30

BOGGS PARKTE DEN grünen Buick seines Vaters vor dem Appartementhaus, in dem Smith wohnte, und drückte auf die Hupe. Er war noch nie zuvor im Viertel seines Partners gewesen, doch ihm waren sofort die Straßenschäden, der überall herumliegende Müll, die ausgeleierten Kleidungsstücke an den Wäscheleinen und die betrunkene alte Frau auf der anderen Straßenseite aufgefallen, die mit sich selbst redete.

Weniger als eine Minute später kam Smith aus dem Haus, das weiße, kurzärmelige Hemd gebügelt und in die graue Bundfaltenhose gesteckt. Auffälliger war jedoch die unordentlich zusammengelegte Decke in seinen Armen. Boggs griff hinüber und öffnete ihm die Tür.

Die Decke verbarg das Gewehr mehr schlecht als recht. Es war so lang, dass ein Teil gegen Boggs’ rechten Fuß stieß, als Smith sich ins Auto setzte. Heute Morgen hatte er die Landkarte studiert und geschätzt, dass sie ungefähr neunzig Minuten brauchen würden, falls sie nicht an irgendwelchen Bahnübergängen stecken blieben.

»Bitte schieß mir nicht ins Bein.«

»Das ist nur der Griff, der auf dich gerichtet ist.«

Boggs hatte sich den Wagen unter dem falschen Vorwand ausgeliehen, er brauche ihn für Besorgungen. Er war es nicht gewohnt, seinen Vater anzulügen, und das trug nur noch mehr zu seinem unguten Gefühl bei, als sie Atlanta hinter sich ließen.

Zwanzig Minuten später befanden sie sich auf einem ruhigen Streckenabschnitt zwischen den Ortschaften – es dauerte nie lange, bis man das Gefühl hatte, nicht mehr in der Stadt zu sein. Jetzt, da sie sicher sein konnten, dass ihnen niemand folgte, sortierte Smith seine Sachen, und die Decke fiel zu Boden. In seinem Schoß lag eine Winchester. Ihre Legierung glänzte selbstbewusst von der letzten Politur.

»Deck sie wieder zu und leg sie auf den Rücksitz.«

»Das ist mir zu weit weg. Die bleibt hier.«

»Dann deck sie wieder zu.«

Smith schüttelte den Kopf, aber einen kurzen Moment später breitete er die Decke wieder auf seinem Schoß aus. Im Handschuhfach befand sich ein .45er Revolver, den Boggs nach dem Krieg gekauft, in den ersten zwei Jahren jedoch kaum benutzt hatte. Erst nachdem er seine Bewerbung für die Polizei abgeschickt hatte, übte er mit ihm Zielschießen im riesigen Garten von Bekannten der Familie, die unten im Clayton County wohnten. Stundenlang hatte er dort während der dreimonatigen Aufnahmeprüfung trainiert, hatte zahllose Coca-Cola-Flaschen vernichtet und gehofft, dass seine mangelnde Kampferfahrung ihn nicht jeglicher Chance beraubte.

Smith öffnete das Handschuhfach, nickte der Waffe zu, als wären sie alte Freunde, und legte seine eigene .38er daneben. Das mit Schusswaffen nun prall gefüllte Fach ließ sich kaum noch schließen.

Sie hatten Sandwiches und Feldflaschen mit Wasser eingepackt, für den Fall, dass sie keinen Imbiss fanden, der auch Negroes bediente. Boggs hatte darauf bestanden, dass die Waffen im Wagen blieben. Smith hatte recht: Boggs hatte diesen Ausflug deshalb so lange hinausgezögert, weil er die Provinz von Georgia fürchtete. Ihre Einwohner und deren Gewohnheiten. Er hatte sich nur einmal so weit weg von der Auburn gewagt, und das war für das beschissene Ausbildungscamp in South Carolina gewesen, die schlimmsten drei Jahre seines Lebens.

Er blieb fünf Meilen pro Stunde unter dem Tempolimit, weil er keine Lust hatte, es sich mit einem Dorfpolizisten zu verscherzen. Die Fenster blieben zu, doch die Lüftung blies ihnen nur noch mehr glühend heiße Luft ins Gesicht. Smith schien das mehr auszumachen, einige Male fuhr er sich durchs pomadige Haar. Sie trugen beide dunkle Sonnenbrillen, und trotzdem musste Boggs blinzeln, wenn er gegen die Sonne schaute, er umklammerte das Lenkrad fest mit beiden Händen. Das hier würde die längste Autofahrt seines Lebens werden.

Mit jeder weiteren Meile fühlte er sich weniger sicher. Am Morehouse hatte er Herz der Finsternis gelesen, und er kam sich vor wie auf diesem Boot auf dem Fluss, das immer tiefer ins feindliche Gebiet des weißen Mannes eindrang. Derselbe Effekt wie in Conrads rassistischen Ergüssen, nur mit umgekehrter Hautfarbe.

Sie kamen an einer Kirche der Kongregationalisten vorbei, deren handbemalte Schautafel riet, für ihren schwachen Präsidenten zu beten.

