29

ALS MAMA DOVE nach ihrem üblichen Nachmittagsschläfchen die Treppe hinunterkam, teilte ihr eines ihrer Mädchen mit, dass ein Mann sie sprechen wolle. Es sagte es in einem ganz bestimmten Ton, nicht so, wie es von einem Freier gesprochen hätte.

Die Ventilatoren in den Fenstern liefen auf Hochtouren, und doch war es immer noch zu heiß, als sie das Foyer durchquerte. Der Einfluss des Wetters auf ihr Geschäft war schwer einzuschätzen. Männer benahmen sich merkwürdig bei der Hitze, und obwohl sie selten an Libido einbüßten, waren sie manchmal einfach zu faul, um ihre biederen Häuser zu verlassen, sich in ihre biederen Autos zu setzen und zu Mama Dove’s zu fahren, um ein bisschen biederen Sex zu haben. Einige ihrer Mädchen empfingen in der letzten Zeit nur einen oder zwei Männer die Nacht, und sie hatte schon darüber nachgedacht, sie zu entlassen – zu viele hungrige Mäuler für ein so mageres Einkommen.

Die Tür zur Küche stand offen, damit ein wenig Durchzug entstand. Sie erkannte die großen, alten Treter sofort wieder. Sie lagen auf einem der Stühle, als gehörte ihm der Laden.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nie bei mir zu Hause anrufen, Marla.«

»Freut mich auch, dich zu sehen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Komm doch rein.«

Dunlow saß am Tisch mit einem Whiskeyglas und einer Flasche ohne Etikett, die er sich selbst genommen hatte.

»In Zivil siehst du noch fetter aus.«

Er grinste sie an, so schnell fiel ihm keine Retourkutsche ein. Er stand auf und zog seinen Bauch ein, wobei er ihn dadurch eigentlich nur in die Breite zog.

»Schätze, Janisse füttert mich ordentlich durch.«

Sie deutete auf die Flasche. »Bisschen früh dafür. Willst du stattdessen Kaffee?«

»Ich will wissen, warum du mich zu Hause angerufen hast. Mindestens zweimal, soweit ich weiß.«

»Na ja, mein Telegraf ist im Eimer, und Rauchzeichen bringen’s irgendwie auch nicht mehr. Wie soll ich dir sonst mitteilen, dass ich mit dir reden muss?«

Seine Augen wirkten jetzt kälter. Er musste gar nicht so was sagen wie Du bleibst gefälligst auf deinem schwarzen Arsch sitzen, bis ich Lust hab herzukommen.

Sie griff nach einer Karaffe mit lauwarmem Kaffee. So trank sie ihn, wenn nicht gerade Winter war, gab ein wenig Zucker dazu, der dann auf den Boden sank.

»Ich dachte, es wäre wichtig genug, um deine Regeln zu brechen. Mit Regelbrechen kennst du dich doch aus, oder, Lionel?«

Plötzlich stand er neben ihr. Es überraschte sie jedes Mal aufs Neue, wie schnell so ein dicker Mann sein konnte. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie zusammenzuckte.

»Vermutlich tu ich das«, sagte er. Sie fühlte seinen Bauch an ihrem, und obwohl er noch den Whiskey in der Hand hielt, führte er seine rechte Hand an ihre Hüfte. Sie trug ein weißes, dünnes Nachthemd aus Baumwolle, aber sogar das war zu dick für die Hitze, und seine Handfläche machte es nur noch wärmer. Er rieb an ihr, seine Hand wanderte nach unten und langsam nach hinten.

»Und ich weiß, dass du das auch tust.«

Sie stand da gegen den Tresen gedrückt, konnte den Alkohol in seinem Atem riechen. (Wie lange saß er eigentlich schon hier unten und soff?) Dann küsste er sie. Es fühlte sich vertraut an, auch wenn es Jahre her war. Er kratzte, hätte eine Rasur vertragen können. Seine Hand behandelte sie wie sein Eigentum, so wie sie es damals getan hatte, so als glaubte sie, es würde sich nie etwas ändern.

Als er damit aufhörte, sagte sie: »Du glaubst doch nicht, dass ich deshalb angerufen habe?« Ihn zu schlagen wäre keineswegs so effektiv gewesen. Er wich zurück, und die Begierde, die selbst aus älteren Männern Welpen machte, war aus seinem Blick verschwunden, ersetzt durch den allzu bekannten und gefährlichen Schatten der Gleichgültigkeit und Resignation.

