31
DAS KÜRZEN VON Schlingpflanzen in der schlimmsten Sommerhitze entsprach nicht gerade Rakes Vorstellung von einem angenehmen Vormittag. Niemandes Vorstellung. Doch im Winter, als die Arbeit am einfachsten gewesen wäre, hatte er die Dinge schleifen lassen, und im Frühling war er zu beschäftigt mit seinem neuen Job gewesen. Es war offensichtlich, dass der Vorbesitzer sich jahrelang nicht um den Garten gekümmert hatte, vielleicht sogar jahrzehntelang. Wilder Wein und Englischer Efeu und etwas, das verdächtig nach Giftefeu aussah, hatten sich vollständig um die Stämme der fünf größten Bäume im Garten geschlungen und sie mit einer fast sechs Meter hohen grünen Schicht überzogen. Er kauerte mit einer Heckenschere und einem gezackten Messer im Garten, musste aber letztlich zur Metallsäge greifen, für Ranken, die breiter waren als seine Unterarme.
Um sich vor dem Giftefeu zu schützen, trug er ein langärmeliges Hemd, Jeans und Arbeitshandschuhe. Den Schweiß wischte er sich mit dem Ärmel von der Stirn, damit nichts von dem Gift in sein Gesicht gelangte. Er tat das alles nur, weil Cassie hochallergisch gegen das Zeug war. Glaubte man der Familienlegende, war sie bereits zweimal beinahe daran gestorben. Beim zweiten Mal war ihr Gesicht aufgequollen wie ein zermatschter Pfirsich, weil irgendein idiotischer Nachbar ein Stück Land samt Giftefeu verbrannt hatte und die Rauchwolke sich nicht an Grundstücksgrenzen halten wollte. Die Chancen standen nicht schlecht, dass Denny Jr. und das Baby die Allergie geerbt hatten. Denny Jr. war jetzt mobiler, also erfüllte Rake seine väterliche Pflicht und schützte seinen Clan, indem er sich bei dreißig Grad im Schatten der Vegetation der Südstaaten entgegenstellte.
Mit eingegipstem Finger war das Ganze mehr Strafe als Arbeit, und vielleicht hatte er auch eine verdient. Der Finger war geschwollen, und er hatte nur ein bisschen Aspirin genommen, obwohl ihm der Arzt in der Notaufnahme letzte Nacht etwas Stärkeres angeboten hatte. Rake hatte dankend abgelehnt, er hatte gesehen, was das Zeug bei Frontsoldaten angerichtet hatte, und irgendwie lenkte die brutale Anstrengung seinen restlichen Körper auch von dem kleinen kaputten Teil ab.
Mit drei Bäumen war er jetzt fertig und wägte zwischen Pause und Weitermachen ab, da teilte Cassie ihm mit, dass sein Partner hier sei. Sie stand an der Hintertür, als auch schon Dunlow aus dem Haus kam.
»Na, das sieht doch mal nach Spaß aus. Hättest dir einen meiner Jungs dafür ausborgen sollen, die können das Taschengeld gebrauchen.«
Eine seltsame Vorahnung ergriff von Rake Besitz. Wegen der Büsche war er vom Haus aus nur schwer zu sehen, und während er noch zwischen den verstreuten Werkzeugen und abgetrennten Ranken hockte, ließ er das gezackte Messer einschnappen und in die Tasche seiner Jeans gleiten.
»Nein, danke«, sagte er. »Dafür hast du mir schon zu viel über deine Jungs erzählt.«
Cassie verschwand nach drinnen. Rake hatte Dunlow und seine Frau in der Vergangenheit mal zum Abendessen eingeladen, aber keine zweite Einladung mehr danach ausgesprochen. Auch war sie nie erwidert worden. Cassie hatte sich anschließend neutral dazu geäußert, entweder weil sie zu höflich war, um Dunlows Wortwahl oder Manieren zu kritisieren, oder um einfach nicht zwischen die Fronten zu geraten. Er merkte ihr jedoch an, dass auch sie ihn nicht leiden konnte, und in den folgenden Wochen hatte er ihr genug über Dunlow erzählt, dass sie den größtmöglichen Bogen um ihn machte. Dabei hatte sich Rake noch das Schlimmste verkniffen.
»Warum machst du nicht mal eine Pause und wir reden bei mir zu Hause.« Da war kein Fragezeichen am Ende des Satzes.