»Dir gefällt’s nicht so gut hier draußen?«, fragte Smith.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das Lenkrad noch fester umklammern könnte.«

»Gefällt’s dir denn?«

»Nein. Aber ist für mich auch nicht übler als Downtown.«

Er hatte recht. Dank einflussreicher Familie und Auto hatte Boggs Downtown die meiste Zeit seines Lebens gemieden, das demütigende Busfahren, die Gesellschaft von Weißen. Smith hatte da weniger Glück gehabt. Bei aller Bildung musste Boggs dennoch zugeben, dass sein Partner mehr Erfahrung im Umgang mit Weißen hatte.

Sie passierten Schweinefarmen und Silos, endlose Baumwollfelder. Boggs hatte in der Zeitung gelesen, dass die ungewöhnlich lang anhaltenden Niederschläge diesen Sommer der Getreideernte Georgias schwer geschadet hatten, und mehr als nur einmal reflektierte das Sonnenlicht in Pfützen abgestandenen Wassers zwischen den Saatreihen. Dieses Jahr waren die Pfirsiche riesig und voller Fruchtwasser, aber sie schmeckten nach nichts, genau wie Baumwolle.

Zwei weiße Männer in einem roten Pick-up interessierten sich nicht dafür, dass Boggs sich brav ans Tempolimit hielt. Boggs streckte seine linke Hand aus dem Fenster und winkte den Wagen vorbei. Der überholte mit röhrendem Motor, und Boggs sah einen alten Mann auf dem Beifahrersitz, der ihm einen eher mitleidigen als verächtlichen Blick zuwarf: Diese verdammten Neger und ihre kaputten Karren.

»Ich habe Tante und Onkel unten im Clayton County«, sagte Boggs. »Er ist Tischler, besitzt ordentlich Land und pflanzt Gemüse und Wassermelonen an. Dem gefällt’s da. Wir besuchen ihn manchmal. Mein Dad atmet jedes Mal erleichtert auf, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Sie fuhren an einer Plakatwand vorbei, die Stimmung gegen die Vereinten Nationen machte. Amerika muss ausländerfrei bleiben! Die Warnung stand auf einem Hintergrund aus brennenden fremdländischen Flaggen. Ein handbemaltes Schild auf der anderen Straßenseite warb für eine religiöse Bewegung und ein Spanferkel-Grillen.

»Du hast ja bewiesen, dass du gut Geheimnisse für dich behalten kannst, also erzähl ich dir noch eins. Ich bin hier draußen geboren worden«, sagte Smith.

»Wo genau?«

»Nest namens Dunsonville.«

»Warum ist das ein Geheimnis?«

»Das Geheimnis ist, dass mein Daddy gelyncht wurde.«

Boggs war kein besonders sicherer Fahrer, und doch wandte er jetzt den Kopf, um den Ausdruck im Gesicht seines Partners zu sehen. Da war nichts außer geschürzten Lippen und der nichtssagenden Sonnenbrille.

Boggs richtete den Blick wieder auf die Straße, und Smith erzählte die Geschichte seines Vaters, der aus dem Krieg zurückgekehrt war, von der Straßenparade, dem Tod seines Vaters, dem Absturz seiner Mutter und seinem eigenen.

»War eigentlich nie ein Geheimnis, aber niemand hat gern drüber geredet. Vor allem nicht mein Onkel. Mittlerweile ist es ein Geheimnis, denn ich hab’s bei der Bewerbung fürs Department nicht erwähnt. Ich hab meinen Onkel als Vater angegeben, was rechtlich korrekt ist, er hat mich als Baby adoptiert.«

Smith hatte recht. Nie und nimmer hätte die Stadt jemanden als einen ihrer ersten Negro-Polizisten angestellt, dessen Elternteil von weißer Hand ums Leben gekommen war. Im Zuge der endlosen psychologischen Tests war Boggs selbst in unzähligen Varianten »Wie denken Sie über Weiße?« gefragt worden. Oder: »Berichten Sie von den Erfahrungen Ihrer Familie mit Polizeibeamten.«

Boggs konnte nicht sagen, was ihn mehr zum Schwitzen brachte, Smiths Geschichte, die Hitze oder die stressige Fahrt.

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Schon gut. Ich hab’s ja selbst erst mit sechzehn erfahren. Dachte bis dahin, dass Tante und Onkel meine Eltern sind. Kann mich überhaupt nicht an meine echten Eltern erinnern. Als meine Mama, also meine Tante, gestorben ist – da war ich dreizehn –, lief’s nicht mehr so gut zwischen mir und meinem Onkel. Haben uns dauernd gestritten, und dann hat er einen schlechten Zeitpunkt erwischt, um mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.«

Die Straße machte eine Kurve, verlief bergab und erstreckte sich schließlich lang und gerade vor ihnen. Das Piedmont Plateau schimmerte im Hintergrund und machte ihnen langsam Platz auf ihrer Fahrt ins tiefste Georgia.

»Aber na ja, wie soll man das auch jemandem schonend beibringen«, ergänzte Smith.

