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»JEDES MAL, WENN wir versucht haben, dieser Familie zu helfen, haben wir es nur noch schlimmer gemacht.« Boggs hoffte, Smith würde ihm widersprechen, doch sein Partner blieb stumm.

»Ich hätte den Mord nie in die Zeitung setzen sollen. Ich hätte die Familie da draußen in Ruhe lassen sollen, hätte sie im Dunkeln darüber lassen sollen, was ihr zugestoßen ist. Sie hätten angenommen, dass sie abgehauen ist, einen netten Lehrer geheiratet hat und sie verleugnet. Mit dem Geld hätten sie nach Norden ziehen können. Die Cops hätten nicht nach ihnen gesucht.«

Warum taten sie das alles? Warum hielten sie die Fassade von »Negro-Polizisten« noch aufrecht? Sie konnten doch eh nichts bewirken. Es war ihnen gar nicht gestattet, die großen Probleme anzugehen, und wenn sie es versuchten, verursachten sie nur noch viel größere Katastrophen.

»Das ist es nicht wert«, beschloss Boggs, als er vor Smiths Haus hielt. Es war so viel passiert, seit er ihn heute Morgen abgeholt hatte, unfassbar, dass noch nicht mal die Sonne untergegangen war.

»Wir versuchen morgen noch mal, sie zu erreichen. Vielleicht können wir etwas für sie tun«, sagte Smith.

»Falls sie noch am Leben sind.« Boggs schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wäre eher dahintergekommen. Dann hätte ich schon früher gewusst, dass ich mich raushalten muss.« Stattdessen hatte er die Genugtuung gebraucht, den Fall zu lösen, den Helden zu spielen. Sein Hochmut hatte bereits eine Familie zerstört, was würde er als Nächstes zerstören?

»Geh einfach nach Hause. Schlaf dich aus. Morgen sehen die Dinge nicht mehr ganz so schlimm aus.« Smith klang nicht so, als schenkte er seinen eigenen Worten Glauben.

*

Zu Hause lag eine Notiz von seinem Vater mit dem Hinweis, dass er und Lucius’ Mutter an einem Leichenschmaus ein paar Blocks weiter teilnähmen. Wenigstens das klappte, denn Lucius wollte dringend allein sein.

Eine ganze Weile saß er im Salon. Er hatte keine der Lampen angeknipst, und nachdem die Dämmerung vorüber war, saß er im Dunkeln. Er lief in die Küche, nahm den Hörer ab und rief Rake an.

»Ich weiß, warum Lily Ellsworth ermordet wurde.«

»Ich höre.« Ein Baby schrie im Hintergrund, und es klang, als wechsle Rake den Raum.

»Sie war Prescotts Tochter.«

»Was? Wer sagt das?«

»Einer ihrer Brüder hat behauptet, ihre Mutter hätte es Lily vor ein paar Monaten erzählt. Lily und ihre Brüder wussten immer, dass sie einen anderen Vater hatte, und sie war ja auch viel hellhäutiger als ihre Geschwister. Sie haben sich immer gefragt, ob ihr Vater weiß war. Zogen sie oft damit auf. Eines Tages hat Emma Mae Lily die Geschichte erzählt: Mit fünfzehn zog Emma Mae mit ihrer Familie in die Stadt. Ein paar Jahre später arbeitete sie als Dienstmädchen für die Prescotts. Das war damals in den Zwanzigern. Der Hausherr, der Vater des Kongressabgeordneten Prescott, war damals Senator des Bundesstaates. Billy Prescott selbst war noch ein junger Mann, hat Jura studiert. Eines Tages hat er sich an Emma Mae vergriffen.«

»Jesus Christus.«

»Laut Lilys Bruder hat ihre Mutter allerdings nicht erzählt, wie es dazu kam. Doch angeblich hat sie bald darauf aufgehört, für die Familie zu arbeiten, und als ihre Eltern bemerkten, dass sie schwanger war, haben sie die Stadt wieder verlassen. Deshalb wollte sie auch nicht, dass ihre eigene Tochter dahinzog. Schlechte Erinnerungen.«