»Zwei muss ich noch schaffen. Vielleicht später.«
Dunlow näherte sich. Rake nahm eine leichte Schnapsfahne wahr.
»Wir beide müssen uns mal dringend unterhalten, die Lianen da können warten. Wenn deine hübsche Lady nicht im Haus wäre, würde ich dich an deinem verdammten Kragen packen und auf der Stelle hier rausziehen. Also spar dir das Gejammer und los.«
Rake war zu stolz, um sich von jemandem – selbst wenn es sein eigener Partner war – auf seinem eigenen Grundstück bedrohen zu lassen, aber er wollte sich vor Frau und Kind auch nicht auf eine Prügelei einlassen. Er hatte einen Finger weniger, ihm war heiß, er war erschöpft und durstig – der Schlachtplan in seinem Kopf ging nicht auf, wurde von äußerlichen Faktoren beeinträchtigt. Wenn all seine geheimen Pläne und Einsätze der letzten Wochen schon aufflogen, dann wenigstens nicht in seinem eigenen Garten.
Dunlow trug nur ein weißes Unterhemd, das ihm über die Hose hing, deshalb konnte Rake nicht genau sagen, ob er bewaffnet war. Vielleicht hinten im Hosenbund. Andererseits konnten groß gewachsene Kerle wie er Pistolen auch erstaunlich gut vorn in den Hosentaschen oder in einem unauffälligen Halfter verstecken.
Rake ließ seinen Partner nicht aus den Augen und streifte die Arbeitshandschuhe ab, langsam, um weder gehetzt noch verängstigt zu wirken. Dann ging er in Richtung Haus und rief Cassie zu, dass er kurz zu Lionel müsse, aber bald zurück sei. Sie steckte den Kopf aus der Hintertür und wirkte überrascht, jedoch nicht besorgt. Er lächelte, kein Grund zur Sorge. Hätte er ihr gesagt, dass er sie liebe, hätte sie das alarmiert, also hielt er die Klappe.
*
Dunlows Haus lag nur ein paar Blocks entfernt, und doch war er zu faul, zu Fuß zu gehen. Sie nahmen Dunlows Ford, und Rake ließ die rechte Hand in der Nähe der Hosentasche, für den Fall, dass er das Messer brauchte, obwohl ihm klar war, dass es hier im engen Wagen keine gute Waffe abgab.
»Das Haus von diesem Nigger«, sagte Dunlow, als sie an Calvins neuem Haus vorbeikamen. »Die bringen ihre Scherereien an unser Ufer.«
Soweit Rake wusste, war dort nichts Weiteres vorgefallen. »Ich hab nichts von Scherereien gehört.«
»Oh, das wirst du bald. Mach dir da mal keine Sorgen.«
Dunlows flacher Bungalow wurde von einer monströsen Weißeiche in seinem Vorgarten überschattet, ihre massiven Äste reichten über den gesamten Hof. Dunlow parkte in der Einfahrt. »Nach hinten«, sagte er.
Rake folgte ihm durch eine Tür im Holzzaun, die Dunlow vermutlich selbst gezimmert hatte. Die Rasenfläche fiel leicht ab, und es sah nicht so aus, als hätten irgendwelche Teenager kürzlich gemäht, was Rakes vorherigen Kommentar nur bekräftigte. Honigbienen stoben davon, als die Männer sie bei ihren Geschäften mit dem Löwenzahn störten. Am Ende von Dunlows Grundstück gab es einen Bereich mit Bäumen, die um einen winzigen Teich herum wuchsen – eher eine kleine, längliche Pfütze. Davor stand ein alter Werkzeugschuppen, verborgen hinter einem natürlichen Spalier aus Kletterpflanzen, genau wie das Haupthaus hinter der riesigen Eiche.
»In mein Büro.«
Der Schuppen war erstaunlich geräumig. Er wirkte wie geschaffen für Reparaturen oder qualvolles Zu-Tode-Foltern wehrloser Opfer. Werkzeuge hingen an Haken an der Wand, ein paar Holzböcke standen inmitten von Haufen aus Sägespänen, es roch nach Farbe oder Lösungsmittel oder nach beidem. Spärliches Licht fiel durch ein einzelnes Fenster, und Dunlow betätigte den Lichtschalter einer kleinen Lampe über einem ausklappbaren Tisch, der womöglich so manches nächtliche Pokerspiel gesehen hatte, wenn die Jungs unter sich sein wollten.