*

Sie kannten die Adresse, doch auf der Karte von Peacedale, die sie in der Bibliothek der Auburn Avenue gefunden hatten – die einzige in Atlanta, die sie benutzen durften –, war sie nicht eingezeichnet. Die Akten der Polizei von Peacedale, die ihnen McInnis gezeigt hatte, vermittelten nur einen ungefähren Eindruck von der Lage des Hauses. Lucius war sogar im Versicherungsbüro seines Bruders gewesen, um sich durch deren Unterlagen zu wühlen. Adressen von Negroes waren so willkürlich und unvollständig erfasst, dass farbige Versicherungsbüros die einzige echte Quelle für präzisere Informationen über die Gemeinde bildeten. Allerdings hatte die Agentur nur wenig Verträge in Peacedale abgeschlossen, also kam er so auch nicht weiter.

Als sie Peacedale endlich erreichten, zwanzig Minuten später, als Boggs berechnet hatte, nahmen sie die schmale Hauptstraße mit nur einer Ampel und versuchten, sich unauffällig die Umgebung anzuschauen. Es gab eine Post, eine Methodistenkirche, einen Getränkeautomaten und eine Apotheke. Einen Gemischtwarenladen. Vor dem Gemüsehändler hing eine Südstaatenflagge. Einige Schaufenster warben stolz für eisgekühlte Coca-Cola. Ein winziger Marktplatz mit einem steinernen Obelisken darauf, der an die Toten des Bürgerkriegs erinnerte (Boggs konnte die Inschrift nicht lesen, aber er hatte einen identischen in der Stadt seines Onkels und seiner Tante gesehen). Kaum jemand befand sich im Freien, schließlich war es fast Mittag und die Sonne meinte es ernst, mit ihr legte man sich heute besser nicht an. Zwei ältere weiße Männer schienen die autofahrenden Negroes länger anzugaffen, als Boggs lieb war, sicher war er sich aber nicht, da er direkten Blickkontakt vermied. Smith hingegen ließ seinen rechten Arm lässig aus dem Fenster baumeln, als wollte er so viel Hautfarbe wie nur möglich zeigen. Boggs überlegte, ob er ihn bitten sollte, seinen Arm einzuziehen, doch er konnte sich Smiths Reaktion ausmalen, also ließ er es bleiben.

Auf der Post hätte man ihnen mit der Adresse weiterhelfen können, aber die Angestellten hätten womöglich die lokale Polizei darüber informiert, dass zwei Schwarze aus Atlanta in der Stadt waren, also fuhr Boggs weiter, ohne anzuhalten.

*

In der Annahme, dass Negro-Farmarbeiter in der Regel keine Spitzel der örtlichen Polizei waren – und selbst diese Annahme war riskant –, bogen sie in eine lang gezogene Einfahrt, als sie zwei farbige Männer mit einer Schubkarre hinter einem kleinen, baufälligen Haus sahen. Mehr Schuppen als Haus, morsches Holz, schiefe Planken, ein einzelnes Fenster an der vorderen Fassade.

Die Farmer trugen Overalls ohne T-Shirts und schienen auf dem Weg zur vorderen Veranda zu sein, wo ein winziger Überbau einen Hauch von Mittagsschatten bot. Als Boggs auf sie zusteuerte, blickten sie auf. Er ließ den Motor laufen, Smith blieb im Wagen.

»Morgen«, sagte Boggs, obwohl das nicht mehr zutraf. »Ich kann das Haus der Ellsworths nicht finden.«

Jetzt erkannte er, dass es sich um Vater und Sohn handelte, der eine ein schlaksiger Teenager, der andere dünn und wettergegerbt, beide nach Schweiß riechend.

»Seid ihr Verwandte?«, fragte der Vater.

Er wollte nicht lügen, also wich er der Frage aus. »Ich wollte ihnen mein Beileid aussprechen.«

Hier draußen war es so still und hell, Boggs’ laufender Motor schien meilenweit der einzige zu sein.

»Ist nicht richtig, was da passiert ist«, sagte der Mann.

»Wissen Sie was darüber?«

»Sind Sie der Bruder? Oder der Cousin oder so was?«

»Ich kannte Lily.«

Der Mann schwieg, dann sagte er zu seinem Sohn: »Geh und hol das Wasser.«

»Es ist kein Geheimnis«, sagte der Mann, nachdem der Teenager außer Hörweite war. »Jeder weiß Bescheid. Der Sheriff konnte ihn nicht leiden, sagt, er hätte seine Kleine ermordet, obwohl sie meilenweit weg war. Also holt sich der Sheriff zwei falsche Zeugen, die behaupten, er hätte es eines Nachts im Suff getan. Dabei weiß jeder, dass Otis mit Schnaps nichts am Hut hatte.«

Boggs nickte, als wüsste er das bereits. »Warum hatte es der Sheriff auf ihn abgesehen? Hätte das jedem passieren können oder konnten die vor allem Otis nicht ausstehen?«

»Weiß nicht, warum er sich ausgerechnet diesen Truck kaufen musste. Es ist eine verdammte Schande.«

Hoch oben drehten drei Aasgeier ihre beinahe konzentrischen Kreise in einem von der Hitze weiß gebleichten Himmel.

»Wusste nicht, dass es so schlimm um die Stadt steht«, sagte Boggs.

