21

DAS HAUS VON Reverend Daniel Boggs war keineswegs das prachtvollste auf der Auburn Avenue, aber auf der breiten und rund ums Haus führenden Veranda nahmen regelmäßig einflussreiche farbige Geschäftsleute und Geistliche Platz. Es war weniger ein Zuhause als vielmehr ein Ort der Zusammenkunft, wo Nachbarschaftsstreite geschlichtet wurden, Glaubenskrisen erörtert, Eheberatungen durchgeführt und Unstimmigkeiten zwischen Verwandten beseitigt wurden, wo die unterschiedlichen Kirchenführer ihre Differenzen beilegten und gemeinsame Pläne für den langen, jedoch entschlossenen Marsch der Gemeinschaft hin zu ihren von Gott gegebenen Rechten schmiedeten.

Seinen einzigen freien Abend in der Woche verbrachte Lucius als einer von mindestens fünfzig Leuten im Haus seiner Eltern. Cousins und Cousinen, Schwager und Schwägerinnen, Kinder und Erwachsene wuselten durch den Salon, die Küche, die Flure, über die Veranda und durch den Garten. Einer seiner Cousins zog nach Chicago und feierte ein bittersüßes Abschiedsfest. Bis eben noch war Count Basie aus dem Plattenspieler erklungen, doch jetzt übertönte ihn die Menge. Aus small talk war big talk geworden, die Drinks hatten die Zungen gelöst, und das, obwohl viele Gäste fromme Baptisten waren, die angeblich nichts von dem Zeug anrührten. In ihren Cola-Gläsern war offensichtlich doch mehr als nur Coca-Cola.

Lucius spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte.

»Ziemlich schickes farbiges Volk hier«, sagte Smith.

Lucius schüttelte die Hand seines Partners. Er hatte ihn vorher noch nie nach Hause eingeladen. Smith trug ein hellblaues Jackett aus Leinen über einem weißen Hemd ohne Krawatte.

»Danke, dass du gekommen bist.«

»Ist mir ein Vergnügen. Ist dieser Professor da, von dem du gesprochen hast?«

»Kellen Timmons.« Gerade erst hatte ihnen eine von Lilys ehemaligen Mitbewohnerinnen erzählt, dass Lily sich in einer Organisation für die Rechte von Negroes engagiert hatte. Der Mitbewohnerin war der Name nicht eingefallen, nur ein paar Substantive, womöglich in der falschen Reihenfolge. Irgendwas wie Liga der Rassenkooperation oder Rassenrat von sowieso. Lucius hatte ein paar alte Klassenkameraden und Freunde angerufen, bevor er auf den eigentlichen Namen kam, den Rat der Rassenkooperation. Einer seiner Gründer war Geschichtsprofessor am Morehouse und ein alter Freund von Lucius’ Bruder Reginald.

»Er ist hier. Warten wir noch, bis er einen oder zwei Drinks hatte.«

Dann fing Lucius’ Onkel aus Paris sie ab.

»Ah, das muss einer deiner Kollegen aus der Schutztruppe sein!«

»Genau, Onkel Percy, das ist Tommy Smith, in den meisten Nächten mein Partner.«

»Es ist mir eine Ehre, einen der furchtlosen Ritter von der Auburn Avenue kennenzulernen!«

»Ganz meinerseits«, sagte Smith mit einem halben Lächeln, nicht ganz sicher, was er von dem Mann halten sollte. Percy hatte bis eben noch einen tadellos maßgeschneiderten schwarzen Anzug getragen, komplett mit einem Monokel, das aus seiner Tasche baumelte, doch jetzt hatte er sein Jackett abgelegt. Unter den Armen waren nasse Flecken. Seit über zehn Jahren lebte er schon nicht mehr im Süden, er war die hohe Luftfeuchtigkeit nicht mehr gewohnt. Neben anderen Dingen.

»Welche Waffe bevorzugen Sie, junger Mann?«

»Sie meinen, was für ein Kaliber ich benutze?«

Percy lachte laut. Obwohl er wesentlich schlanker als sein Bruder, der Reverend, war, verfügte er über eine ähnlich imposante Stimme. Sein längeres Haar war in Wellen gelegt, vermutlich war das Mode unter den in Europa lebenden Negroes, nicht, dass Boggs eine Ahnung von diesen Dingen gehabt hätte.

»Ich meinte, was wollen Sie trinken, mein Bester? Über Schusswaffen können wir uns gerne später unterhalten.«

»Oh, nein danke, Sir, ich brauche nichts.«

»Na ja, dann muss ich Sie wohl zu ein paar Anekdoten zwingen. Vielleicht handelt ja mein nächstes Buch von Ihnen.«