Bei jedem von Rakes Schritten rollten Nägel über den Boden, tote Motten hingen in sorgfältig gesponnenen Spinnennetzen in den Ecken, und ein paar alte Vorgarten-Schilder für eine Wahl, an die Rake sich nur dumpf erinnern konnte, lagen auf einem Stapel. Es herrschten gefühlte sechzig Grad hier drinnen.
»Nimm Platz.«
Vier alte Baumstümpfe standen als Stühle um den Tisch herum. Dunlow setzte sich auf einen davon, Rake nahm gegenüber Platz. Dann tauchten eine Flasche und zwei Gläser auf dem Tisch auf. Dunlow schenkte ihnen ein.
»Nein, danke«, sagte Rake. War das sein letzter Drink, bevor das Exekutionskommando kam? Mit dieser Gastfreundlichkeit hatte er nicht gerechnet.
»Halt die Klappe und trink.« Dunlow befolgte seinen eigenen Rat.
»Nein. Danke.«
»Trink.«
»Du kannst doch noch was vertragen. Nimm meinen, und wir sind quitt.«
Er wusste, dass es seinen Partner wütend machte, wenn er den Schnaps verweigerte und sich demonstrativ gelassen gab. Dunlow starrte ihn an, und Rake hielt dem Blick stand. Die Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Dann drehte sich Dunlow um, holte etwas von einem Regal. Rakes rechte Hand glitt in seine Hosentasche und umklammerte den Griff des Messers.
Aber das Objekt, das Dunlow aus dem Regal holte, war keine Pistole oder sonst irgendeine Waffe. Es war ein Einweckglas mit Flüssigkeit, etwas, das vielleicht mal transparent oder gelblich gewesen sein mochte, doch jetzt grün schimmerte. Kleine dunkle Flocken tanzten in der trüben Masse. Als Dunlow den Krug auf den Tisch stellte, wurde ein Objekt auf dem Boden des Krugs leicht in Bewegung versetzt. Es hatte die ungefähre Form und Größe einer sehr großen Eichel.
»Vergiss es, das trink ich nicht.«
»Das ist nicht zum Trinken, du Vollidiot. Das ist zum Erinnern. Weißt du, was das ist?«
»Ich hoffe nicht.«
Rake begann etwas zu ahnen, während Dunlow Rakes volles Glas ignorierte, sich einen neuen Drink eingoss und ihn hinunterschüttete. Wenn Rake es schlau anstellte und abwartete, würde Dunlow ohnehin bald umkippen.
»Es ist ein Niggerzeh.«
Rake versuchte, einen leidenschaftslosen Gesichtsausdruck aufzusetzen, und wartete auf Dunlows Erklärung.
»Ein Onkel von mir hat ihn damals bekommen, 1906. Mein Geburtsjahr, tatsächlich. Hat ihn mir mit neun oder zehn geschenkt.«
»Als ich zehn war, hab ich einen Baseballschläger bekommen.«
»Ich vermute, mit einem Baseballschläger hat er sich den hier besorgt«, wieherte Dunlow. Anscheinend eine der schlagfertigsten Antworten, die ihm je gelungen waren.
Rake konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich den Zeh genauer anzuschauen, obwohl er wusste, dass Dunlow genau das bezweckte. Es war schwer zu sagen, ob er wirklich seit zweiundvierzig Jahren dadrin lag, denn wer auch immer das Formaldehyd angerührt hatte, hatte zu viel oder zu wenig von der einen oder anderen Komponente verwendet, und der Zerfall der Chemikalien hatte längst begonnen. Rake fragte sich, wie alt der Zeh gewesen sein mochte, als er während der Unruhen abgetrennt worden war, damals, als die Generation seines Vaters die Negroes aus Downtown vertrieben hatte. Er konnte keinen Zehennagel erkennen. Er fragte sich außerdem, ob Dunlow log und er den Zeh erst kürzlich »erworben« hatte.