Der Farmer schien sich angegriffen zu fühlen bei dem Satz, als dürften nur die Einwohner hier die Weißen beleidigen. »Die meisten von uns wissen, wie man klarkommt.«

Boggs’ städtischer Akzent und sein Wagen kennzeichneten ihn als Außenseiter. Er fragte erneut, wo die Ellsworths lebten, dabei wurde ihm schmerzlich bewusst, dass es gar nicht mehr so viele lebende Mitglieder der Ellsworth-Familie geben konnte.

*

Das Ellsworth-Anwesen war die Art von Ort, die Boggs tiefe Dankbarkeit für seine Herkunft empfinden ließ. Das Haus sah aus, als hätte es früher kein Obergeschoss gegeben, als wäre der Dachboden dann zum Schlafzimmer ausgebaut worden, der Mittelbalken nur wenige Zentimeter höher als zumutbar. Die weiße Farbe blätterte bereits ab, und die Stufen zur Veranda neigten sich nach rechts. Rostige Schubkarren und einzelne Bretter einer irgendwann geplanten Tischlerarbeit lehnten an der Seite des Hauses. Der vordere Rasen war vor Kurzem gemäht worden und ziemlich großflächig – das Haus stand fast fünfzig Meter von der Straße entfernt –, und im Hintergrund erkannte Boggs Reihen von Baumwoll- und Gemüsepflanzen, verteilt auf einem mindestens einen Hektar großen Feld, das in der Mitte eine Mulde aufwies und sich nach außen hin wieder ausbreitete, wo es in der Sonne briet, bevor es an drei Enden auf einen Pinienwald traf.

Sie waren auf den letzten Meilen an keinerlei elektrischer Leitung und keinem Telefonmast vorbeigekommen. Die Furchen im Boden stammten ohne Zweifel von Eseln statt Traktoren. Und der Pick-up-Truck, der so viel Neid in der Nachbarschaft erregt hatte, stand nicht in der Einfahrt.

Weit hinten in den Baumwollfeldern konnten sie eine Person ausmachen; sonst war da kein Lebenszeichen außer dem lauten Bellen eines Hundes.

Boggs lenkte den Wagen bis zum Ende der Einfahrt und machte den Motor aus. Bevor sie aussteigen konnten, umkreisten plötzlich zwei riesige Hunde das Auto. Einer dunkelbraun, der andere heller mit weiß-braunen Flecken, und sie versuchten auf aggressive Weise, ihnen etwas mitzuteilen. Der hellere Hund sprang die Beifahrerseite hoch, sein Sabber spritzte über Smiths Fenster.

»Vielleicht hol ich doch die Waffe wieder raus«, sagte Smith.

Der Schweiß lief Boggs’ Wange hinab, als er ein Rufen hörte.

Die Hunde bellten noch ein paarmal, als ob sie die Neuankömmlinge daran erinnern wollten, dass sie ihre Meinung nicht geändert hatten, aber als der Mann auf sie zuging, beruhigten sie sich. Er war schmächtig und nicht besonders groß, und doch verwandelten sich die Biester unter seinem Kommando in Schoßhündchen. Er trug einen breitkrempigen Strohhut, ein weißes T-Shirt und eine Latzhose, die an den Beinen das dunkle Orange der Tonerde von Georgia angenommen hatte, in der er regelmäßig kniete. Er näherte sich dem Auto, und Boggs erkannte, wie jung er war, ein Teenager mit denselben traurigen und wachsamen Augen, die Boggs bei Otis gesehen hatte.

*

Während Boggs im beengten Wohnzimmer der Ellsworths saß, wurde ihm bewusst, dass er so besorgt um sein körperliches Wohl gewesen war, dass er vergessen hatte, sich auf die schwierigen emotionalen Gespräche vorzubereiten, die folgen sollten. Die Erkenntnis kam schlagartig, als er Jimmy Ellsworth direkt in die Augen blickte. Der Junge war noch viel zu klein für solche Augen.

Das Wasser, das Jimmy ihnen gereicht hatte, war nicht besonders kalt, es gab keine Eiswürfel, und es schmeckte nach Erde. Boggs hätte trotzdem zehn Gläser davon trinken können, aber er ging es langsam an, da er Jimmy nicht aufscheuchen wollte, um mehr zu holen.

Das Wohnzimmer war spartanisch eingerichtet, die Möbel offensichtlich selbst gezimmert, manche davon mit abgewetzten Bezügen, andere gänzlich ohne. Gelöschte Kerzen zeugten von fehlender Elektrizität. Das Licht kam durch die geöffneten Fenster, durch die auch Luft und Insekten strömten. An der einen Wand hing die ungerahmte Zeichnung eines freudestrahlend herabblickenden Jesus, vermutlich aus einem Magazin herausgetrennt, daneben alte Fotografien der Verwandtschaft. Es gab ein paar schmale Teppiche, deren Ränder sich unter der hohen Luftfeuchtigkeit kräuselten. Alles wirkte abgenutzt, und doch waren da weder Dreck noch Steine unter Boggs’ Schuhen, als er über den Holzboden lief. Viel hatten sie nicht, aber um das Wenige kümmerten sie sich.

Jimmy erzählte, dass seine Mutter sich nicht wohlfühle. Sie war oben in ihrem Schlafzimmer, stand in letzter Zeit nur selten auf. Er und sein Bruder kümmerten sich mithilfe der Nachbarn abwechselnd um sie, doch die Nachbarn waren gerade in ihrem eigenen Haus.