»Sie schreiben, Sir?«

Percy war Romanautor. Unter Pseudonym schrieb er historische Abenteuergeschichten, gelegentlich ein römisches oder griechisches Epos, doch hauptsächlich spielten seine Romane im frühen Amerika. Er war der meistgelesene Negro-Schriftsteller Amerikas, vielleicht sogar der ganzen Welt, auch deshalb, weil niemand wusste, dass der Autor dieser Geschichten ein Negro war. Lucius hatte angefangen, Percys Bücher zu lesen, als er noch in der Grundschule war, und hatte die Romane über verwegene Piraten an der Carolina-Küste oder Goldgräber in den Bergen von Georgia geliebt, über verirrte Einheiten der Konföderierten, die sich in den Sümpfen von Louisiana gegen Krokodile wehrten, oder berittene Soldaten aus Virginia, die alles auf eine Karte setzten, um die Kolonialtruppen der Briten zu besiegen. Irgendwie schien jedes Kapitel damit zu enden, dass eine Stange Dynamit explodierte oder ein Zug auf eine stecken gebliebene Postkutsche zuraste. Erst in der Highschool hatte er mitbekommen, wie wenig sein Vater von den Büchern hielt. Erst da fiel ihm auf, dass sein eigenes Volk entweder gar nicht darin vorkam oder genau so dargestellt wurde, wie es sich die weißen Leser aus dem Süden nach dem Bürgerkrieg vorstellten.

Ende der Dreißigerjahre hatte Percy sein Lager in Paris aufgeschlagen, um das Leben eines von den Jim-Crow-Gesetzen unbehelligten Intellektuellen zu führen. Wie er nach der Niederlage Frankreichs überleben (und auch noch jedes Jahr ein Buch herausbringen) konnte, war ein kleines Wunder, und man hatte Lucius davon abgeraten, ihn danach zu fragen.

»Er ist ein großartiger Autor«, sagte Lucius, bevor es sein Onkel tat.

»Ich bin nur ein Mann mit einer Schreibmaschine. Was ihr beide vollbringt, das ist doch die wahre Heldentat.«

»In der Regel nehmen wir Betrunkene fest und halten Männer davon ab, ihre Ehefrauen zu schlagen«, sagte Smith.

»Vergesst nicht die Schmuggler«, sagte Percy. »Ihr Partner hier hat mir erzählt, wie ihr den illegalen Alkoholausschank in der Stadt gestoppt habt, ist doch so? Wo wir gerade dabei sind, da scheint ein Loch in meinem Glas zu sein, ich gehe an die Bar, und dann setzen wir diese Unterhaltung fort.«

»Interessanter Zeitgenosse«, sagte Smith, nachdem Percy weg war.

»Ich muss aufpassen, dass er nicht zu viel trinkt und sich umbringt.«

»Mann, wir haben doch alle besoffene Onkel. Meine schreiben zwar nicht, aber verschachern alles, was sie dir klauen können.«

»Ich meine das wörtlich. Er versucht sich jedes Mal umzubringen, wenn er nach Hause kommt.«

Lucius erklärte ihm, dass Percy jedes Jahr für eine Woche nach Georgia zurückkehre und jedes Mal mehr von der Rückständigkeit des Südens angeekelt sei. Bei jedem Besuch kam es mindestens ein Mal dazu, dass er zu viel trank und auf dramatische Weise verkündete, sich umbringen zu wollen. Vor zwei Jahren hatte er versucht, sich aus dem Fenster der Wohnung eines Soziologieprofessors am Spelman College im dritten Stock zu stürzen, doch er hatte es nicht geschafft, das Fenster ganz zu öffnen, woraufhin man ihm es hatte ausreden können. Dann war er ohnmächtig geworden. Im letzten Jahr hatte er bei einem Geschäftsessen im Erdgeschoss, ohne die Option eines Todessturzes, angekündigt, sich vor eine Straßenbahn zu werfen. Man hatte ihn selbst mit körperlicher Gewalt kaum bändigen können. Beide Male hatte er sich am nächsten Morgen entschuldigt und war für den Rest seines Aufenthalts sehr kleinlaut gewesen.

Jetzt war er bereits seit fünf Tagen hier, und es blieben nur noch zwei bis zu seiner Rückreise zum aufgeklärten, wenn auch zerstörten europäischen Kontinent.

»Mein Vater hat mich zu seinem Aufpasser für heute Abend ernannt. Ich bin gleich wieder da.«

»Klingt gut. Ich kümmere mich mal um deine hübschen Cousinen.«

*

Smith war noch nie in Gesellschaft so vieler gut situierter Negroes gewesen. Er wusste, dass es sie gab, und hatte hier und da welche zu Gesicht bekommen, aber von dieser Häufung an einem Ort wurde ihm schwindelig. Er war froh, dass er letzte Woche einen Großteil seiner Ersparnisse auf dieses Jackett verwendet hatte. Während er sich mit einem Arzt und dem Eigentümer dieses Barbershop-Imperiums unterhielt, wurde er sich seiner verschluckten Konsonanten und seines Hangs zu Schimpfwörtern bewusst. Er bestaunte Uhren und Manschettenknöpfe. Mehr als einmal wandelte sich ein ursprünglich leicht abfälliger Blick, sobald er erwähnte, dass er einer von Atlantas neuen Polizisten sei, und seine Ungeschliffenheit war plötzlich rühmenswert.

»Sie machen uns alle stolz«, sagte ein Versicherungsvertreter.