»Also hat Lily einfach so für dieselbe Familie gearbeitet? Warum? Weil sie ihren Vater damit konfrontieren wollte? Ihn erpressen?«

»Vielleicht hat sie tatsächlich die Familie erpresst und ist so an das Geld gekommen. Vielleicht wollte sie den Mann aber auch einfach nur kennenlernen, wollte ihrem Daddy in die Augen schauen. Vielleicht ging’s ihr überhaupt nicht ums Geld, aber sobald er sie erkannt hat, hat er Panik gekriegt und ihr Schweigegeld angeboten. Und sie war zu benommen, um Nein zu sagen.«

Ein paar Takte Schweigen. »Wie hätte sie den Kongressabgeordneten zur Rede stellen können?«, fragte Rake. »Ich dachte, der war die ganze Zeit in Washington, während sie in Atlanta war.«

»Ich war neulich mal eine Weile in der Bibliothek. Ein paar Tage lang eigentlich, und ich hab schließlich einen kurzen Text in der Constitution gefunden, in dem steht, dass Prescott Ende Mai in der Stadt war, um den Memorial Day herum. War wohl bei einer Gala in Downtown, um die Toten aus dem Bürgerkrieg zu ehren. Zwei Tage später ist er wieder abgereist.«

»Und etwa zwei Wochen später haben sie Lily zu Mama Dove’s gebracht.«

»Richtig.«

»Prescotts Sohn hat mich angelogen«, sagte Rake. »Er hat behauptet, sie hätte sie beklaut und sie hätten sie nicht angezeigt, sondern stattdessen gefeuert.«

Dann erzählte ihm Rake, was er über die Rust Division herausgefunden hatte.

Boggs versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Vielleicht wollte Lily Prescott erpressen, hatte ihm gedroht, seine Vaterschaft publik zu machen. Also hat er sie bezahlt, daher das Geld, daher die Lüge seines Sohns gegenüber Rake, dass Lily sie bestohlen habe. Vielleicht hatte Prescott sie nicht umgebracht und auch nicht Underhill um Hilfe gebeten. Vielleicht war es einer von Prescotts politischen Verbündeten gewesen. Womöglich hatte Prescott noch jemand anderem von seiner unehelichen Tochter erzählt. Vielleicht hatte Prescott seine harte Linie gegenüber den Negroes vor allem wegen Lily aufgegeben, weil sie ihn an Emma Mae Ellsworth erinnerte. Vielleicht war sein Verhältnis mit Emma Mae mehr als nur eine Affäre gewesen. Er hatte alle Beweise dafür verschwinden lassen, aber sie waren wieder aufgetaucht und ihm war klargeworden, dass die beiden Rassen doch nicht so verschieden waren, wie die meisten glauben wollten.

»Wir nehmen an, dass auch der Sohn Bescheid weiß«, sagte Rake. »Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hat er es ihm nie gesagt, wollte nicht, dass er von seiner farbigen Halbschwester erfährt. Kann ein Familiengeheimnis sein, das nur der Kongressabgeordnete selbst kennt.«

Sekundenlanges Schweigen in der Leitung.

»Doch wenn die ihr Geld gegeben haben, warum sie dann auch noch umbringen?«

*

Keine zwei Minuten nachdem er aufgelegt hatte, saß er am Tisch und hörte Schritte. Seine Mutter kam aus dem Flur ins Zimmer.

»Wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Sie war groß, nur wenige Zentimeter kleiner als er. Ihr geglättetes Haar berührte ihre Schultern. Mit den Jahren wurde sie immer schmächtiger, beinahe proportional zum zunehmenden Gewicht seines Vaters.

»Ich wusste gar nicht, dass du zu Hause bist.« Er wollte sie fragen, wie viel sie mit angehört hatte, traute sich aber nicht. Etwas in ihrem Blick sagte ihm, dass sie so einiges gehört hatte. Teil der Stellenbeschreibung einer Pastorengattin lautete, nicht zu lauschen, sondern unauffällig zuzuhören und die gewonnenen Informationen möglichst diskret ins Handeln einfließen zu lassen.

