36

ZWÖLF STUNDEN NACHDEM Silas Prescott die Welt der Sterblichen verlassen hatte, saß Rake im selben Befragungszimmer, das er bei seinem ersten Besuch im Polizeihauptquartier betreten hatte.

Kurz nach Prescotts Selbstmord hatte Rake zu Hause angerufen. Als er hörte, wie Cassie im Halbschlaf den Telefonhörer abnahm, legte er wieder auf. Die nächsten zehn Minuten verbrachte er mit der Reinigung des Badezimmers, um den Geruch nach Erbrochenem zu vertreiben. Er benutzte dabei ausschließlich Seife und Wasser statt stärkerer Chemikalien, von denen die Cops auf eine Manipulation des Tatorts hätten schließen können. Nachdem er die längsten zehn Minuten seines Lebens gewartet hatte, rief er im Hauptquartier an.

Seine zugegebenermaßen etwas weit hergeholte Version gegenüber dem Notarzt und den eintreffenden Polizisten lautete, dass Prescott ihn überraschend zu Hause angerufen und ihn dringend habe sprechen wollen. Also war Rake pflichtbewusst dort aufgetaucht, war Zeuge eines schockierenden Geständnisses geworden, und bevor Rake das überhaupt mental verarbeiten konnte, hatte sich Prescott auch schon erschossen.

»Warum zum Teufel hat Prescott ausgerechnet Sie angerufen?«, hatte Rakes Vorgesetzter Sergeant Yale wissen wollen. Rake hatte darauf beharrt, nicht die geringste Ahnung zu haben.

Kurz nachdem die ersten Cops vor Ort gewesen waren, um Fotos zu schießen und Beweismaterial sicherzustellen, waren zwei Männer aufgetaucht, mit denen Rake gerechnet hatte: die Detectives Clayton und Sharpe, die Otis Ellsworth mit so lüsterner Brutalität verhört hatten.

Eine Stunde später nahm Yale Rake mit zur Polizeistation.

»Wenn es etwas gibt, das Sie mir sagen wollen, dann sagen Sie mir es verdammt noch mal besser jetzt, denn sobald wir zurück auf der Station sind, wechseln wir beide kein Sterbenswörtchen mehr. Da wird sich eine lange Schlange von Leuten bilden, die Sie in die Mangel nehmen wollen.«

Selbst nach einem halben Jahr Dienst unter Yale konnte Rake immer noch schlecht einschätzen, inwieweit er dem Mann vertrauen konnte.

»Mir fällt nichts ein, Sir.«

Rakes Finger hatten gezittert, als er das Bad gereinigt hatte, doch kurz vor dem Anruf hatten sich seine Nerven beruhigt. Er war sich nicht sicher, ob sein Selbstvertrauen nur einem Wahn entsprang. Vielleicht litt er unter einer sonderbaren, adrenalinbedingten Art von Selbstüberschätzung, aber solange er noch ein paar Asse im Ärmel hatte, würde er nicht weinend vor dem Sergeant auf die Knie fallen.

Im Verhörraum wiederholte er seine Geschichte zum Mitschreiben gegenüber Yales Vorgesetztem. Zwei Mal. Und ein drittes Mal. Warum hat Prescott ausgerechnet Sie angerufen? Haben Sie je zuvor mit ihm gesprochen? Woher hatte er überhaupt Ihre Nummer oder wusste, wer Sie sind? Er musste Prescotts Geständnis haarklein wiedergeben. Immer und immer wieder, vorwärts und rückwärts, mit und ohne Adjektive.

Dann erfolgte eine lange Phase des Wartens in dem ansonsten leeren Raum. Es war vermutlich nach Mitternacht, als Sharpe und Clayton ihn betraten. Clayton war ein ehemaliger Football-Spieler der Bulldogs, der Hardliner, der Ellsworth seine Fäuste hatte spüren lassen. Sharpe war älter, hatte dünnes graues Haar und eine Vorliebe für Anzüge, die etwas zu teuer für ein Polizistengehalt zu sein schienen.

»Was für eine Nacht, Officer Rakestraw«, sagte Sharpe.

Rake saß auf einem Stuhl an einem kleinen Tisch. Clayton stand ihm direkt gegenüber, während Sharpe seitlich von ihm stand, sehr nahe, in Schlagdistanz.

Rake blickte sie nur an, wartete auf eine Frage. Es war ihm nicht entgangen, dass dieser Raum über kein Observationsfenster verfügte.