»Wir brauchen Männer wie Sie, die das beschützen, was wir uns hier aufgebaut haben«, sagte der Inhaber des Herrenbekleidungsgeschäfts, in dem Smith seinen Anzug gekauft hatte.

Es fühlte sich gut an, die feinen Herren zu beeindrucken, die ihn normalerweise ignorierten, dennoch war er mehr daran interessiert, ihre Töchter zu beeindrucken. Aber jedes Mal, wenn er dabei war, Fortschritte mit einer zu machen, stellte sich ihm wieder jemand vor, der einen von »Atlantas neuen Rittern« kennenlernen wollte.

»Lucius meinte, Sie hätten im Krieg in der Panzerdivision gedient«, sagte Reverend Boggs.

»Ja, Sir, im 761. Panzer-Bataillon.«

»Ich bin froh, dass man meinem Sohn einen erprobten Kämpfer zur Seite gestellt hat.«

Er hasste solche Gespräche. »Tja, leider sitzen wir nicht im Panzer, sondern sind zu Fuß unterwegs. Ein großer Unterschied.«

Dann bat ein anderer Reverend, sich vorstellen zu dürfen. Obwohl Tommy wahrnahm, wie ihn die eine oder andere Dame aus der Ferne anschmachtete, war sein Weg dahin von lauter wichtigen Männern verbarrikadiert.

*

Am späteren Abend saß Boggs im Arbeitszimmer seines Vaters mit seinem Bruder Reginald und Kellen Timmons zusammen, der die Bücherregale bewunderte, die sich über alle vier Wände erstreckten. Lucius hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, sein Hüftumfang war größer geworden und sein Kinnbart länger, vielleicht der Fotografie eines Jazzmusikers nachempfunden. Sie brachten einander schnell auf den neusten Stand: Er war verheiratet, hatte zwei kleine Töchter und lehrte im vierten Jahr am Morehouse. Timmons blätterte einige der Bücher durch und wollte wissen, ob Reginald oder Lucius den aktuellen Essay von Richard Wright gelesen hätten oder den neuen Gedichtband von Langston Hughes. Lucius wurde bewusst, wie lange er schon nicht mehr gelesen hatte, jetzt, wo er alle Hände voll zu tun hatte, um draußen auf der Straße nicht umgebracht zu werden.

Sie unterhielten sich über aktuelle Ereignisse, die guten (über Satchel Paige, den scheinbar nicht alternden Star der Negro Baseball League, der gerade erst sein Debüt in der Major League bei Cleveland absolviert hatte) wie die schlechten (über Südafrika, wo die neu gewählte National Party gerade Anstrengungen unternahm, die Rechte der Farbigen weiter einzuschränken, mithilfe eines Systems, das sie »Apartheid« nannte).

Als Timmons fragte, wie es im Job laufe, leierte Lucius die üblichen Vorzüge herunter und ließ die restlichen fünfundneunzig Prozent weg.

»Wir versuchen doch alle, etwas Gutes zu tun, richtig?«, fragte Timmons mit einem etwas zu enthusiastischen Lächeln. Das Ginger Ale in seinem Glas bestand vermutlich zur Hälfte aus Bourbon. »Darum geht’s doch.«

»Wo wir gerade dabei sind, erzählen Sie mir doch von diesem Rat der Rassenkooperation. Mein Vater sprach neulich davon.« Was eine Lüge war, aber Timmons schmeicheln würde. »Klang interessant.«

Ein von Politik gelangweilter Reginald entschuldigte sich, um sich einen neuen Drink zu besorgen.

»Na ja, ich und ein paar andere Professoren denken, es wäre gut, einen anderen Ansatz zu finden, wenn es darum geht, unsere Zeitgenossen zu politischer Aktivität zu ermutigen. Was dein Vater und Reverend Holmes Borders erreicht haben, na ja, das sind natürlich wunderbare Menschen … Allerdings finden wir, es müssen auch mal andere Stimmen zu Wort kommen.« Noch so ein überschwängliches Lächeln, beinahe ein Lachen. Timmons wirkte nervös, schließlich wollte er es sich ja nicht mit Reverend Boggs’ Sohn verscherzen. Oder hatte seine Nervosität einen anderen Grund? Boggs wollte Timmons schon versichern, dass er sich nicht angegriffen fühle, dass es ihm mehr als egal sei, ob der Mann eine Splittergruppe ins Leben rief, die mit dem politischen Engagement seines Vaters konkurrierte. Doch es gefiel ihm, wie Timmons ins Schwimmen kam, und noch wollte er ihm keinen Rettungsring zuwerfen.

In Wahrheit waren Reverend Boggs und die anderen Gemeindevorsteher vermutlich tatsächlich sauer, dass Timmons eine neue Gruppierung gegründet hatte. In den letzten Jahren hatte es etliche vormals Verbündete gegeben, die eigene Organisationen gründeten oder Briefe an Verleger schrieben, die nicht abgesegnet waren, oder Seminare gaben, deren Inhalt nicht geprüft worden war. So wurden aus kleinen Meinungsverschiedenheiten oft ausgewachsene Fehden. Boggs versuchte sich rauszuhalten, doch er wusste, dass sein Vater trotz Beschwörens des brüderlichen Gedankens alles darüber wissen wollte, was in der Gemeinde vor sich ging, als ob er die Allwissenheit Gottes auf diesen paar Quadratmeilen verdoppeln wollte.