»Mein Bruder David ist mit einem Kumpel draußen auf dem Feld. Der hilft uns, es gibt eine Menge zu tun, wir sind ja jetzt nur noch zu zweit.«

Draußen hatte er groß und in seinem Element gewirkt, hier drinnen jedoch schien seine schmächtige Gestalt in sich zusammenzufallen, und er zappelte nervös auf seinem Stuhl herum. Es war, als hätte er sich um zehn Jahre zurückentwickelt, seit er das Haus betreten hatte.

»Sie sind wirklich Polizisten?«

»Ja, aus Atlanta«, sagte Boggs. »Aber um die Wahrheit zu sagen, wir haben hier draußen nicht wirklich was zu sagen. Eigentlich kann ich Ihnen sogar versichern, dass die örtliche Polizei uns hier nicht haben will und auch nicht will, dass wir mit Ihnen reden. Sie können uns also jederzeit sagen, dass wir abhauen sollen. Wir respektieren das.« Der Junge hatte den Blick abgewandt und starrte auf den Boden. »Aber wir wollen herausfinden, was Ihrer Schwester zugestoßen ist, und als wir gehört haben, was hier passiert ist, wollten wir mit Ihnen reden.«

»War die Polizei hier, nachdem Ihr Vater getötet wurde?«, fragte Smith.

Eine sehr lange Pause, sodass Boggs sich fragte, ob der Junge sie überhaupt gehört hatte.

»Die kamen am nächsten Morgen und haben zu Mama gesagt, sie soll ihn abholen.« Jimmys Stimme versagte. Die Hunde gesellten sich zu ihm, als wollten sie ihn beschützen, setzten sich neben ihn auf den Boden.

»Was haben die Ihnen erzählt, was Ihrem Vater zugestoßen ist?«, wollte Smith wissen.

Blickkontakt, Augen verschwommen von den Tränen.

»Die mussten mir gar nichts erzählen. Ich weiß, was die getan haben.«

»Erzählen Sie’s uns«, sagte Smith. Keiner der beiden Polizisten hatte ein Notizbuch, sie wollten das so informell wie möglich halten.

»Wir wollten am nächsten Tag nach Chicago. Aber wir durften nichts ausplaudern, hat Pa gesagt. Wir sind in den Gemischtwarenladen, um ein paar Dinge für die Reise zu besorgen. Nur er und ich. War so um die Mittagszeit, und der Besitzer, Mr. Snelling, hat ihm all diese Fragen gestellt, warum er das alles kauft, wozu er es braucht, so was eben. Pa war …« Der Junge wischte sich die Tränen aus den Augen.

Darauf zu warten, dass er seine Fassung wiedergewann, gehörte mit zum Schlimmsten, was Boggs und Smith bisher erlebt hatten.

»Pa war nervös. Er war wohl nicht so gut im Lügen.«

Dann das Unerwartete – ein zartes Lächeln im Gesicht des Jungen. »Uns hat er immer gesagt, wir sollen nicht lügen, und dann tut er’s und ist nicht gut darin.« Das zarte Lächeln verschwand.

»Hat dieser Mr. Snelling vorher schon Ärger gemacht?«

»Nein, Sir, eigentlich nicht. Er ist nicht besonders freundlich, aber so war er noch nie.«

»Was ist dann passiert?«, fragte Boggs.

»Wir waren schon fast zu Hause, als die Polizei uns angehalten hat. Haben behauptet, wir hätten was aus dem Laden gestohlen. Pa wollte nicht aussteigen, aber die haben ihn gezwungen. Sie haben ihn hinten in ihren Wagen gesteckt und mich haben sie nach Hause geschickt. Ich durfte noch nicht mal die Einkäufe mitnehmen.«

Die Decke über ihnen knirschte, da waren Schritte.

»Wir sind fast die ganze Nacht wach geblieben und haben gewartet. Mein Bruder und ich wollten zu den Nachbarn gehen, damit sie uns zur Polizei fahren, aber Ma hat es verboten. Waren viele Autos unterwegs in der Nacht. Viele haben einfach da drüben gehalten.« Er zeigte aus dem Fenster auf das Ende der Einfahrt. »Als ob sie uns beobachten. Am Morgen ist dann der Sheriff vorbeigekommen.«

Sie warteten, ob noch etwas folgte. Doch das war’s.

»Wo ist der Truck Ihres Vaters?«, fragte Smith.

Jimmy zuckte mit den Schultern. »Ich hab Ma gefragt, ob wir bei der Polizei nachfragen können, aber sie hat Nein gesagt. Meinte, dann bekommen wir nur noch mehr Ärger mit ihnen.«

Es war sinnlos. Nie im Leben würden Boggs und Smith die Leiche inspizieren dürfen. Nie im Leben würden sie den Tatort besichtigen dürfen, selbst wenn sie ihn fänden. Sie hatten nicht die Befugnis, Zeugen zu verhören, und selbst wenn sie es versuchten, würden sie nur Negroes befragen können, und das auch nur, wenn die sich trauten, mit ihnen zu reden. Und warum sollten sie? Boggs und Smith hatten nichts anzubieten. Keinen Schutz, keine Gerechtigkeit. Alles, was sie hatten, war die vage Aussicht auf eine Zukunft, in der so etwas nicht mehr passierte. Doch das schien unwahrscheinlich, ja absurd.

