27

IN DERSELBEN NACHT stieg Boggs die Stufen zu einem Freudenhaus hoch. Es war der Tag nach seinem unerwarteten Gespräch mit Rake. Er wusste immer noch nicht genau, was er davon halten sollte. Er hatte sein Bestes gegeben, sich von Rake fernzuhalten, genau wie von den anderen weißen Cops, vor allem, weil er Dunlows Partner war. Er hatte Rake für genauso charakterlos gehalten, nur jünger und noch nicht selbstbewusst genug, um seine Charakterlosigkeit zur Schau zu stellen. Doch Rakes Antipathie gegen Dunlow kam ihm aufrichtig vor. Boggs war es nicht gewohnt, Weiße ablehnend über andere Weiße sprechen zu hören. Es schien gegen einen Kodex zu verstoßen. Allein das war es wert, der Sache Aufmerksamkeit zu schenken.

Außer das war alles nur ein Trick, ein weiterer Versuch Dunlows, die Negro-Beamten in Verruf zu bringen, indem er seinen jungen Komplizen vorschickte, um Boggs um den Bart zu gehen und ihm so ein Geständnis über den Mord an Poe zu entlocken.

Am Morgen hatte Boggs Smith davon erzählt, und auch sein Partner war skeptisch. Wir sollten ihm genauso wenig trauen wie den anderen Weißen, lautete sein Rat. Keiner erzählt ihm irgendwas, bevor der andere nicht zustimmt. Und alles, was er uns erzählt, erzählen wir dem anderen. Gott allein weiß, was die vorhaben.

Obwohl Boggs und Smith den größten Teil ihrer inoffiziellen Ermittlung außerhalb der Dienstzeit durchführten, mussten sie bei Mama Dove anders vorgehen. Sie hatten sich so lange wie möglich davor gedrückt, sie zu befragen, denn sobald einer von ihnen das Etablissement in Zivilkleidung aufsuchte, konnte sie jemand melden. Nachts war es allerdings schwierig, sie zu fotografieren, und zumindest konnten sie behaupten, in einer dienstlichen Angelegenheit unterwegs zu sein. Also hatten sie abgewartet, bis sich ein passender Vorwand bot, und heute Nacht war es endlich so weit: Ein kleiner Junge aus der Nachbarschaft wurde vermisst. Als seine panische Mutter in der Zentrale angerufen hatte, war er bereits seit zwölf Stunden verschwunden, und man hatte sie aufgrund der Rasse des Kindes mit dem Y in der Butler Street verbunden.

Smith und Boggs waren von Tür zu Tür gegangen, im Bewusstsein, dass sie nur einen Block vom Mama Dove’s entfernt waren. Also warum nicht auch bei ihr klopfen? Während Smith einen Block weiter auf ihn wartete, betätigte Boggs die Klingel, die unter seinem Finger rot aufleuchtete. Er hörte, wie innen eine Tür aufging.

»Kommen Sie rein«, bat eine Stimme.

Er öffnete die Tür und betrat ein kleines Foyer. Da stand Mama Dove, eine Hand theatralisch an der Wand abgestützt. Sie trug ein rotes Samtkleid und eine Halskette mit einem blauen Edelstein, der beinahe in ihrem Dekolletee verschwand.

»Schau einer an, der Predigersohn!«

Er schob seine Mütze hoch. Er war ihr noch nie zuvor begegnet und hatte keine Ahnung, woher sie wusste, wer er war, doch er war es gewohnt, dass die Leute in der Gemeinde ihn erkannten.

»Guten Abend, Ma’am.«

»Ma’am! Wow, wie das klingt. Eine Ma’am bin ich für ihn. Ich weiß, das ist die Kurzform von Madam. Und das bin ich ja tatsächlich. Deshalb weiß ich gar nicht, warum ich erstaunt bin, dass du mich so nennst.«

Er holte ein Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und befragte sie zu dem kleinen Jungen. Sie tat mütterlich besorgt wegen des vermissten Kindes, aber gesehen hatte sie keins.

»Wenn ich schon mal hier bin, Ma’am, würde ich Ihnen gerne noch ein paar Fragen zu einem Mädchen stellen, das hier gewohnt hat. Lily Ellsworth.«

»Der Name sagt mir nichts.«

Er beschrieb ihr Aussehen und ihre Herkunft, aber ihre äußerst entschlossene Miene verriet ihm, dass sie nicht gewillt war, irgendwelche Erkenntnisse auszutauschen.

»Und warum glauben Sie, dass ich sie kennen könnte?«

»Ein paar Wochen vor ihrem Tod hat sie zwei Briefe mit dieser Absenderadresse verschickt.«

»Vielleicht hat sie in einem anderen Haus auf dieser Straße gelebt und die Nummern verwechselt.«

Er war mittlerweile daran gewöhnt, dass man ihn anlog, aber irgendetwas an ihrer Unbekümmertheit provozierte ihn. Er ließ nicht locker und sagte etwas, das er eigentlich hatte für sich behalten wollen. »Sie hat auch eine Menge Geld an ihre Familie geschickt, bevor sie starb.«

»Darüber weiß ich nun wirklich nichts!« Sie lachte beinahe. Auf eine gewisse Weise machte sie das glaubwürdiger. Was seltsam war. Er hatte das Gefühl, dass er ihr gerade etwas Neues erzählt hatte.