»Wir wollen weitergehen als die Talented Tenth«, fuhr Timmons fort. »Sie und ich und alle auf dieser Feier. Wir wollen auch die weniger Begünstigten fördern, die Kinder aus den schlechtesten Schulen der Stadt und diejenigen, die noch nicht einmal dort einen Platz finden. Die in der Provinz, die den ganzen Tag auf den Feldern arbeiten, statt zur Schule zu gehen.«

Boggs hatte sein ganzes Leben in Gegenwart von Leuten wie Timmons verbracht. Er hätte so werden können wie Timmons, und vielleicht wäre es auch so gekommen, hätte er diese Aktivitäten nicht so sehr mit seinem Vater verbunden. Ein Teil von ihm beneidete Timmons’ Freiheit, kein Familienerbe antreten oder ignorieren zu müssen.

Damals am Morehouse hatte sich Lucius vorgestellt, wie er selbst Professor wurde, so wie die anderen ehrenwerten und kompetenten Männer, denen er so akribisch nacheiferte. Er hatte den Ort geliebt, nicht nur weil das Morehouse an der West Side lag und genau wie Sweet Auburn eine Oase fernab der Jim-Crow-Gesetze war. Was er noch mehr liebte, war, von anderen ehrgeizigen farbigen Männern umgeben zu sein, von Professoren gefördert und ganz unumwunden ermutigt zu werden, sich nicht nur eine bessere Welt auszumalen, sondern sie zu erschaffen. Diese Botschaft war zwar inspirierend, wurde allerdings von genau denselben Professoren kompromittiert, die davor warnten, die farbigen Viertel zu verlassen und die der Weißen zu betreten, insbesondere nach Downtown ins Kino zu gehen, wo man sich als Negro auf den Balkon setzen musste. »Jesus Christus höchstpersönlich würde ich mir nicht in einem segregierten Filmtheater anschauen«, hatte einer seiner Dozenten getönt. In Lucius’ erstem Jahr am Morehouse hatte ein anderer Student, der nebenbei als Zeitungsjunge arbeitete, sich wegen einer ausstehenden Rechnung mit einem weißen Lebensmittelhändler angelegt, und der hatte ihm in den Rücken geschossen. Boggs und seine Kommilitonen hatten einen Nachmittag lang vor dem Rathaus protestiert, und Reverend Boggs und die anderen Gemeindevorsteher hatten an den Bürgermeister geschrieben, doch der Gemüsehändler ging weiter seiner Arbeit nach und wurde noch nicht einmal festgenommen. Seine Zeitung brachte ihm jetzt ein anderer Junge.

»Spricht Ihre Gruppierung mit Politikern?«, fragte Lucius in der Hoffnung, das Gespräch mit Timmons irgendwie auf den Abgeordneten Prescott zu bringen. »Mit Bürgermeister Hartsfield? Dem Stadtrat? Mit Senatoren?«

»Hartsfield redet nur mit Negroes, wenn er Angst hat, dass wir jemand anderen wählen könnten, und er weiß, das wird nicht passieren, nachdem er uns acht farbige Polizisten spendiert hat.«

»Wie steht’s mit Prescott? Haben Sie mit ihm geredet?«

»Wir haben ihm ein paar Briefe geschrieben, ihn um mehr Geld für die schwarzen Schulen in Atlanta und im Umland gebeten. Aber ich verspreche mir nicht viel davon. Manchmal sind diejenigen, die sich als fortschrittlich bezeichnen, die Schlimmsten, denn sie tun so, als bildeten sie die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen und als könnten nur sie dich passieren lassen. Verstehen Sie, was ich meine?«

An dem Punkt betrat Smith das Arbeitszimmer, lächelte, streckte die Hand aus und stellte sich Timmons vor. Boggs fasste kurz zusammen, worüber sie geredet hatten.

»Verstehe«, sagte Smith. »Soweit ich weiß, war auch ein Mädchen namens Lily Ellsworth in Ihrer Gruppe? Gerade erst von Peacedale nach Atlanta gezogen. Ziemlich provinziell.«

Timmons schien einen Moment zu brauchen. »Ah, ja. Junges Mädchen, stimmt’s?«

»Neunzehn. Hübsch. Helle Haut. Neu in der Stadt.«

Aus dem Salon vorne hörte man den Schrei einer Frau und das Geräusch eines zerspringenden Glases. Gelächter.

»Ja, das stimmt. Nathaniels alte Schülerin.«

»Wer ist das?«, fragte Boggs.

»Nathaniel Hurst. Er war ihr Lehrer in Peacedale. Hat gesagt, sie ist wahnsinnig schlau. Genau solche Kids meine ich. Aus denen kann was werden, wenn man ihnen das richtige Rüstzeug mitgibt. Mit Glück erwischt jemand wie sie einen guten Lehrer, der ihr die Augen öffnet und ihr ein besseres Leben ermöglicht. Nathaniel ist ein alter Klassenkamerad von mir, der uns in der Gruppe hilft.«

»Lebt er mittlerweile hier?« Das waren Neuigkeiten. Er erinnerte sich daran, wie Otis verärgert den Kopf geschüttelt hatte, weil ein Lehrer Lily Flausen wie Gleichberechtigung und Wahlrecht in den Kopf gesetzt hatte.