Sie setzte sich ihm gegenüber und beobachtete ihn einen Moment lang. Ihr Gesicht zeigte kaum Regung.

»Geht es dir gut?«, fragte sie.

»Eigentlich nicht.« Ihm fiel auf, dass das Licht aus war und dass es seiner Mutter komisch vorkommen musste, wenn er im Dunkeln saß. Doch auch sie hatte das Licht nicht eingeschaltet. »War ein langer Tag.«

»War das nicht dein freier Tag?«

»Ich habe nicht gerade das Beste draus gemacht.«

Sie trug ein schlichtes Hauskleid und kein Make-up. So zeigte sie sich nur, wenn es so spät war, dass sicher kein Besuch mehr kommen würde. Keine Sünder, keine Trauernden, niemand, der die Hilfe Gottes brauchte oder einfach nur ein Abendessen.

»Leg dich doch hin.«

»Hast du gedacht, ich mache einen Fehler, als ich zur Polizei gegangen bin?«

»Natürlich nicht.«

»Du hattest aber diesen Gesichtsausdruck, als ich es dir erzählt hab.«

»Ich war überrascht. Du … dir schien es in der Armee nicht gefallen zu haben.«

»Ich hab die Armee gehasst.«

»Und ich dachte, bei der Polizei ist es nicht anders.«

»Es ist anders. In mancher Hinsicht besser, in anderer grässlich.«

»Ich kann dir versichern, die Leute sind froh, dass du da draußen bist, Lucius. Das sagen sie uns die ganze Zeit.«

Es tat ihm tief in der Kehle weh, als er merkte, wie sehr er so etwas hören wollte.

»Tatsächlich? Ich höre immer nur Beschwerden. Hey, warum hast du den Billardsalon meines Bruders dichtgemacht? Warum hast du meinen Cousin verhaftet? Warum hältst du uns die weißen Cops nicht vom Hals?«

»Du warst schon immer jemand, der sich auf das Negative konzentriert. Oder die Leute wollen mir eben nur Gutes über dich erzählen. Mr. Thompkins hat gesagt, letzten Sommer wurde viermal bei ihm eingebrochen, diesen kein einziges Mal. Mr. Ruffin sprach von etlichen Messerstechereien in seinem Club im letzten Jahr, aber von keiner einzigen in diesem Jahr, und die Schmuggler schaden seinem Geschäft auch nicht mehr in dem Maße. Schuldirektor Jones hat mir erst letzte Woche erzählt, dass sieben Kinder in seiner Grundschulklasse Aufsätze darüber verfasst haben, dass sie später mal zur Polizei wollen.«

Lucius nickte. Der Knoten im Hals wurde schlimmer. Sie bemerkte es und hörte auf zu reden, ging hinüber zum Tresen, um ihm ein Glas Wasser einzugießen. Sie reichte es ihm. »Du musst das nicht mehr machen, wenn du nicht willst.« Wusste sie, dass er darüber nachdachte, zu kündigen? War das so offensichtlich? »Aber ich denke, du bewirkst mehr Gutes, als dir bewusst ist.«

Er trank das Wasser, spülte das Gefühl der Enge hinunter.

»Die Narbe gefällt mir übrigens immer besser.«

Er lachte. »Danke.«

»Bin mir sicher, dass die Mädchen darauf stehen.«

»Die Erfahrung hab ich bisher noch nicht gemacht.«

Dann klingelte das Telefon. Sie wollte abheben, aber er bat sie, ihn rangehen zu lassen, als hätte er es gewusst.

Eine Frau in der Leitung fragte: »Spreche ich mit Officer Lucius Boggs?«

Er erkannte ihre Stimme und die spöttische Art, mit der sie das fragte.