»Weshalb sind wir hier, Dunlow?«
»Du bist eine gottverdammte Schande für die Cops. Und für mich als deinen Partner.«
»Lustig. Genau das lag mir auch schon öfter auf der Zunge.«
»Und weißt du, was mich am allertraurigsten macht, Rake? Dass du mich an mich selbst erinnerst, als ich jünger war.«
»Das macht auch mich traurig. Das ist das Gemeinste, was du je zu mir gesagt hast.«
Dunlow legte eine .45er neben die beiden Gläser und seine rechte Hand darauf.
»Okay, dann spielen wir also mit offenen Karten«, sagte Rake.
Er war selbst erstaunt, wie ruhig er blieb. Er hatte auf diesen Moment gewartet. Er hatte in Europa keine Panik verspürt und noch kein einziges Mal auf Streife, und selbst jetzt, in diesem für eine Panik idealen Moment, blieb sein Puls weiterhin bei Tempo »desinteressiert«.
Allerdings wurde ihm klar, dass er zu lang gewartet hatte. Er hätte das Messer zücken sollen, bevor Dunlow seine Waffe präsentierte. Er hätte ihn nie in diesen Schuppen begleiten sollen. Er hätte nie bei der Polizei anfangen sollen. Eine Reihe entscheidender Abzweigungen, an denen er die falsche Richtung eingeschlagen hatte, materialisierten sich jetzt vor seinem geistigen Auge, wie eine Landkarte, auf der die Idealroute im Rückblick offensichtlich erschien.
»Schluss jetzt mit deiner gottverdammt frechen Schnauze. Ich hab dir was zu sagen, und ich hätte es dir schon längst sagen sollen, also halt deine Fresse, verdammt, und lass mich reden.«
Rake versuchte, seinen Gesichtsausdruck nach Fressehalten aussehen zu lassen. Entweder bemerkte es Dunlow nicht, oder es war ihm egal, dass Rakes Hand unter dem Tisch blieb.
»Du denkst, ich bin ein mieser Cop, oder? Du denkst, ich bin ein übler Kerl, hältst mich für starrsinnig. Und du denkst, ich bin zu brutal zu den Niggern, richtig? Ein irreparabler Konföderierter, der diese armen schwarzen Teufel einfach nicht in Ruhe lässt. Das denkst du doch, oder?«
»Ich würde normalerweise nicht unbedingt ›irreparabel‹ sagen, aber sonst kommt’s hin, ja.«
»Na, dann sag ich dir mal, was ich über dich denke, junger Mann. Du hältst dich für einen Held, weil du da drüben was auch immer überlebt hast und jedem deine tollen Medaillen unter die Nase halten kannst. Du denkst, du bist kultiviert und gebildet und weißt mehr über das Leben als die Dorftrottel, die du hier zurückgelassen hast, und dass du jetzt nach deiner Rückkehr mit deiner blitzblanken neuen Marke über uns bestimmen kannst. Du denkst, du hast allen hier etwas voraus, und bis wir das merken, bist du schon längst aufgestiegen, und wir kommen dir eh nicht hinterher.«
Schweiß rollte Rakes Wangen hinab. Er hätte während der Gartenarbeit mehr Wasser trinken sollen, denn jetzt steckte er in diesem Glutofen zusammen mit einem bewaffneten Mann und wagte es nicht, sich übers Gesicht zu wischen, um Dunlow keinen Anlass zu geben, ihn zu erschießen.
»Weil ich keine Schmiergelder nehme und Negro-Kinder vermöble? Weil ich keine Kapuze aufsetze und Brandbomben auf das Haus am Ende der Straße werfe?«
Dunlow trank erneut. Beunruhigenderweise wirkte er immer noch nicht sonderlich betrunken. Rakes Plan, zu warten, bis er umkippte, schien nicht aufzugehen.
»Ich war mal wie du. Glaubst du mir vermutlich nicht. Ich war auch nicht so lästig wie du. Aber ich hab mich auch für besser als der Rest gehalten. Vor allem als mein Vater. Der war auch Cop. Dem hat dieser Stadtteil verdammt noch mal gehört, Junge. Wenn die Leute den großen Dunlow kommen sahen, war die Straße leer. Er war einer der letzten Cops, der noch einen Hengst auf der Straße ritt, nur um dadurch größer zu wirken. Du denkst, ich bin streng mit den Niggern? Du hast nicht die geringste Ahnung. Einer meiner Onkel hat mir diesen Zeh gegeben, aber glaub keine Sekunde, ich wüsste nicht, wer den eigentlich besorgt hat. Der Große war nur kein Angeber. War nicht sein Stil.«
Rake war so heiß, dass ihm schwindlig wurde. Oder es waren die Nerven. Vielleicht bildete er sich seine Gelassenheit nur ein.
