«
»Wir haben das nie besprochen, aber ich nehme an, Sie waren ziemlich sauer deswegen.«
»›Ziemlich sauer‹ trifft es nicht ansatzweise, Sir.«
»Deshalb frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn Sie und Ihr Partner ihm zufällig eines Nachts über den Weg gelaufen wären.«
Der Schweiß lief ihm über den Rücken. Er hoffte, dass er ihm nicht aus den Augenbrauen tropfte oder auf seiner Stirn glänzte. Er neigte zur glänzenden Stirn, das wusste er. Ihm mangelte es an Erfahrung im Belügen von Autoritätspersonen.
»Ich hoffe, die Verhaftung war ihm eine Lehre, und er verschwindet von hier.«
»Sie sind ihm nicht begegnet?«
»Nein, Sir.«
»Und Sie werden ihm auch nicht mehr begegnen. Er ist nämlich tot.«
Boggs hatte bis eben versucht, entspannt zu wirken, doch jetzt verkrampfte sich sein Magen, und sein Nacken wurde steif. Sein gesamter Muskelapparat zog sich zusammen, seine Augenbrauen waren gerunzelt. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nur, dass man ihn zusammengeschlagen und erstochen hat. Ich hatte gehofft, Sie erzählen mir die Details.«
»Sergeant, ich habe keine Ahnung. Ich kann eine Liste mit seinen Feinden und seinen Bekannten zusammenstellen, damit können wir anfangen.«
McInnis war auf der Hut. Da war keine Spur von Vertrauen in seinem fahlen, ausdruckslosen Gesicht.
»Ich hoffe wirklich, dass das stimmt, Officer. Um Ihretwillen. In Ihren Berichten für die letzten Nächte steht absolut nichts über eine Kontaktaufnahme mit Poe. Ich möchte nicht erleben, dass die nicht zu hundert Prozent korrekt sind.«
Kontaktaufnahme mit Poe – trotz bis zum Zerreißen gespannter Nerven beeindruckte Boggs diese Ausdrucksweise. »Sie sind korrekt, Sir.«
McInnis entfaltete seine Hände und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. »Wie ich bereits sagte, Boggs. Sie sind vermutlich mein Schlauster. Aber so schlau sind Sie nun auch wieder nicht. Verstehen Sie mich?«
»Nicht ganz. Tut mir leid.«
»So schlau sind Sie nicht, dass Sie mit so etwas Idiotischem davonkommen. War das deutlich genug für Sie? Und Ihr Priester-Daddy wird ganz schrecklich enttäuscht sein, wenn die farbige Polizeieinheit, für deren Gründung er so hart gearbeitet hat, wegen seinem Sohn, der’s eigentlich besser wissen müsste, auseinanderbricht. Ist das deutlich genug?«
»Ich habe nichts Falsches getan, Sir.«
»Und Ihr Partner?«
»Mein Partner ist ein guter Cop.«
»Aha. Und Sie halten zu ihm, selbst wenn es Ihrem eigenen Ruf schadet?«
»Ich … ich bin vermutlich doch nicht so schlau, Sir, denn ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Schweigen. McInnis’ Augen klein und starr wie die einer Schlange. »Dann gehen Sie jetzt auf Streife, Officer.«
Boggs stand auf. Die Furcht fiel von ihm ab, und er spürte überraschend einen Anflug von Zorn. Er hatte sich schon zur Tür gewandt, drehte sich jetzt aber noch mal zu McInnis um.
»Einen nicht zu hundert Prozent korrekten Bericht einreichen. Sie haben uns eingebläut, wie falsch das ist.«
»Dann bin ich ja froh, dass das Eindruck hinterlassen hat.«
»Und ich hab eigentlich angenommen, dass sich das nicht nur auf Streifenpolizisten bezieht …«, sagte Boggs und hoffte, dass er damit nicht zu weit ging.
»Versuchen Sie, mir eine Frage zu stellen, Officer?«
Ja, das hätte er gern getan. Warum haben Sie meinen Bericht über Lily Ellsworths Leiche gefälscht?, hätte er gern gefragt. Warum haben Sie den Bezug zu Underhill rausgestrichen? Was verbergen Sie?
Stattdessen sagte er »Nein, Sir« und verabschiedete sich.
*
Boggs konnte die Neuigkeit genau zwei Blocks lang für sich behalten, dann platzte er Smith gegenüber damit raus: »Chandler Poe ist tot.«
»Tot?« Smith blieb stehen.
»Und McInnis denkt, wir waren das.«
Eben waren sie noch an ein paar kleinen Schaufenstern an der Ecke Auburn vorbeigekommen, jetzt bogen sie in eine Seitengasse, um Fußgängern aus dem Weg zu gehen. Es war heiß und beinahe Zeit fürs Abendessen.
»Was ist passiert?«, fragte Smith.
»Keine Ahnung. McInnis behauptet, man hat ihn erstochen, mehr weiß ich nicht. Also, hast du mir was zu sagen?«
»Was? Ich hab den Mann nicht erstochen. Verdammt, du warst doch dabei.«
»Ich war dabei, wie du ihn fast totgeprügelt hast. Danach nicht mehr.«
Smiths Augen weiteten sich, als ob er es nicht fassen könnte, dass sein Partner so etwas glaubte. »Ich hab ihn nicht umgebracht.«
Ein Teil von Boggs genoss Smiths Angst. Du und dein verdammtes Temperament sind der Grund, warum wir überhaupt in dem Schlamassel stecken, also krieg verdammt noch mal ruhig Panik.