Jimmy beugte sich nach vorn, die Ellenbogen auf den Knien, ließ seinen Kopf in die Hände sinken. Sein Weinen war wie der Einblick in eine Welt, die Boggs nie hatte betreten wollen.

*

Smith ging nach draußen auf die Veranda. Er brauchte frische Luft. Brauchte Abstand von dieser Familie und ihrem Schmerz. Er musste nachdenken.

Er setzte die Sonnenbrille auf und ließ den Blick über den Vorgarten schweifen, stellte sich das Leben hier draußen vor. Die Stadt, in der er geboren worden war, konnte nicht viel anders als die hier sein. Womöglich hätte er auch in einem Haus wie dem hier gewohnt, wäre sein Vater nicht ermordet worden. Vielleicht wäre ein Schmied oder Tischler aus ihm geworden, jemand, der Nägel ins Dach eines Farmhauses hämmert, während ihm der Schweiß den Körper runterläuft. Vielleicht wäre ein Rasen wie der hier sein wertvollstes Hab und Gut, falls er überhaupt das Glück hätte, einen zu besitzen.

Spinnweben hatten sich in den Ecken unter der Markise festgesetzt, darin eingesponnen tote Insekten wie in Miniatursärgen. Die Nester von Schlammwespen sprenkelten die Haustür.

Einer der Hunde war Smith nach draußen gefolgt und näherte sich ruhig. Das Tier war so riesig, dass sein Kopf sich auf der Höhe von Smiths Gürtel befand. Seine Zunge hing heraus, und es hechelte laut. Smith legte eine Hand auf seinen Kopf und streichelte es langsam, unfähig, die beruhigenden Worte zu finden, die ein Hund vermutlich hören wollte.

Smith war noch keine zwei Minuten draußen, als ein hellbrauner Chevrolet langsam die Straße entlangfuhr. Er hielt vor der Einfahrt der Ellsworths. Aus der Entfernung konnte er zwei Personen auf den Vordersitzen erkennen. Weiße Männer. Er starrte auf das Auto und wünschte sich mit aller Macht, dass es weiterfuhr. Nach zehn langen Sekunden tat es das.

*

Im Haus wartete Boggs darauf, dass Jimmy sich wieder fasste oder sein Weinen wenigstens leiser wurde. Es dauerte eine Weile.

»Sie haben gesagt, Ihre Familie wollte nach Chicago?«

»Ja, Sir. Papas großer Plan. Wollte es dort versuchen.«

»Das hat er auch mir gegenüber erwähnt. Mir war nur nicht klar, dass es schon so bald sein sollte.«

»Ungefähr vor einer Woche hat er uns beim Abendessen gesagt, dass es in ein paar Tagen losgeht. Hat uns alle überrascht. Na ja, Ma hat er es vorher gesagt, aber sie war wohl nicht glücklich darüber.«

Boggs hörte das Geräusch müder Schritte auf der altersschwachen Treppe.

Dann öffnete sich die Vordertür, und Smith kam wieder ins Wohnzimmer. Der dunklere Hund sprang auf, als gäbe es einen neuen Eindringling, und der andere rauschte von der Veranda herein. Jimmy befahl ihnen, ruhig zu sein. Er stand auf. Das schlechte Betragen der Hunde gab ihm eine Aufgabe, erlöste ihn aus der Isolation, in die er sich gegraben hatte.

»Lass die Hunde raus, Jimmy«, sagte eine Frauenstimme.

Boggs drehte sich um und sah Mrs. Ellsworth am Fuß der Treppe stehen, die dünnen Arme verschränkt, als wartete sie nur auf den nächsten Schicksalsschlag. Ihre Haare hatte sie zurückgebunden, ihr Kiefer war fest verschlossen, und tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben. Alles an ihr wirkte, als könnte sie jeden Moment auseinanderbrechen.

Sie trug ein blaues Hauskleid, und ihre nackten Zehenspitzen waren erstaunlich weiß. Anders als der Rest. Boggs hatte sie sich hellhäutig wie ihre Tochter vorgestellt, doch sie war genauso dunkel wie ihr Mann.

Boggs stellte sich und seinen Partner vor. »Wir bedauern Ihren Verlust sehr.«

»Was wollen Sie hier? Die Polizei hat uns schon genug Kummer bereitet.«

Sie beäugte sie, als wäre sie davon überzeugt, dass sie mit der örtlichen Polizei unter einer Decke steckten. Boggs versuchte ihr zu erklären, was er bereits Jimmy gesagt hatte: dass sie keine Befugnis hätten, aber nichtsdestotrotz die Wahrheit herausfinden wollten. Beim zweiten Mal klang es noch erbärmlicher. Seine Worte prallten wirkungslos an einem Gesicht ab, das mehr Schmerz gesehen hatte, als sich die meisten vorstellen konnten.