»Ja, der ist dran, Miss Cannon.« Und schon fühlte er sich ein wenig besser. »Was kann ich für Sie tun?«

»Sie haben mir gesagt, ich kann Sie anrufen, falls mir noch was einfällt oder ich etwas sehe«, sagte Julie. »Nun, das was ich nicht gesehen habe, ist vielleicht sogar interessanter.«

*

Eine Stunde später lief Lucius an seinem freien Abend durch die Straßen, für deren Schutz er sich nicht mehr geeignet hielt. Es fühlte sich seltsam an ohne seine Uniform, ohne seinen Partner. Er wollte den Kopf freibekommen, doch es passierte genau das Gegenteil. Der nächtliche Spaziergang durch dieses Viertel würde nie wieder derselbe sein wie früher, und selbst wenn er jetzt seine Marke abgab, war sein altes Gefühl für Atlanta dahin. Die jüngsten Erfahrungen hatten all seine Erinnerungen beeinflusst, und auch eine mögliche Zukunft würde zumindest Spuren dieser letzten paar Monate in sich tragen.

Außer er verließ Atlanta.

Der Gedanke erschien ihm unerhört. Die Stadt verlassen. Die Familie verlassen. Seinen Freundeskreis verlassen. Den Süden verlassen. Seine Wurzeln hinter sich lassen. Seine Großmutter und ihre Eltern, die in Sklaverei geboren worden waren, hinter sich lassen. Die Sklaverei hinter sich lassen und den Bürgerkrieg. Alles hinter sich lassen außer der Zukunft. Er hatte gehofft, mit diesem Job könnte er seinem Volk helfen, könnte helfen, den schweren Felsbrocken namens »Fortschritt« den Berg hinaufzuwälzen. Doch vielleicht lag er falsch, und Onkel Percy hatte recht. Vielleicht machte er sich etwas vor und war nur ein Negro, der es sich hier bequem gemacht hatte, statt an einen besseren Ort zu ziehen. Jeden Tag taten es Tausende von Negroes aus dem Süden. Warum nicht er? Er hatte sich für einen anderen Kampf entschieden, einen anderen Weg vorwärts, doch der hatte verdammt noch mal ins Nichts geführt. Hier blieben sie doch nur Nigger. Hier lebte er nicht in Sweet Auburn, sondern in Darktown. Hier klammerte er sich an das denkbar mieseste Blatt in der Hoffnung, dass die nächste Karte es in einen Royal Flush verwandelte. Doch sein Blatt sprach eine ganz andere Sprache, und es lag keine Trumpfkarte ganz oben auf dem Stapel. Und selbst wenn, würde sie ihm jemand anderes wegschnappen, die Hand eines Weißen, und Lucius machte sich zum Idioten, weil er dennoch weiterspielte.

Es gab so einige Personen, mit denen er gesprochen hatte, die offensichtlich mehr wussten, als sie zugeben wollten, aber nur bei einer sah er noch eine echte Chance.

*

»Predigersohn.« Mama Dove wirkte nicht überrascht, ihn zu sehen. »Aber ohne Uniform. Endlich Lust, den Gürtel zu lockern?«

Er kam ihr ziemlich nahe, während sie im ohnehin engen Foyer standen.

»Zeit, sich für eine Seite zu entscheiden, Ma’am. Wenn Sie es wirklich wollen, wenn Sie es wirklich für klug halten, dann sollten Sie jetzt beim Department anrufen und mich für den Besuch eines Freudenhauses von einem weißen Cop verhaften lassen. Ich wäre erledigt und damit auch die farbigen Cops. Und ich weiß, dass Ihnen das gefallen würde. Sie halten unser Schicksal in Ihrer Hand.«

»Wie aufregend. Also warum sollte ich es nicht tun? Und warum bieten Sie sich dafür an?«

»Ich weiß, dass Lily Ellsworth die Tochter vom Kongressabgeordneten Prescott war. Ich vermute, die haben ihr Schweigegeld bezahlt, aber ein paar Tage später haben die sie hierhergeschickt. Warum hierher? Sie war keine Hure. Ich habe mit genug Leuten gesprochen, die sie kannten, und es kann nicht sein, dass sie plötzlich ihren Körper verkaufen wollte, kurz nachdem sie im Haus eines Kongressabgeordneten angestellt war. Ich vermute, Sie sollten auf sie aufpassen oder so was. Haben aber keinen besonders guten Job gemacht.«