»Ja, ist vor ein paar Monaten hergezogen, vermute ich.« Timmons hielt inne, als wäre ihm jetzt erst bewusst geworden, dass es sich hierbei um eine wichtige Information handelte oder dass er sie unabsichtlich ausgeplaudert hatte. »Woher kennen Sie noch mal Lily?«

»Tun wir eigentlich gar nicht«, antwortete Boggs. »Sie ist ermordet worden.«

Für ein paar Sekunden fror Timmons’ Gesicht ein. Dann weiteten sich seine Augen und er senkte den Kopf, während er Lucius’ letzte Worte wiederholte.

»Ist vor gut zwei Wochen passiert. Wir haben uns gefragt, ob Sie vielleicht etwas darüber wissen.«

»Nein, ich, also Sie … Sie untersuchen den Mord an dem Mädchen?«

»Ja«, sagte Lucius.

»Das hätten Sie mir gleich zu Beginn sagen können!«

»Sie haben recht, das hätten wir. Doch es gibt irgendwie keinen idealen Zeitpunkt, um einen Mord zu erwähnen. Vielleicht haben wir in ein paar Monaten den Dreh raus. Wir werden wahrscheinlich noch sehr viel Praxiserfahrung sammeln.«

»Verflucht. Aber warum befragen Sie mich dazu?«

»Wir wissen nicht viel über sie«, sagte Smith. »Wir wissen nur, dass sie angeblich sehr schlau war, dass sie neu in Atlanta war und Teil Ihrer Gruppe.«

Timmons reagierte mit einem künstlichen Lachen, wie man es tat, wenn jemand etwas Falsches sagte und man es unbedingt richtigstellen wollte.

»So kann man das nicht sagen. Ich denke, sie war vielleicht bei ein, zwei Treffen dabei.«

»Und dennoch erinnern Sie sich an ihren Namen«, sagte Lucius.

Timmons senkte das Kinn. »Sie war ein wirklich tolles Mädchen. Ja, ich erinnere mich an sie. Aber mir fällt kaum mehr zu ihr ein, als dass Nathaniel ihr Lehrer war.«

»Erzählen Sie uns von ihm«, bat Lucius.

»War am Morehouse. Hat beschlossen, seinen Abschluss dazu zu nutzen, den armen Kids draußen auf dem Land zu helfen. So hat er sie kennengelernt. Aber so richtig hat es ihm in der Pampa nie gefallen, deshalb ist er wieder hier. Ich habe den Eindruck, dass er Peacedale auch im Hinblick auf seine Gesundheit verlassen hat.«

»Hat ihn jemand bedroht?«, fragte Smith.

»Er hat es nie so deutlich gesagt, aber … das war mein Eindruck.«

»Oder ist er ihr hierher gefolgt?«

»Er ist ein verheirateter Mann.«

Lucius verdrehte die Augen. »Ah, na dann …«

»Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer. Er ist nicht der Typ für so was.«

Welcher Typ? Der Typ, der sich unbeabsichtigt in ein süßes junges Ding verliebt, das zu ihm aufschaut und ihm dankbar ist, dass er ihr die Augen geöffnet hat? Der Typ, der auf hübsche junge Frauen steht? War Timmons zu naiv oder Boggs zu zynisch?

»Und Sie hatten nie Kontakt zum Kongressabgeordneten Prescott?«, fragte Lucius.

»Nein. Warum, ist der auch tot?« Unsicheres Lachen.

»Sie hat für ihn gearbeitet«, erklärte Smith. »Wir haben uns gewundert. Da arbeitet ein Mädchen, das zu einer politischen Gruppierung gehört, für einen Abgeordneten und bittet ihn vielleicht um ein paar Gefallen, und plötzlich ist es tot.«

Timmons zog empört die Augenbrauen hoch. »Wir sind in nichts involviert, was ein Mädchen das Leben kosten könnte!«

Ein älteres Paar betrat gerade hinter Timmons von der Küche aus den Raum, doch bei diesem Satz blieben sie stehen und machten wieder kehrt.

»Wem hat Ihre Gruppe alles Briefe geschrieben?«, fragte Smith. »Wir hätten gerne eine Liste mit Namen.«

Timmons schüttelte den Kopf, wandte sich an Boggs. »Lucius, es tut mir leid, aber ich werde Sie nicht über unsere Aktivitäten informieren, wenn das bedeutet, dass die Polizei da ihre Nase reinsteckt.«

»Sie hätten sich doch denken können, dass Sie sich damit Feinde machen«, sagte Lucius. »Es gibt eine Menge Leute, die nicht mit dem einverstanden sind, was Sie da treiben. Und viele davon tragen Waffen.«

»Ich denke … ich denke nur nicht, dass das, was ihr zugestoßen ist, etwas mit uns zu tun hat.« Womit er meinte, dass er nicht glauben wollte, dass die politischen Aktivitäten der Gruppe sie in Gefahr gebracht hatten. Er wollte die Schuld weit von sich weisen. Lucius kannte das Gefühl.