»Warum erzählst du mir nicht, warum du angerufen hast, bevor ich noch wütender werde und es an einem deiner Mädchen auslasse?«

»Ich dachte, es interessiert dich, dass deine Kollegen sich bei mir nach deinem Mädchen erkundigt haben.«

»Meinem Mädchen?«

Sie neigte ihren Kopf, sah ihn im Grunde von der Seite her an. Wusste er wirklich nicht, wovon sie sprach? Was war trauriger – seine Dämlichkeit oder die Tatsache, dass Lily Ellsworth ihm so wenig bedeutete, dass sie es noch nicht einmal wert war, sich an sie zu erinnern?

»Die, die nicht mehr am Leben ist. Die, die ich deinem Kumpel Underhill zuliebe hier aufgenommen habe.«

»Welche Cops waren hier?«

»Officer Boggs. Der Predigersohn.«

»Um die YMCA-Cops musst du dir keine Sorgen machen. Die tun dir nichts, dafür sorge ich schon.«

»Warum bist du dir so sicher, dass ich Angst um mich habe? Vielleicht habe ich Angst, dass du dich in was reingeritten hast.«

Er lächelte. In Momenten wie diesen, so flüchtig sie auch sein mochten, wichen die Fettschicht und die Jahre, und sie erhaschte einen Blick auf den Mann, der er einst gewesen war, auf sein Selbstvertrauen, seine lässige Art, sich zu bewegen und zu lächeln, Witze zu reißen, die mal komisch gewesen waren, wenn auch nie so komisch, wie er dachte.

»Um mich musst du dir wirklich keine Sorgen machen, Marla.«

»Wer war sie?«

»Ich hab nicht die leiseste Ahnung.«

»Glaub ich dir nicht.«

»Glaub’s mir ruhig. Ich will ja nicht deine hohe Meinung von mir zerstören, aber von einigen Dingen, die Underhill so treibt, erfahre ich genauso wenig wie du.«

»Du meinst, du hast ihn noch nicht mal gefragt, wo sie herkommt?«

»Hast du?« Er trat zurück an den Tisch und goss sich noch ein paar Fingerbreit Whiskey ins Glas.

»Ist doch nicht meine Aufgabe. Er hat mir nur gesagt, dass sie einer gewissen Situation entkommen muss.«

Sie fragte sich, ob eins ihrer Mädchen im Flur oder um die Ecke im Foyer herumlungerte und lauschte.

»Dann ist das wohl die Wahrheit«, sagte Dunlow.

»Nun ja, ich hab was dagegen, dass deine Kollegen hier auftauchen und andeuten, dass ich ins Gefängnis komme, weil ich deinen Freunden geholfen habe. Mir scheint, ich hab es verdient, ein paar Dinge zu erfahren.«

»Das tut mir leid.« Ein tiefer Schluck.

»Warum rufst du ihn nicht einfach an und fragst ihn, was sie ausgefressen hat?«

»Weil er tot ist.«

Die Decke über ihnen fing an zu knarzen, in schnellem Rhythmus, also verdiente hier wenigstens irgendjemand Geld. Das plötzliche Geräusch hatte wohl von ihrem schockierten Gesichtsausdruck über seine Bemerkung abgelenkt, vielleicht aber auch nicht.

»Was ist passiert?«

»Jemand hat ihn erschossen.«

»Was zum Teufel ist da los?«

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst«, sagte er.

Also war nicht nur das Mädchen tot, sondern auch der Mann, der gewollt hatte, dass Mama Dove sie bei sich aufnahm, damit sie so weit wie möglich von der Familie weg war, für die sie gearbeitet und der sie so viel Kummer bereitet hatte. Lass sie hier auf keinen Fall raus. Erst wenn wir dir Bescheid geben. Lass sie arbeiten, sie soll sehen, wie das ist. Kann ihr bei Gott nicht schaden. Aber behalt sie genau im Auge, denn sie ist eine verdammte Diebin und hat’s besonders auf das Geld von Weißen abgesehen.

Was zum Teufel will sie dann bei mir?, hatte sie gefragt. Steckt sie ins Gefängnis.

Geht nicht. Der Gentleman, den sie bestohlen hat, ist keiner, der gern Anzeige erstattet. Keiner, der Aufmerksamkeit erregen will.