»Sie sind sicher, dass Sie sie nicht kennen? Wissen Sie, wenn jemand ein Bordell als Absender angibt und mit der Post eine Menge Geld verschickt, dann kann ich doch nur eins und eins zusammenzählen.«

»Mein Sohn, ich hab nicht den geringsten Schimmer, worauf du hinauswillst.«

»Vielleicht hat sie nicht hier gearbeitet, aber hier gewohnt? War sie mit einem der Mädchen befreundet? Oder haben Sie sie aufgenommen, weil sie Ihnen irgendwie leidgetan hat?«

»Das ist wirklich lieb von dir, mein Sohn. Zu glauben, eine Lady wie ich verspüre so was wie Mitleid. Ist ’ne Weile her.«

Er hatte es satt, dass sie ihn »Sohn« nannte, und er hätte sie am liebsten zum »Officer« hin korrigiert, doch das war die Mühe nicht wert. Sie würde ihn ja doch weiter »Sohn« nennen und so tun, als wäre es ihr herausgerutscht. Oder sie würde es weiter mit Absicht sagen, weil sie sich keine Welt vorstellen konnte, in der jemand mit derselben Hautfarbe wie sie sich so eine Uniform anzog.

»Sie sind ganz gut darin, nicht direkt auf Fragen zu antworten.«

»Na ja, eine Frau in meiner Position muss so oft direkt sein, da ist das eine nette Abwechslung. Komm schon, Predigersohn, warum belästigst du mich mit irgendeinem toten Mädchen? Ich frage mich eher, warum ich dich oder deine Kollegen noch nie in meinem feinen Etablissement gesehen habe.«

Er wollte ihr gerade sagen, dass sie darauf lange warten könne, doch dann korrigierte sie sich. »Warte! Stimmt, da war mal einer. Aber das war der Einzige. Und es gibt ja noch sieben mehr von euch. Weiß gar nicht, warum ihr weiterhin meine Gefühle verletzt und mich nicht besucht.«

Sie warf einen Köder aus. Garantiert war niemand seiner Kollegen hier gewesen. Aber obwohl er zu fünfundneunzig Prozent sicher war, dass es sich nur um eine Masche handelte, lechzten die restlichen fünf Prozent nach ihrer Schmutzwäsche.

Er versuchte, ihren Kommentar zu ignorieren und fokussiert zu bleiben. »Ein Mädchen hat mindestens ein paar Wochen hier gewohnt und wurde dann erschossen. Jemand hat ihre Leiche in einer Gasse drei Blocks von hier entsorgt. In derselben Nacht saß sie mit einem Mann im Auto, der sie kurz zuvor geschlagen hatte, ein Mann namens Brian Underhill. Wenn Sie irgendwas über diese Leute wissen, dann sagen Sie es mir jetzt, bevor ich später herausfinde, dass es einer Ihrer Freier war, dem sie in diesem gottverdammten Haus begegnet ist, was Sie der Beihilfe zum Mord schuldig macht.«

Ihre Augen waren jetzt weit aufgerissen wie die einer Schauspielerin in einem Stummfilm. »Solche Worte aus dem Mund eines Predigersohns!«

»Ich bin der Sohn eines Pastors. Ich selbst bin keiner.«

»Na Gott sei Dank. Ich mag Männer mit ein bisschen Dreck an den Sohlen. Der Abrieb des Lebens ist so viel interessanter als der Glanz der Ewigkeit, sag ich mir immer.«

Er steckte das Notizbuch ein.

»Ma’am, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf. Sie sollten über einen Umzug nachdenken. Die weißen Cops, die Sie bezahlen, mögen Sie im Moment noch beschützen, aber die werden nicht ewig für diese Gegend hier zuständig sein. Und wenn die weg sind, dann machen wir Ihren Laden dicht. Es wäre besser für alle Beteiligten, wenn Sie weiterziehen und uns den Ärger ersparen würden.«

Ihr Lächeln war verschwunden, doch in ihren Augen blitzte noch der Spott. »Du scheinst ja wirklich zu glauben, dass du einen festen Job gefunden hast, ja?«

»Ich werde länger in diesem Viertel bleiben als Sie. Das verspreche ich Ihnen.«

»Du bist gar nicht mehr so süß, wenn du so überheblich tust. Weißt du, was der Unterschied zwischen dir und mir ist?«