»Okay«, sagte Lucius. »Hatten Sie jemals Grund zu der Annahme, sie könnte sich, unabhängig von Ihrer Gruppe, in etwas verstrickt haben? Falsche Freunde, zwielichtiges Milieu, so was in der Art?«

Smith setzte nach. »War sie der Typ Mädchen, der sich mit Weißen abgab?«

»Auf keinen Fall. Ihre Seele war rein wie Maisbrot. Naiv und unschuldig.«

*

Etwa eine Stunde später neigte sich die Party ihrem Ende zu; Smith war dabei, die neunzehnjährige Schwester von Reginalds Frau zu bezirzen, Lucius war in die kühlere Luft der vorderen Veranda geflüchtet. Er war verwirrt, daher fasste er im Kopf noch mal die Fakten zusammen: Prescott unterstützt die Forderung nach schwarzen Polizisten, zumindest ansatzweise. Er signalisiert, dass er möglicherweise auch offen für andere Belange der Negroes sein könnte. Sein farbiges Dienstmädchen hat Kontakt zu einer neuen und moderneren Organisation für die Rechte der Negroes. Vielleicht hat sie mit ihm darüber gesprochen, vielleicht auch nicht. Vielleicht hat sie ihn ausspioniert und an ihre Verbündeten berichtet, vielleicht auch nicht. Vielleicht hat sie eine auffällig hohe Summe nach Hause zu ihren Eltern geschickt, vielleicht auch nicht. Später gibt sie ein Bordell als Adresse an. Eines Nachts sehe ich sie mit einem weißen Ex-Cop und blauen Flecken im Gesicht. Sie wird mit einer kleinkalibrigen Waffe erschossen, vermutlich in derselben Nacht.

»Wenn das nicht Officer Boggs ist!«, tönte die unverwechselbare Stimme von Reverend King. »Versteckt euren Selbstgebrannten!«

Er tauchte auf aus seinen Gedanken und erblickte Reverend King von den Ebenezer-Baptisten, Reverend Holmes Borders von der Wheat Street und John Wesley Dobbs, den Großmeister der Prince Hall Masons und seit dreißig Jahren bei der Post. Sie standen mit seinem Vater bei einem kleinen Tisch, auf dem ihre Gläser abgestellt waren, und schienen ein Blatt Papier zu begutachten, das sie in der Dunkelheit kaum lesen konnten. Diese Männer hatten entscheidenden Anteil an der Registrierung schwarzer Wähler gehabt, so viel wusste Lucius, und obwohl drei von ihnen um dieselben Kirchgänger buhlten, schmiedeten sie ständig gemeinsame Pläne zum Wohl der Bürger.

Die anderen lachten und nahmen ihn weiter freundschaftlich auf die Schippe: warum er nicht Tag und Nacht die Uniform trug, wo der Teufel doch niemals schlief, und was das für eine Narbe auf seiner Stirn war, und wie wohl der andere erst aussah, und wann er endlich einen Streifenwagen fahren durfte. Ihr Lachen war kaum verebbt, da bekam das Gespräch eine ernste Note.

»Wir haben uns über die Sache mit James Jameson unterhalten«, sagte Reverend Holmes Borders. »Die Gemeinde ist, wie du sicher weißt, ziemlich besorgt darüber, wie das Department sich verhalten hat.«

Holmes Borders reichte Lucius das Blatt Papier. Lucius trat einen Schritt zurück, sodass er genug Licht aus dem Fenster des vorderen Salons abbekam, um lesen zu können. Es war ein Brief an Bürgermeister Hartsfield, an den Kongressabgeordneten Prescott und an Herbert Jenkins, den Chef des Atlanta Police Department, der angeblich offen für Reformen war und der Einstellung der schwarzen Polizisten zugestimmt sowie vor einem Jahr die vom Klan unterwanderte Polizeigewerkschaft zerschlagen hatte (obwohl Lucius gehört hatte, dass es immer noch eine inoffizielle strikt weiße Gewerkschaft gebe). Es blieb abzuwarten, wie weit der Mann bereit war zu gehen, um Reformen durchzudrücken, vor allem wenn ein anderer Bürgermeister ins Amt kam.

Lucius hatte für seinen Vater schon etliche dieser offiziellen Schreiben Korrektur gelesen, die im Ton von höflich über mahnend bis erzürnt rangierten. Dieser Brief beschrieb, wie »extrem besorgt« die farbige Gemeinde über die Art und Weise sei, wie das Department bei der »Festsetzung mit Todesfolge« von Jameson vorgegangen sei, und merkte an, dass es immer noch etliche »offene Fragen« gebe. Das Schreiben empfahl eine umsichtige, aber umfangreiche Ermittlung, an der man beteiligt werden wollte. Unterschrieben hatten es diese vier Gemeindeoberhäupter, darunter Lucius’ eigener Vater.