»Ich will Sie hier nicht haben. Ich weiß, Sie sind weit gefahren, aber Sie können uns nicht helfen. Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«

»Ich verstehe, dass das nicht leicht für Sie ist, Ma’am, aber wenn Sie uns nur ein paar Fragen beantworten würden, kämen wir mit den Ermittlungen zum Tod Ihrer Tochter weiter voran.«

»Ermittlungen?«

»Wir haben uns mit Leuten in der Stadt unterhalten, die sie gekannt haben«, sagte Smith. »Menschen, mit denen sie sich ein Zimmer in der Pension geteilt hat, neue Freunde. Mit ihrem alten Lehrer Mr. Hurst.«

Ihr Blick wurde finster. »Sie haben ihn gefunden?«

»Er lebt jetzt in Atlanta, Ma’am. Ist ein paar Monate vor Ihrer Tochter dahingezogen. Sie hatten wieder Kontakt aufgenommen.«

Sie wedelte mit der Hand, als verscheuchte sie eine unsichtbare Wespe. »Wir sollten jetzt nicht über diese Dinge sprechen.« Sie machte einen plötzlichen Schritt zur Seite und stützte sich mit der Hand an der Wand ab.

Jimmy führte sie zu einem der Stühle. »Du hast den ganzen Tag nichts gegessen.«

Boggs hasste es, sie nicht einfach in Frieden trauern lassen zu können, er und Smith schafften es aber vermutlich nie wieder hierher, er hatte nur diese eine Chance.

»Ma’am, Ihr Mann hat uns erzählt, dass Lily Ihnen ein paar Briefe geschickt hat, während sie in Atlanta lebte. Er hat mir gesagt, er würde sie uns leihen, wenn sie uns dabei helfen herauszufinden, wer ihr etwas anhaben wollte. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir einen Blick darauf werfen?«

»Die brauchen Sie nicht zu lesen.«

»Jede Kleinigkeit kann hilfreich sein, Ma’am«, sagte Smith.

»Mama«, ergriff Jimmy das Wort, »wir sollten ihnen alles zeigen, was sie sehen wollen, vielleicht können sie …«

»Junge, niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt, jetzt geh und hol mir ein Glas Milch.«

»Ja, Ma’am.« Jimmy eilte in die Küche, die Hunde freudig hinterher.

»Ma’am«, sagte Boggs. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir die Briefe wie Gold behandeln werden. Wir müssen sie noch nicht einmal mitnehmen, wir lesen sie einfach hier.«

»Da steht nichts drin, was Ihnen weiterhilft.«

»Ich kann das verstehen, Ma’am, aber ich würde es bevorzugen, wenn mein Partner und ich das beurteilen.«

»Ma’am«, äffte sie ihn nach. »Sie sind ja so höflich. Ein wohlerzogener Junge, richtig?«

»Schätze, ich hatte Glück. Mein Vater ist Prediger, und solche Dinge sind ihm wichtig. Meiner Mutter sogar noch mehr.«

»Es tut mir leid, aber ich ändere meine Meinung nicht.«

»Mrs. Ellsworth«, sagte Smith, »warum wollten Sie nicht, dass Ihre Tochter nach Atlanta zieht?«

»Die Stadt ist kein Ort für junge Ladies. Und ich habe ja offenbar recht behalten.«

»Hier draußen ist es besser?«

»Ist machbar. Wenn man sich korrekt verhält.«

Jimmy kam mit dem Glas Milch und einem Teller mit Honigtoast zurück. Sie ließ ihn wissen, dass sie nicht hungrig sei, aber er bestand darauf. Sie stellte den Teller auf ihren Schoß und nahm einen Bissen.

»Hat sie in den Briefen öfter ihren Job beim Kongressabgeordneten erwähnt?«, fragte Boggs.

Sie sah von ihrem Toast auf, als hätte sie auf etwas Spitzes gebissen, und nahm sich dann demonstrativ Zeit zum Kauen und Schlucken.

»Sie hat erzählt, dass sie da eine Stelle hat.«

»Sonst nichts?«

»Sie meinte, er ist nett, aber sie begegnet ihm nicht besonders oft. Meistens nur seiner Frau und seinem Sohn. Meinte, sie sind nicht besonders freundlich, aber auch keine schlechten Arbeitgeber.«

»Muss doch nervenaufreibend gewesen sein, in Gesellschaft so wichtiger Leute.«

»Das Mädchen war flink. Gute Manieren. Schlau war sie.«

Ihre Augen wurden feucht, sie griff nach dem Toast, als könnte er den Schmerz lindern.

»Ma’am, ich weiß, dass die Polizei behauptet, dass Ihr Mann ihr etwas angetan hat, aber daran glaube ich nicht. Und Sie?«

»Natürlich nicht.« Schmerz wich Wut.