»Ich kann’s kaum erwarten, Ihre Theorie zu hören.«

»Es gibt keinen Unterschied. Nicht für die. Wir sind beide nur Nigger. Wie lange, glaubst du, lassen die dich wohl noch in deiner Uniform herumstolzieren, Predigersohn?« Sie musterte ihn von oben bis unten mit einem abschätzigen Lächeln, als wäre er zwölf – zu alt zum Verkleiden und zu jung, um ernst genommen zu werden. »Jetzt geb ich dir mal einen Rat. Vielleicht lässt du dieses aufgeblasene Nigger-Getue lieber sein, denn wenn sie dir deine Marke, deine Waffe und deinen Gehaltsscheck nehmen und du dich allein und deprimiert fühlst, dann wissen wir beide, dass es einen Ort gibt, zu dem du gehen wirst. Dorthin, wo sie alle hingehen. Mama Dove’s.«

Er reichte ihr seine Karte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie zu dem Entschluss kommen, dass Sie es nicht gutheißen können, wenn ein Mädchen erschossen und auf den Müll geworfen wird.«

Sie wartete noch eine Sekunde, bis sie die Karte nahm.

Er wollte sich umdrehen und gehen, als ein weißer Mann das Foyer betrat. Anfang vierzig, überlanges Deckhaar, das über eine kahle Stelle vorn am Schädel gekämmt war. Er trug eine braune Anzugjacke und eine rote Krawatte, und der Anblick eines Polizisten, und dazu noch eines farbigen, schien ihn in Angst und Schrecken zu versetzen.

»Was wollen Sie hier?«, bellte Boggs ihn an.

Der Mann machte einen Schritt nach hinten und wäre gestolpert, wäre da nicht die Tür hinter ihm gewesen.

Boggs packte die linke Hand des Mannes und hob sie hoch, presste seine Handfläche zusammen, sodass sich seine Finger spreizten, auch der geschmückte Ringfinger.

»Gehen Sie heim zu Ihrer Frau, jetzt!«

Die Augen des Mannes waren noch weiter aufgerissen, und sein Blick wanderte zwischen Mama Dove und dieser schaurigen Vision eines farbigen Moralapostels hin und her.

Dann war der weiße Mann weg, rannte die Stufen hinunter. Als Boggs ging, lachte Mama Dove lauter denn je.

»Uuuh, der Blick von dem Kerl war das Geld wert, das du mich kostest, Predigersohn!«

*

»Wir müssen nach Peacedale«, sagte Smith.

Sie waren jetzt fünf Blocks von Mama Dove’s entfernt, aber ihre Worte schmerzten immer noch. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber Lilys Schicksal hatte ihn tiefer gekränkt, als er erwartet hatte.

»Ich weiß, aber …«

»Kein Aber. Du hast es rausgezögert. Lass uns dahin. Morgen.«

»So einfach ist das nicht.«

»Hab nicht behauptet, dass es einfach ist. Erst mal brauchen wir ein Auto. Wie wär’s mit dem vom Reverend?«

»Mach mal langsam, ja?« Boggs konnte nicht glauben, wie überzeugt sein Partner von sich war. Überwiegend hielt er es für Fassade, doch ein Blick in Smiths Augen ließ ihn zweifeln. »Die weißen Cops da draußen haben ihn umgebracht.«

»Ich weiß. Deshalb gehen wir bewaffnet hin.«

»Tommy, wir sind nicht in Frankreich. Und du sitzt nicht in einem Panzer.«

»Wir sind aber auch nicht im Ausbildungscamp in South Carolina. Und du sitzt nicht mehr auf der Ersatzbank. Wir haben gewartet, und jetzt ist jemand tot. Ich hab genug vom Warten. Ich fahr da morgen hin. Kommst du mit, oder muss ich ein Auto klauen?«

*

Später am Abend griff Mama Dove nach dem Hörer und wählte eine Nummer. Eine unbekannte Stimme antwortete. »Hallo?« Ein Teenager. Eine scheußliche Lebensphase, die sie schon immer gehasst hatte, obwohl sie sie im Bordell so oft miterlebte.

»Ja, kann ich mit Lionel sprechen, bitte?«

»Er ist nicht zu Hause, Ma’am«, sagte Dunlows Sohn. Einer von Dunlows Söhnen. Da war wieder das »Ma’am«. Das Kind merkte nicht, dass es mit einer Negro-Frau sprach, oder es war ihm egal. »Er arbeitet. Kann ich was ausrichten?«

Sie meinte, es sei nicht notwendig, und legte auf. Sie hasste es, bei ihm zu Hause anzurufen. Hasste es, einen seiner Jungs mit den tiefen Stimmen dranzuhaben. Gegen die Stimme der Frau hatte sie nichts, obwohl sie nie lange miteinander sprachen. Sie entschuldigte sich lediglich, die falsche Nummer gewählt zu haben. Doch die Söhne. Grauenhaft. Dieser maisgefütterte, testosterongetränkte Starrsinn. Genauso weiß und stumpf wie ihr Vater, das hörte sie schon an der Art, wie sie in den Hörer nuschelten. Den Rest des Abends würde sie schlechte Laune haben.