»Er hatte drei kleine Mädchen und mich, und er hat verflucht noch mal alles dafür getan, dass ein zäher Bursche aus mir wird. Schätze, am Ende hab ich die meisten seiner Lektionen begriffen, doch nicht alle hab ich auf Anhieb verstanden. Manchmal braucht man eine Weile, um die offensichtlichen Dinge zu kapieren. Zum Beispiel: Je mehr er mich vor den Niggern gewarnt hat, umso neugieriger bin ich geworden. Sogar nach den Unruhen gab es noch ein paar Gegenden, in denen die Farbigen und wir im selben Block gewohnt haben und man sich zufällig begegnet ist, so Zeug halt. Und da kannte er keine Gnade.«
Lass ihn reden, dachte Rake. Je mehr er redete, desto länger wurde Rake nicht erschossen.
»Ich sehe eine Menge von mir in dir. Und weißt du, was mir Sorgen macht, Officer Rakestraw? Ein guter Christ wie du mit so einer hübschen Frau.« Der Hinweis auf Cassie ließ Rake den Griff des Messers fester umschließen. »Und die putzigen Kinder. Du hast eine Menge Verantwortung und trotzdem … ich wette, das Weib hört nicht auf, wegen dem Baby zu jammern, und auch dich nervt das Geschrei in der Nacht, und das Leben ist gar nicht mehr so spaßig, oder? Ein starker, respektabler weißer Mann zu sein, ist scheiße noch mal harte Arbeit, oder? Den meisten reicht das, um sich so was hier zu gönnen.« Er tippte mit der Linken gegen das Glas, das Rake nicht angerührt hatte. »Aber du bist was Besseres. Du nimmst den Amtseid ernst. Aber Zu Hause wird’s immer anstrengender, und der Gehaltscheck reicht auch nicht mehr aus, der Job fordert seinen Tribut. Und wie sollst du dich dann entspannen?«
Rake hätte den Tisch auf Dunlow werfen können, doch er war so leicht, Dunlow hätte ihn in weniger als einer Sekunde zur Seite getreten und geschossen. Oder Rake hechtete über den Tisch in der Hoffnung, dass Dunlow zu angetrunken war, um rechtzeitig zu reagieren. Er könnte versuchen, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen, dann wäre es wenigstens ein fairer Kampf. Ansonsten sah er keine andere Möglichkeit, als zu warten.
»Also beschließt du, nach Darktown zu gehen und da ein bisschen Spaß zu haben. Willst zeigen, wie aufgeklärt du bist, mischst dich unter die Farbigen, denn die wissen, wie man sich entspannt und es sich gut gehen lässt, selbst wenn das Leben kein Zuckerschlecken ist. Also gehst du in die Nachtklubs, obwohl du gar nicht trinkst, und du spielst Karten, obwohl auch das illegal ist, aber du setzt ja nicht viel Geld, was kann das schon schaden?
Und dann erst die Weiber! Das ist ja noch mal eine ganz andere Geschichte. Du hast gehört, was sie über Niggerweiber sagen, und verdammt, es stimmt. Rundungen, die weiße Frauen noch nicht mal aufmalen könnten, und Gott, dann gehen sie auch noch so freizügig damit um. Freizügig, aber nicht umsonst, wohlgemerkt, denn bei den Frauen, zu denen du gehst, wandert Geld über den Tisch. Und du denkst, das Geld ist da besser aufgehoben als beim Pokern; verstehst du, worauf ich hinauswill? Haben wir uns verstanden?«
»Klar.« Er hatte keine Ahnung, wo das hinführte.
»Also, jetzt hast du ein Verhältnis mit einer von denen. Du hast eine Wahnsinnszeit mit ihr, sie ist wild und hat Humor, und je mehr Zeit du mit ihr verbringst, desto mehr kommst du ins Grübeln. Denkst, dass sie vielleicht doch nicht so dumm ist. Die hat ein Hirn zwischen den Ohren. Und du denkst, vielleicht sind all die Geschichten über die Farbigen und ihre Frauen nur Quatsch. Neid. Vielleicht sind wir Weißen einfach nur zu verklemmt und beneiden sie, weil sie so wenig brauchen, um Spaß zu haben.