»Eine faszinierende Geschichte.«

»Wen auch immer Sie schützen wollen, die verdienen keinen Schutz. Und wer auch immer Sie zur Rechenschaft ziehen will, wenn Sie mit mir reden – vor denen kann ich Sie beschützen.«

Sie lachte. »Junge, mit dem ersten Satz hast du mich gehabt, aber du hättest aufhören sollen, solange es gut lief. Der zweite Satz? Das glaub ich dir keine Sekunde. Und du doch auch nicht.«

Sie hatte recht, also machte er weiter: »Die haben Underhill geschickt, weil sie keine echten Cops wollten. Aus demselben Grund wollten sie nicht, dass Lily in ein echtes Gefängnis kommt, und deshalb haben die sie hierhergeschickt.« Er wünschte, er hätte eine genauere Vorstellung davon, wer die waren. Vielleicht die Prescotts, oder könnte es auch ein Konkurrent oder gar ein Gönner des Kongressabgeordneten gewesen sein? Hatte überhaupt irgendjemand Beweise? »Die wollten keine Öffentlichkeit, wollten niemanden darin verwickeln, der möglicherweise auspackt. Und eine farbige madam, deren Existenz auf Schmiergeldern an die Cops basiert, ist eine, die ein Geheimnis für sich behalten kann.«

»Darin bin ich ziemlich gut.«

»Schließlich kommt also Underhill, um sie mitzunehmen. Hat man Ihnen wahrscheinlich erzählt. Aber dann bringt er sie stattdessen um. Und dann bringt jemand von der Rust Division – oder eher noch einer von den ranghöheren Cops, die die Rust Division befehligen – ihn um, um die Spuren zu verwischen. Weil die wussten, dass wir an Underhill dran sind. Und Sie haben nicht im Ansatz ein schlechtes Gewissen deswegen?«

Der spöttische Blick war verschwunden, und sie hatte ihre Arme verschränkt.

»Ich möchte, dass du zwei Dinge weißt, Predigersohn. Die eine Sache ist, dass ich mich schon bei deinem ersten Besuch entschlossen hab, dir davon zu erzählen, also glaub bloß nicht, dass du mich überredet hast oder mich mit deinem vielen Gequatsche überzeugen konntest, kapiert?«

»Ja, Ma’am.«

Dann erzählte sie ihm die zweite Sache.

*

Einen Block entfernt schmiss Lucius Geld in ein Münztelefon und wählte Rakes Nummer.

»Sei zu Hause, sei wach, sei zu Hause«, murmelte Lucius.

Rake war zu Hause. Lucius berichtete ihm, was Mama Dove gesagt hatte, und sie überlegten, was zu tun sei. Zu Lucius’ großer Überraschung war Rake bereit, ein Risiko einzugehen.

»Ich kann dich dort treffen«, sagte Lucius.

»Nein, nein. Keine gute Idee. Tut mir leid, aber …«

»Nur für Weiße.«

»Tut mir leid. Du hast deinen Job gemacht. Und wie, verdammt noch mal. Jetzt muss ich meinen machen.«

*

Dunlow traute seinen Augen nicht. Länger als eine Stunde fuhr er jetzt schon in dem Viertel herum, das ihm so vertraut war. Er hatte bei ein paar Informanten vorbeigeschaut und sie gefragt, ob sie den Mann gesehen hätten, hatte sich ein bisschen illegalen Schnaps besorgt, sobald er merkte, dass seine Flasche fast leer war, doch er blieb auf der Jagd. Der Alkohol und die immergleichen Wege ermüdeten ihn. Er war beinahe an dem Punkt, an dem er das Ganze lieber auf einen anderen Tag verschieben oder gleich in Boggs’ Haus einbrechen und ihm dort auflauern wollte, aber wer trat gerade etwa fünfzig Meter weiter auf die Straße?

Danke, Jesus, dass du mich nicht vergessen hast.