Lucius las den Brief einmal, dann erneut und starrte dennoch weiter auf das Blatt, zu erbost, um zu antworten.

»Wir hatten gehofft, dass du den Brief Chief Jenkins überreichst«, sagte King schließlich.

»Samt Dienstmarke und Waffe?«

»Wie bitte?«

Er schaute zu ihnen hoch. »Dann kann ich auch gleich kündigen. Denn das werde ich tun müssen, wenn ich ihm das da in die Hand drücke.«

Die Männer verlagerten ihr Gewicht, nahmen ihre Hände aus den Hosentaschen und verschränkten ihre Arme.

»Jetzt mal nicht so dramatisch, Sohn«, sagte sein Vater.

Er versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ihr verlangt von mir, dass ich eine Bombe auf meinen Arbeitgeber werfe.«

»Eine ›Bombe‹ kann man das wohl kaum nennen«, sagte Holmes Borders.

»Wir alle respektieren deine Arbeit, Lucius«, sagte Reverend King.

»Vergiss mal nicht, wer dir dabei geholfen hat, diesen Job zu bekommen«, entfuhr es Dobbs.

Sein Vater machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand. »Lasst uns das in …«

»Und Sie wollen ihn mir wieder wegnehmen, Mr. Dobbs?« Lucius funkelte ihn an.

»Wir haben jahrelang hart dafür gearbeitet, dass sich die Dinge zum Besseren verändern und …«, begann Holmes Borders.

»Das ist mir klar.«

»Sohn, unterbrich den Mann nicht.«

»Aber nur, weil wir endlich ein paar Farbige in Uniformen haben, heißt das nicht, dass wir wegsehen, wenn die Stadt so etwas abzieht.«

Lucius versuchte, besonnen zu klingen. »Mir war der Prozess um Jameson genauso zuwider wie euch, doch das ist zwei Jahre her und nicht mehr rückgängig zu machen. Dass er ausgebrochen ist und erschossen wurde – dahinter steckt keine Misshandlung. Er war ein entflohener Sträfling mit einer Waffe.«

»Sie haben seine Schwester gefoltert.«

Lucius wedelte mit dem Brief. »Das ist nicht unsere Schlacht, Gentlemen. Ich habe einiges gesehen, was Ihnen nicht gefallen dürfte und einen eigenen Brief verdient hätte, das können Sie mir glauben, aber der Tod von Triple James gehört nicht dazu.«

»Triple James nennst du ihn also?« Reverend Holmes Borders schüttelte den Kopf. »Jetzt haben sie dich also schon so weit, dass du denkst wie sie.«

»Ich kann selbst denken, Reverend. Ich habe großen Respekt davor, was Sie alle geleistet haben, um mich in diese Position zu bringen, doch das bedeutet nicht, dass Sie mich als Schachfigur zwischen Ihnen, dem Polizeichef und dem Bürgermeister hin und her schieben können.« Er sah seinen Vater an. »Ich spiele für niemanden das Opferlamm.«

»Nicht in dem Ton.« Sein Vater war sehr ruhig.

Lucius hielt inne. Je wütender er wurde, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn wie ein undankbares, widerspenstiges Kind behandelten. Und doch war seine Wut zu groß, um sie für sich zu behalten.

»Niemand von Ihnen hat auch nur die geringste Ahnung davon, wie das läuft. Wenn Sie das losschicken, verstärkt das nur den Druck auf mich und die anderen. Einige von uns – und das muss unbedingt unter uns bleiben – stehen kurz davor hinzuschmeißen. Was meinen Sie, wie das wohl ankommt?«

»Es geht hier um mehr als um acht Beamte«, sagte Reverend Holmes Borders.

»Ach, und Sie glauben, das wüssten wir nicht?« Glaubten die alle, er reiße sich darum, ihren Strohmann zu spielen, ihren Spion innerhalb der weißen Machtzirkel? Oder, noch schlimmer, waren sie neidisch, dass die Autorität, die sie sich im Lauf der Jahre erarbeitet hatten, auf die acht Cops übergegangen war? Auf diese undankbaren jungen Männer? Mussten die Anführer klarstellen, wer hier das Sagen hatte? »Denken Sie, der Gedanke ist uns noch nicht selbst gekommen? Denken Sie, wir begreifen nicht, wie wichtig alles ist, was wir tun?«

Er ließ den Brief fallen, und der Deckenventilator beschleunigte seinen Flug und wehte ihn in Richtung Tisch, auf dem er an der kreisrunden Stelle kleben blieb, wo eben noch ein Glas gestanden hatte. Die Reverends und Mr. Dobbs sahen zu, wie sich die Feuchtigkeit kreisförmig auf dem Papier ausbreitete, und Lucius stapfte davon.

*

Er musste hier weg, raus aus dem überfüllten Haus, also lief er quer durch alle Räume hinaus in den Garten. Er war allein, zumindest dachte er das ein paar Minuten lang, bis sich seine Wut und seine Selbstgerechtigkeit so weit verflüchtigt hatten, dass er die schlaksige Gestalt erkannte, die etwa zwanzig Meter entfernt an dem einzelnen Ahornbaum lehnte und eine Zigarette mithilfe einer dünnen Spitze rauchte.