Die Zeit vergeht, und deiner Frau ist wahrscheinlich aufgefallen, dass du nicht mehr zusammen mit der Familie in die Kirche gehst, aber das ist in Ordnung, schließlich hast du einen anstrengenden Job und musst tagsüber schlafen. Und Gott kannst du eh gerade nicht gebrauchen. Wir stecken mitten in der Wirtschaftskrise, und die Dinge, die du jeden Tag siehst, du lieber Himmel. Als du ein Cop wurdest, hast du dir all die Heldentaten ausgemalt. Leben retten, ein paar Leute verprügeln, Spaß haben, aber nein, wie sich herausstellt, verbringst du die meiste Zeit damit, die Leute von der Straße fernzuhalten, ihnen zu helfen, eine Unterkunft zu finden und irgendwoher eine heiße Suppe zu kriegen. Du hörst Geschichten, die dir das Herz brechen, und siehst die Blicke der kleinen Jungs im selben Alter wie deine Kinder. Die haben nichts, sind zaundürr, irgendwas stimmt mit ihren Köpfen nicht, und du willst ihren Eltern einfach nur einen warmen Schlafplatz für die Nacht besorgen. Nur eine verdammte Nacht. Und morgen haben sie wieder das gleiche Problem. Das ist dein Job, das ist dein Leben. Du kannst nicht begreifen, warum Gott so etwas zulässt, dir geht es nicht gut, und deine Frau versteht dich nicht, wenn du mit ihr drüber redest.«
Dunlow hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Seine Hand lag noch nicht einmal mehr auf der Waffe, nur noch daneben. Wenn es den einen Moment für Rake gab, ihm die Waffe wegzuschlagen, dann jetzt.
Und doch wollte er den Rest der Geschichte hören.
»Du gehst also immer öfter in den Puff, und es ist eine Schande, wie die farbigen Mädchen da hausen, aber verdammt noch mal, das ist eben ihr Schicksal. Du darfst auch nach ihrem Feierabend kommen, denn du bist ja ein Cop, sie empfangen dich jederzeit, denn du hast Geld. Irgendwann wird dir klar, dass mehr als nur eine mit ihrem Kind dort wohnt, das sind die kleinen Jungs, die durch den Flur rennen, wenn kein Freier im Gebäude ist. Todtraurig. Klar treiben deine eigenen Bälger dich zu Hause in den Wahnsinn, aber manchmal kommst du mit den Kindern ins Gespräch und alberst mit ihnen rum. Einer von denen ist verdammt clever, sein Name ist Duke, denn seine Mutter behauptet, sie stand bei seiner Geburt auf diese Duke-Ellington-Platte, hat angeblich nichts anderes mehr gehört. Irgendwann lässt du ihm dann von Zeit zu Zeit mal ein bisschen Kleingeld da oder bringst ihm sogar ein paar Süßigkeiten mit. Er wird so was wie dein kleines Maskottchen.
Weil du dich mit dem Kleinen so gut verstehst, hast du sogar noch mehr Mitleid mit diesen Frauen. Er ist lustig, und manchmal, nachdem du dich mit den Mädchen im Heu gewälzt hast, bringst du ihm ein Buch von zu Hause mit, das deine Kinder nicht mehr lesen wollen. Er geht auf keine Schule, aber er merkt sich die Wörter schnell. Und er kann Klavier spielen! Da steht eins bei denen im Salon, manchmal spielt eine der Ladies drauf, und er hat es sich nur durchs Zuschauen beigebracht. Eines Tages setzt er sich auf das Bänkchen und haut in die Tasten – und verdammt noch mal, der spielt ein Stück. Nicht das beste der Welt, aber für einen Vierjährigen? Der weiß wirklich, was er da tut. Singt sogar dazu, mit Text, den er sich gerade ausgedacht hat.