»Die behaupten auch, dass er durch sie irgendwie an einen Haufen Geld gekommen ist; wie genau, scheint die allerdings gar nicht besonders zu interessieren. Stimmt es, dass sie Ihnen mehr Geld geschickt hat, als Sie erwartet haben?«

»Wie war noch mal Ihr Name?«

»Officer Lucius Boggs.«

»Officer Boggs, ich habe hart gearbeitet, um eine anständige Familie großzuziehen.« Sie flüsterte jetzt beinahe, nur so schien ihre Stimme noch durch ihre sich verengende Kehle zu passen. »Ich bekam dieses kleine Mädchen, bevor ich eine verheiratete Frau war, wie mein Mann Ihnen vielleicht erzählt hat. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, aber ich habe einen guten Mann gefunden, wir haben hart gearbeitet und versucht, ein gutes Leben zu führen.«

Sie starrte aus dem Fenster, versuchte sich zu fangen. Jimmy legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Ich habe eine anständige Familie. Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht weiß, was ihr zugestoßen ist. Und ich weiß auch nicht, warum ihr jemand wehtun sollte. Die Kleine hat nichts Böses getan. Nie.«

*

Ein paar Minuten später verließen sie das Haus, Boggs ging voran. Ihm war speiübel. Schweigend gingen sie zum Wagen, eine Last auf ihren Schultern, die viel schwerer war als die drückende Schwüle, die ihre Rücken durchnässte.

»Als ich mit Otis gesprochen habe«, sagte Boggs beim Buick, »tat er zumindest so, als hätte in den Briefen nichts über die Arbeit beim Kongressabgeordneten gestanden. Aber gerade hat sie gesagt, dass Lily sich darin zu den Prescotts geäußert hat.«

Er öffnete die Autotür und stieg ein. Die Sitze waren so heiß, dass er sie durch die Kleidung hindurch spürte und sich vorbeugte, um die Zündung zu betätigen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Menschen an solchen Tagen auf dem Feld arbeiten konnten. Es tat sogar weh, das Lenkrad zu berühren, ganz zu schweigen von einer Hacke oder einer Schaufel. Sie waren noch nicht einmal dem anderen Sohn begegnet und hatten sich keine zwanzig Minuten mit Mrs. Ellsworth unterhalten. Der ganze Tag war ein einziger Misserfolg. Alles, was er erreicht hatte, war, ihnen den Tag noch unerträglicher zu machen. Es war wie verhext. Jedes Mal, wenn er versuchte, dieser Familie zu helfen, schien er einen Fluch gegen sie auszusprechen.

Boggs sah nach hinten, um rückwärts aus der Einfahrt zu setzen, und war fast wieder auf der Straße, als Smith ihn stoppte.

»Da drüben.«

Von den Feldern her lief jemand auf sie zu. Der ältere der Ellsworth-Brüder, David. Er war in etwa so groß wie Jimmy, nur mit einem länglicheren Gesicht, das eher Otis als seiner Mutter ähnelte. Beide Ellsworth-Söhne waren ein gutes Stück dunkler als ihre Schwester, fiel Boggs auf.

David rannte zu ihrem Wagen. Er hatte keine Fragen. Dafür ein paar Antworten.

*

Zehn Minuten später waren sie zurück auf der Straße. Boggs hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung, dennoch konnte er es gar nicht erwarten, das Kaff hinter sich zu lassen.

»Jetzt ergibt alles viel mehr Sinn, oder?«, sagte Smith.

»Kann man wohl sagen.«

»Wir haben es wahrscheinlich beide gedacht, aber nicht wahrhaben wollen. Erklärt auch, warum die Mutter so kurz angebunden war.«

»Komm schon, sie hatte diverse Gründe, kurz angebunden zu sein.«

»Stimmt.« Die Übelkeit von vorhin war weg, an ihre Stelle war ein beschleunigter Puls getreten, als sich ganz neue Verbindungen in seinem Kopf herstellten. Eine lange Fahrt lag vor ihnen, auf der sie ihre nächsten Schritte planen konnten.

Fünf Minuten später sah er einen Streifenwagen im Rückspiegel, der ihnen mit Blaulicht folgte.

»Oh Jesus. Wir haben die örtlichen Cops am Hals.«

Smith drehte sich um. Boggs blickte in den Rückspiegel und sah, wie sich ein zweiter Wagen dem ersten anschloss. Boggs war meilenweit durch Farmland gefahren, doch jetzt waren sie in den Pinienwäldern auf einer engen und geraden Straße unterwegs, es gab nur einige wenige sanfte Erhebungen.

»Ich muss rechts ranfahren.«

»Bist du irre?«

»In dem Ding kann ich sie nicht abschütteln. Wenn ich auch nur den Versuch unternehme, knallen die uns ab.«

»Und was, denkst du, tun die, wenn du rechts ranfährst?«

Die Streifenwagen kamen schnell näher. Smith öffnete das Handschuhfach, nahm seinen Revolver heraus und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten.

»Du hast gerade gehört, was sie mit Ellsworth gemacht haben«, sagte er.

Boggs schlug aufs Lenkrad. Wollte Smith ernsthaft eine Schießerei? Dachte er, sie hätten auch nur die geringste Überlebenschance? Oder wollte er Rache – für Ellsworth und seinen eigenen Vater –, und Boggs hatte sich da in etwas reinziehen lassen, aus dem er nicht wieder herauskam?

»Wir werden nur mit denen reden«, sagte Boggs.

»Solange die’s auch dabei belassen«, sagte Smith und griff nach dem Gewehr auf dem Rücksitz.

In Gedanken sprach Boggs ein Gebet, als er seinen Fuß auf die Bremse sinken ließ.