Er war einen Block von Mama Dove’s entfernt, und der Mann, den er suchte, spazierte einfach so völlig sorglos durch die Gegend.

Dunlow stieg aufs Gas.

*

Als Boggs schon fast die Straße überquert hatte, hörte er ein Auto auf sich zudonnern.

Daran war er mittlerweile gewöhnt, aber dieses Mal handelte es sich zu seinem Erstaunen nicht um einen Streifenwagen. Er selbst trug auch keine Uniform, diesmal war es offenbar anders als sonst. Dieses Mal hatte es der Fahrer auf ihn persönlich abgesehen. Der Wagen fuhr unter einer Straßenlaterne hindurch, und er sah eine weiße Hand aus dem Fahrerfenster baumeln. Irgendwie ahnte er, wer am Steuer saß.

Boggs stand immer noch auf der Straße. Wäre seine Wut greifbar gewesen, hätte er den Wagen damit in zwei Hälften gespalten. Hätte sich sein Zorn in feste Masse verwandelt, wäre er zu gewaltig und undurchdringlich für den Ford gewesen.

Doch so funktionierten die Dinge nicht.

Solange es ging, blieb er stehen, dann sprang er nach rechts auf den einigermaßen sicheren Gehweg, bevor der Wagen ihn überfahren konnte.

Er erwischte ihn trotzdem. Irgendwie. Boggs merkte noch, wie die Luft aus seinem Körper entwich und sein Körper zugleich in die Luft entwich. Und dass er nach mindestens einer Umdrehung hart auf der Seite landete. Er hörte, wie der Wagen hielt, aber kein Öffnen der Tür. Sie stand bereits offen.

*

Dieser verdammte gerissene Nigger war beinahe rechtzeitig aus dem Weg gesprungen, aber Dunlow hatte damit gerechnet und mit der Hand die Tür aufgerissen, während er sich mit dem linken Fuß abstützte. Die Tür hatte Boggs mit ausreichend Wucht erwischt, um ihn in die Luft zu befördern.

Dunlow hielt an und stieg aus. Boggs lag auf dem Boden. Nichts an ihm sah gebrochen oder verbogen aus. Noch nicht. Der farbige Cop versuchte, auf die Beine zu kommen, aber sein Körper reagierte nicht so schnell, wie er es wohl gern gehabt hätte.

Eine Flasche befand sich in Dunlows Hand, und er schwang sie gegen Boggs’ dicken Schädel. Die Flasche brach – Boggs’ Schädel vermutlich auch –, denn er lag jetzt flach auf dem Boden, die Augen geschlossen. Er durchsuchte Boggs in der Annahme, dass der Mann wenigstens ein Messer bei sich führte, doch er war sauber. Was für ein Trottel. Er griff sich Boggs’ Füße und zog ihn zum Ford. Der Schlüssel steckte noch in der Zündung, also musste Dunlow den Körper auf der Straße liegen lassen, um ihn zu holen. Ein Auto fuhr in Gegenrichtung an ihm vorbei, doch Dunlow warf ihm einen langen und intensiven Blick zu. Der Wagen hielt nicht an.

Er öffnete den Kofferraum und hob Boggs hoch, überall fielen Glassplitter zu Boden. Er warf ihn in den Kofferraum und schlug den Deckel zu. Als er zur Vorderseite des Wagens zurückging, sah er einen alten schwarzen Mann am Eingang eines Schuhgeschäfts stehen. Es brannte kein Licht mehr, er musste der Besitzer sein, der auf dem Weg nach Hause war, nachdem er den Laden sauber gemacht hatte. Der Negro war groß gewachsen und hager, sein Haar überwiegend weiß, seine Augen weit geöffnet, doch sie verengten sich schnell, als er merkte, dass er beim Zuschauen ertappt worden war.

»Schaff deinen schwarzen Arsch nach Hause, Onkel, und zwar schnell.«

Der Schuster murmelte ein leises »Ja, Sir« und zog den Kopf ein, als er davoneilte. Dunlow lächelte, stieg wieder ein und gab Gas.