Der kleine Junge. Nennt dich ›Mr. Down Low‹, erst denkst du, dass seine Aussprache nicht so gut ist, aber dann kapierst du, dass er es mit Absicht macht, es ist ein Witz, er ist ein cleverer Junge. Für ihn bist du also Mr. Down Low, Mr. Ganz Unten. Und es klingt verrückt, aber du kapierst, dass dieser Junge zu Höherem geboren ist. Er hat so eine Art. Er sieht dich an, und du merkst, wie er deine Gedanken liest, wie er dich versteht. Kübelweise Charisma, kein Witz. Und je länger er Klavier spielt, desto mehr stellst du ihn dir auf einer großen Bühne vor, wie er spielt und vielleicht dazu singt, wie er die Leute in den feinen Anzügen um den Finger wickelt. Klingt bescheuert, aber vielleicht ist er tatsächlich der nächste Duke Ellington. Nachts liest du ihm Bücher vor, zu einer Uhrzeit, zu der kein Kind mehr wach sein sollte, und schon gar nicht an einem Ort wie dem hier. Und dir wird klar, dass der kleine Junge das gewisse Etwas hat, dass er etwas wirklich Besonderes ist. Du beginnst dich ernsthaft zu fragen, wie du ihm helfen kannst, nicht nur, indem du ihm ein Buch vorliest oder ihm Süßigkeiten kaufst, sondern ihm einen guten Musiklehrer besorgst, irgendwen. Vielleicht wirst du ein geheimer Förderer für den Jungen, um das Beste aus diesem gottgegebenen Talent herauszuholen. Der gute alte Mini-Duke.«
Dunlows Hand lag wieder auf der Waffe. Er machte keine Anstalten, sie zu benutzen, wollte sie nur in seiner Nähe wissen.
»Dann, eines Tages, kommst du in den Puff, und da sind all diese Leute, ein paar kennst du und andere hast du nie zuvor gesehen, weil du natürlich immer drauf geachtet hast, dich nicht blicken zu lassen, wenn viel los war. Soll ja niemand mitbekommen, wie oft du hier bist. Jemand brüllt rum, und jemand weint, und du bahnst dir immer noch deinen Weg durch die Menge, als ein Krankenwagen eintrifft. Du weißt noch nicht, was passiert ist, aber die Leute reden drüber. Ein kleiner Junge ist auf die Straße gerannt, ein Auto hat ihn erwischt. Duke. Ein Teil von dir will die Leute zur Seite schubsen und nach oben zu dem Jungen rennen und versuchen zu helfen, selbst wenn es zu … Ihn zumindest ein letztes Mal trösten. Aber der andere Teil von dir weiß, wer du bist und wo du bist und dass das nicht geht. Du stehst einfach nur da und wartest und lauschst der Menge, und dann hörst du sie schreien, wie du noch nie jemanden schreien gehört hast, noch nicht einmal, als du Eltern im Dienst schlechte Nachrichten überbringen musstest. Du stehst einfach nur …«
Dunlow schüttelte den Kopf. Seine Augen waren rot und glasig, und er versuchte sich abzulenken, indem er sich einen neuen Drink einschenkte. Die Hälfte davon ging daneben, lief über den Tisch. Den Rest, der es ins Glas geschafft hatte, kippte er sofort hinunter.
Rake überlegte, ob Dunlows Schweigen sich irgendwann in Schlaf verwandeln würde, wenn er nur lange genug so dasaß. Doch Rakes Manieren setzten sich durch, und er sagte: »Das tut mir leid, Dunlow.«
»Auf dein verdammtes Mitleid kann ich verzichten, darum geht es hier nicht. Das ist deine Lektion, Junge, genau wie es meine war. Mütter, die den ganzen Tag saufen, während ihre Kleinkinder auf die Straße laufen? Frauen, die ihre Körper verkaufen? All die unbeschwerte Musik, das Feiern und Rumvögeln, während die braven weißen Bürger sich den Arsch abarbeiten, um dieses Land wieder zusammenzuflicken nach der Wirtschaftskrise und dann auch noch nach dem Krieg? Ich hab mir eingeredet, dass sie genauso anständig sind wie wir, und dann hat mich das Leben eines Besseren belehrt. Mach auf keinen Fall denselben Fehler. Verbünde dich nicht mit diesen Nigger-Cops. Das sind keine Cops. Wenn wir die noch länger mit Waffen rumlaufen lassen, geht die Stadt in Flammen auf.« Mit der Hand, die nicht die Waffe umklammerte, haute er auf den Tisch. »Wir sind die letzte Verteidigungslinie. Einen haben Boggs und Smith schon auf dem Gewissen, soweit wir wissen, und die führen ganz bestimmt noch Schlimmeres im Schilde. Die fühlen sich doch bestätigt. Wenn die merken, dass sie einen Nigger erledigen können und damit durchkommen, dann ist als Nächstes ein Weißer dran. Wollen Sie das, Officer Rakestraw? Können Sie damit leben?«