»Schreibst du eigentlich noch, Lucius?«, fragte Percy.

Lucius ging auf die Silhouette zu. »Ich hab nicht wirklich Zeit dafür gerade.«

»So gesehen ist dein neues Schwert mächtiger als die Feder. Eine Schande. Du hast Talent. Oder sollte ich sagen: hattest.«

»Ich hab nicht behauptet, dass ich es aufgegeben habe. Ich muss nur … ich verbringe meine gesamte Zeit damit, die Arbeit eines Polizisten zu erlernen. Ich kann ein paar Wochen ohne Schreiben aushalten, kein Problem, das überlebe ich. Aber auf Streife vor mich hinträumen sicher nicht besonders lange.«

Gott, was für ein Abend. Dabei war der Anlass für die Feier nur der Abschied seines Cousins gewesen, ein junger Mann, der wegging aus Atlanta, weg von den Errungenschaften des Boggs-Clans, hinein in die Ungewissheit Chicagos. Vor ein paar Monaten hatten ein paar weiße Cops den Cousin in Downtown festgenommen, kurz bevor Lucius bei der Polizei angefangen hatte. Offensichtlich hatten sie ihn davon überzeugt, den Süden zu verlassen. Früher am Abend hatte Lucius ihn gebeten, doch zu bleiben, hatte ihm versprochen, dass die Dinge sich zum Besseren wenden würden. Ich freu mich für dich, hatte sein Cousin geantwortet. Aber egal, welchen Job du hier bekommst, für die bleibst du immer ein Nigger. Die Sätze hallten immer noch in Lucius’ Ohren. Egal, wie viele College-Absolventen und Negro-Firmen es in Sweet Auburn gibt, sie werden es weiterhin »Darktown« nennen. Die Hälfte der Menschen auf dieser Feier war seit Jahren nicht mehr in Downtown. Sie bleiben in diesem Viertel und machen sich vor, sie hätten hier alles, was sie brauchen. Sie bleiben hier, denn woanders werden sie nur wieder auf ihren Platz verwiesen. Also was ist so falsch daran, im Norden nach etwas Besserem Ausschau zu halten?

Lucius wusste es auch nicht. Erst diesen Nachmittag hatte er lange in der Gegend herumtelefoniert, um herauszufinden, wer von der Verwandtschaft mit Auto welche Onkel und Tanten zum Bahnhof fahren konnte, um dem Cousin einen gebührenden Abschied zu bereiten. Keiner seiner Verwandten wollte den Bus nach Downtown nehmen. Auburn Avenue war ein eigener kleiner Kosmos, der über Jahrzehnte hinweg von seinen Vorvätern kultiviert worden war, sogar noch vor den entsetzlichen Rassenunruhen von 1906. Es war eine Glaskuppel, die sie vor dem Rest der Stadt, vor dem Süden, vor ganz Amerika abschirmte. Sie gehörten zu den wenigen glücklichen Auserwählten, die es sich leisten konnten, sie nicht zu verlassen.

»Wie hältst du es hier aus, Lucius?«, fragte Percy, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Die Blicke auf den Straßen. Den ganzen Wahnsinn. Die sind doch alle verrückt hier. Wir haben die Faschisten in Europa besiegt, aber hier sind sie noch an der Macht.«

»Es wird besser«, sagte er, wiederholte die leere Versprechung, die er seinem Cousin gegeben hatte.

Percy hustete ein Lachen heraus, zusammen mit einer Wolke Zigarettenrauch. Nachdem er sich erholt hatte, fragte er: »Hast du Tote schlafen fest gesehen? Oder Die Spur des Falken

»Ich habe die Bücher gelesen.« Die Filme waren nur kurz im Bailey’s gelaufen, dem einzigen Kino auf der Auburn. In Downtown länger, aber Lucius hatte keine Lust auf den Balkon gehabt.

»Chandler und Hammett. Brillante Leute. Sie schreiben über Detektive und Polizisten, vielleicht findest du da ein Stück Wahrheit. Ihre Helden sind gute Männer, die erkennen, dass ihr Umfeld viel finsterer ist, als ihnen bewusst war. Große Verschwörungen kündigen sich an. Aber dann schau ich dich an, Officer Lucius, und kann mir keinen finstereren Ort für dich vorstellen. Du bist nicht der Schnüffler, der zu seinem Schrecken feststellt, dass seine Welt korrupt ist, denn das weißt du längst. Das Böse schlägt einem hier förmlich ins Gesicht, es gibt kein Geheimnis dabei. Es sonnt sich vor unseren Augen und fällt über dich her, sobald du dich ihm näherst.«

Percy ließ die Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus.

»Ich nehme an, hier zu leben macht es ein wenig erträglicher«, sagte Lucius. »Ich habe Antikörper entwickelt.«

Percy ergriff ihn an beiden Schultern. Sogar in der Dunkelheit waren sich ihre Gesichter nah genug, dass er das Rote in den Augen seines Onkels sehen konnte.

»Du musst die Antikörper wieder ausbluten, Lucius. Verstehst du mich? Lass sie aus deinen Adern raus.«