Man hatte ihr erklärt, dass es schlimme Folgen haben würde, falls das Mädchen abhaute, und zwar für Mama Dove. So wurde Lily unter Hausarrest gestellt, und Mama Dove stellte das Haus. Und die Handschellen, wenn die Freier das wollten und dafür bezahlten.

»Du weißt, dass ich mir nicht schnell Sorgen mache, Lionel, doch zwei Tote bringen selbst meinen Puls in Schwung.«

Die Decke hörte auf zu knarzen. Je schneller die arbeiteten, desto besser.

»Mehr Schaden kann sie nicht anrichten.«

»Warum säufst du dann so viel?«

Er musterte sie, stellte schließlich das Glas ab. Seine Tränensäcke schienen doppelt so dick wie sonst, als setzte sich der Whiskey dort ab statt in seiner Wampe.

»Du weißt nicht zufällig, wer ihn erschossen hat?«, fragte sie. »Oder sie?«

»Officer Dunlow ist an dem Fall dran.«

Seine Arroganz wirkte nicht mehr provokant, eher verzweifelt.

»Ihr … Männer glaubt wirklich, dass wir Frauen uns nicht unterhalten? Glaubst du wirklich, dass sie mir gegenüber nie den Mund aufgemacht und ein paar Dinge erzählt hat, Lionel? Du glaubst nicht, dass sie sich mir vielleicht anvertraut hat?«

Er kam wieder näher. »Wir wissen verdammt genau, dass Weiber quatschen. Hören eure Stimmen noch im Schlaf.«

»Schön, dass es euch auffällt.«

»Und wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen: Eine Sekunde lang klang das wie eine Drohung.«

Genau wie vorhin eroberten seine Hände wieder »ihr Eigentum«. Eine an ihrem unteren Rücken, die andere um ihren Hals. Nicht zu fest, aber auch nicht zu sanft.

»Ich drohe dir nicht«, sagte sie. »Ich sage nur, dass es da Dinge gibt, die ich lieber nicht wüsste.«

Noch drückte er nicht zu. »Das Beste, was du unter solchen, dir mittlerweile sicher vertrauten, Umständen tun kannst, ist, so zu tun, als wüsstest du von nichts, so zu tun, als wüsstest du von nichts, und so zu tun, als wüsstest du von nichts. Irgendwann hast du es dann vergessen.«

Sie merkte, wie er es genoss, sie so festzuhalten, sodass sie nicht wissen konnte, ob er sie als Nächstes würgte, begrabschte, küsste oder schlug. All das hatte er schon getan, und nie hatte sie es vorhersagen können.

»Und das nächste Mal, wenn ein weißer Cop vorbeikommt und mir Fragen stellt?«

»Weißer Cop?«

»Hab ich das nicht erwähnt? Einmal war’s Officer Boggs, der farbige, das andere Mal dieser weiße, Rakestraw.«

Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Rakestraw?«

Zuvor hatte sie einen Nerv treffen wollen, aber es war ihr nicht geglückt. Jetzt, nach Erwähnung dieses Namens, der ihr nichts sagte, sah er aus, als müsste er sich gleich übergeben.

»Genau.«

»Beschreib ihn mir.«

»Weiß. Dunkles Haar. Deine Größe, groß. Nicht gerade hässlich. Erinnerte mich irgendwie an dich, minus die vielen Meilen Lebenserfahrung.« Warum wollte er so genau wissen, ob es wirklich Rakestraw gewesen war? Was bedeutete er ihm? Sie fragte lieber nicht nach. Es tat gut, ihn so neben der Spur zu sehen. Er ging zurück zum Tisch, murmelte etwas, das sie nicht verstand. Dann warf er das Whiskeyglas gegen das Regal, nur ein paar Zentimeter von ihrem Kopf entfernt. Sie schrie und riss die Hände zu spät vor den Kopf. Sie fühlte, wie etwas an ihr abprallte, überall im Zimmer lag Glas. Mehr Scherben eines einst unversehrten Gegenstands, als man für möglich gehalten hätte. Sie rieb sich über die eine Gesichtshälfte und hoffte, kein Blut sehen zu müssen, wenn sie die Hand wieder zurückzog. Ansonsten stand sie stocksteif und barfuß in einem Meer aus Glasscherben, während Dunlows Stiefel sich den Weg aus dem Haus freiknirschten.