»Tja«, sagte Boggs. »Irgendwer war’s aber.«
»Die wollen uns die Schuld in die Schuhe schieben. Wahrscheinlich Dunlow. Erst will er Bayle wegen Alkohol drankriegen, das haut nicht hin, also setzt er noch einen drauf und probiert’s mit Mord.«
»Egal, wer dahintersteckt, ich hab da drinnen McInnis für dich angelogen.«
Smith rasten zu viele Gedanken für ein simples Dankeschön durch den Kopf. »Ich frag mich, warum McInnis noch nicht mit mir geredet hat«, sagte er kurz darauf.
»Schätze, das kommt noch. Er wollte wohl erst mir Feuer unterm Arsch machen und schauen, ob es dich ausräuchert.«
»Denkst du, er weiß Bescheid?«
»Früher oder später wird er es wissen. Du hast den Mann vor zwei Zeugen verprügelt.«
»Zwei Besoffenen.«
»Das spielt keine Rolle! Für die spielt es keine Rolle, ob das Wort eines besoffenen Niggers gegen das eines Nigger-Cops steht – es sind trotzdem nur zwei Nigger. Die glauben, wem sie glauben wollen. Die meisten bei der Truppe suchen doch nur nach einer Gelegenheit, uns auf die Straße zu setzen, und du hast ihnen eine auf dem Silbertablett serviert.«
Smith starrte hinaus auf die Straße, als wollte er selbst diese Tatsache nicht wahrhaben.
»Es ist perfekt. So können sie uns gleich auch noch ins Gefängnis werfen und ein Exempel statuieren. Zeigen, was passiert, wenn man einem farbigen Mann auch nur einen Hauch von Macht verleiht. Herzlichen Dank, Tommy, du hast uns circa achtzig Jahre zurückgeworfen.«
»Tu das nicht.« Smith hob die Hand. »Schieb nicht alles auf mich. Du magst ja die ganze verdammte Last der ganzen Gemeinde auf deinen Schultern spüren, Predigersohn, aber ich versuche nur, meine Arbeit zu machen. Scheiße, du warst doch auch dabei. Du hättest mich aufhalten können, wenn du gewollt hättest.«
»Was?«
»Du hast eine Waffe in deinem Holster. Du hast zwei Fäuste an deinen Armen. Aber vielleicht weißt du ja gar nicht, wie man sie benutzt? Bei dem ganzen Fegen und Wischen in Fort Bragg blieb wohl keine Zeit, kämpfen zu lernen, ja? Du hältst einfach nur die andere Wange hin und lässt mich die Drecksarbeit machen, die du verdammt noch mal gerne selbst erledigt hättest. So kannst du zusehen, wie jemand anderes sie erledigt, und dich schön zurücklehnen und über mich urteilen.«
Boggs hatte in der Tat zwei Fäuste an seinen Armen und sie waren geballt.
»Ich habe dich aufgehalten, und hätte ich das nicht, hättest du ihn mit bloßen Händen umgebracht und wir würden dieses Gespräch gar nicht führen, außer ich würde deinen Arsch im Gefängnis besuchen.«
Falls diese Vorstellung Smith Angst einjagte, hatte er eine merkwürdige Art, es zu zeigen: Er lächelte.
»Willst du mich loswerden, Lucius? Dann geh wieder rein und sag McInnis die Wahrheit.«
»Oh, ich war kurz davor. Ganz kurz davor. Aber gerade wär das glatter Selbstmord.«
Ein unangenehmer Moment des Schweigens kam und ging. Ein Auto auf der Auburn hupte, und beiden wurde klar, dass sie während des Streits ihren Posten verlassen hatten.
»Wir gehen beide ins Gefängnis«, sagte Lucius, »wenn wir nicht anfangen, aufeinander aufzupassen.«
»Alle wollen, dass wir scheitern, du hast recht«, sagte Smith. »Sogar McInnis. Vielleicht hat er deshalb deinen Bericht über Ellsworth gefälscht.«
»Damit hab ich mich übrigens näher befasst.« Er erzählte Smith von seinem Besuch im Haus des Abgeordneten Prescott.
»Du spielst Detective. Du weißt, dass das nicht dein Job ist.«
»Deshalb schreibe ich auch nichts von dem, was ich erfahren habe, in einen Bericht, den McInnis oder sonst jemand vernichten kann.«
Smith lächelte. »Oha, Mr. Lehrbuch ist spontan. Gefällt mir!«
»Wir wissen doch beide, dass die weißen Cops nicht ermitteln, sondern es am liebsten ihrem Vater in die Schuhe schieben würden oder irgendeinem anderen schwarzen Mann, der ihnen unterkommt. Und genau deshalb werde ich herausfinden, wer’s war. Und wenn ich Hilfe brauche oder Rückendeckung, dann wende ich mich an dich, denn du schuldest mir was.«
»Scheiße, du musst mich doch deswegen nicht erpressen. Ich bin dabei. Wenn sie uns schon rausschmeißen, dann wenigstens aus einem gutem Grund. Wie gehen wir weiter vor?«
Boggs holte die Liste mit Lily Ellsworths Adressen aus der Tasche. »Hausbesuche.«