Rake ließ ein paar Sekunden verstreichen, in der Hoffnung, dass sein Widersacher sich ein wenig beruhigte. Dann fragte er ihn: »Und wie soll das enden, Dunlow? Erschießt du mich jetzt, weil ich nicht deiner Meinung bin? Ermittelst du weiter gegen Boggs und Smith, obwohl du deine angeblichen Beweise schon der Mordkommission gegeben hast und wir seitdem nichts mehr darüber gehört haben? Oder willst du Boggs und Smith selbst jagen, vielleicht mit einer Kapuze über dem Kopf, denn wen im Department könnte das schon jucken, wenn zwei Polizeibeamte getötet werden?«
»Das sind keine Polizeibeamten.«
»Es gab eine Zeit, in der ich sogar wollte, dass du irgendwas unglaublich Dämliches tust, damit sie dich feuern oder hinter Gitter bringen. Aber ich möchte nicht mitverantwortlich für Boggs’ oder Smiths Tod sein oder für den des Negro am Ende der Straße. Ich hab meine Meinung geändert und wünsche mir jetzt aufrichtig, dass du nichts derart Bescheuertes tust.«
»Mach dir nicht zu viel Hoffnung.«
»Wer hat Lily Ellsworth ermordet?«
»Was?« Der Themenwechsel schien Dunlow zu verwirren.
»Wer hat sie umgebracht, wenn nicht dein Kumpel Underhill?«
»Was zum Teufel weiß denn ich. Er sagte, er kriegt Geld, um eine Leiche zu beseitigen, nicht, um jemanden zu ermorden.«
»Aber sie war am Leben und saß in seinem Auto, als Boggs und Smith ihn in jener Nacht angehalten haben. Jemanden beseitigen, der noch am Leben ist, geht nicht als Beihilfe durch, das ist Mord.«
»Warum sollte er mich deswegen anlügen? Gibt keinen Grund.«
»Du bist ein Cop und sagst, jemand hat keinen Grund, dich wegen eines Mordes anzulügen?«
»Du hast das Thema gewechselt. So besoffen bin ich noch nicht, dass ich das nicht merke. Was zur Hölle ist eigentlich mit deinem Finger passiert?«
»Eine Wand kam mir blöd, da ist mir die Hand ausgerutscht.«
»Dann wär nicht nur ein Finger in Gips.«
So sprach ein Mann, der gegen so manche Wand gedroschen hatte.
»Mir brennt gleich die Frisur, so gottverdammt heiß ist es hier drin. Ich hab gehört, was du zu sagen hast, und danke, dass du mir euren Familienschatz gezeigt hast.« Rake nickte in Richtung des Zehs. »Aber jetzt stehe ich auf und gehe heim zu meiner Frau und den Kindern. Kann wohl nur hoffen, dass du mir nicht in den Rücken schießt.«
Und damit stand Rake auf. Er hatte sich eingeredet, dass das Risiko überschaubar war. Hatte sich eingeredet, dass Dunlow ihn auf eine gewisse Weise schätzte, in ihm tatsächlich sein jüngeres Ich sah, dass er wie ein Vater das Bedürfnis verspürte, die Scheiße aus seinem jüngeren Ich herauszuprügeln, und nicht das Bedürfnis, aus diesem Schuppen hier einen Tatort zu machen. Rake war immer noch erschüttert von Dunlows Geschichte, aber er merkte jetzt auch, dass sein Partner noch ärmer dran war, als er ohnehin schon gedacht hatte, und er sagte sich, dass das ein Zeichen von Schwäche war und er deshalb gefahrlos aufstehen, sich umdrehen und langsam aus dem Schuppen gehen konnte. Er ging einfach davon aus, dass diese simple Handlung sich nicht als schwerer Fehler herausstellte.
Mit einer Hand auf dem Türknauf drehte er sich ein letztes Mal zu Dunlow um.
Dunlow saß immer noch da, doch jetzt hatte er den Arm mit der Waffe ausgestreckt, und die Mündung zielte auf Rakes Kopf.
Bang.