»Warum fangen wir nicht ganz am Anfang an?«, sagte Sharpe. »Fangen wir damit an, was Mr. Prescott zu Ihnen gesagt hat, als er Sie angeblich zu Hause angerufen hat und Sie den Hörer abgenommen haben.«

Rake rieb sich das Kinn. Es kratzte, eine Rasur war fällig. Dann fragte er: »Wer von euch hat Underhill erschossen?«

»Wie bitte?«

»Underhill. In der Nacht beim Stahlwerk. Das Warum ist mir noch nicht ganz klar, aber es kann eigentlich nur zwei Gründe geben. Entweder kam er zu euch und wollte mehr Geld, weil er begriffen hatte, wie wichtig das Mädchen war. Als er sie aus der Stadt schaffen sollte, wusste er ja noch nicht, dass sie etwas mit dem Kongressabgeordneten zu tun hatte. Im Auto hat sie dann aufgemuckt, er hat sie geschlagen, und sie ist davongerannt. Dann stöbert der kleine Prescott sie auf, dreht durch und erschießt sie. Und als Underhill sie findet, hat er es plötzlich mit einer Leiche zu tun. Er wird sie los, stellt sich nicht besonders geschickt dabei an, und jetzt, da er weiß, wie betucht die Leute sind, denen er einen Gefallen tut, will er mehr als die vereinbarte Summe herausschlagen. Und ihr beschließt, dass er zu viel Ärger macht. – Oder«, fuhr er fort, »euch ist vielleicht aufgefallen, dass ich ihm dicht auf den Fersen war, und ihr wolltet die Spuren beseitigen. Also, was von beidem war’s? Und wer von euch hat abgedrückt?«

Sharpe lächelte. Allerdings erst jetzt. Während Rakes Monolog waren ihre Blicke kalt und angespannt geblieben.

»Ich fürchte, der Stress heute Nacht war etwas zu viel für Sie, Officer Rakestraw.«

»Der bringt Sie auf ganz dumme Gedanken«, ergänzte Clayton und verschränkte demonstrativ seine massiven Arme vor der Brust.

Rake trug keine Handschellen. Er rutschte ein Stück mit dem Stuhl zurück, um gleich etwas mehr Spielraum zu haben.

»Clayton, Sie können Ihre Arme verschränken, wie Sie wollen, aber wenn Sie auch nur dran denken, mir eine reinzuhauen wie dem Negro neulich, dann darf Ihr Partner Ihre Zähne als Souvenir behalten.«

Sharpe lachte. »Du denkst, du hast einen Trumpf in der Hand, oder? Dich sperren sie wegen Mordes ein.«

»Menschen, die man wegen Mordes einsperrt, haben die Angewohnheit, eine Menge zu reden. Beim Prozess können die gar nicht mehr aufhören. Die sagen jede Menge Dinge, die manche Leute so gar nicht hören wollen«, sagte Rake.

Clayton schlug zu. Er traf Rake am Wangenknochen. Die Tatsache, dass Rake damit gerechnet hatte, bedeutete nicht, dass der Schlag nicht wehtat. Aber es bedeutete auch, dass er die Wucht des Schlags ausnutzte, indem er mit dem Arsch vom Stuhl rutschte und mit dem rechten Knie auf dem Boden aufkam, was ihm beim Aufstehen den nötigen Schwung verlieh, um den Tisch hochzuheben und ihn als Rammbock gegen Clayton einzusetzen, den er wie ein Linebacker tackelte. Er rammte Clayton mit dem Tisch gegen die Wand, und Rake hörte, wie der Atem aus dem Detective entwich. Dann ließ er den Tisch fallen und verpasste dem Bastard einen Hieb auf die Nase, einen zweiten und einen dritten, und jedes Mal hämmerte er dabei den Schädel des Mannes gegen die Wand, bis seine Hand nass von dessen Blut war.

Rake holte zum nächsten Schlag aus, als ihn etwas oder jemand traf und er zu Boden ging. Er versuchte aufzustehen, doch er sah nur einen Haufen Schuhe näherkommen. Manche rannten, manche holten zum Tritt aus.

*

Einen unbestimmten Zeitraum später saß Rake immer noch im selben Zimmer. Jetzt trug er Handschellen, mit denen er an die Stuhlbeine hinter ihm gekettet war. Kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte, war ihm die größte Schwachstelle in seinem Plan klargeworden: Sie konnten ihn ja einfach umbringen und mussten dann seine Aussage nicht mehr fürchten. Noch war er am Leben, aber seine Lippe war aufgeplatzt und sein Auge zugeschwollen. Und egal, wie viele Zähne er Clayton ausgeschlagen hatte, er selbst hatte auch einen weniger.

Für ein Glas Wasser und eine Packung Aspirin hätte er jetzt töten können.

Er wusste immer noch nicht, wie viele Polizisten daran beteiligt gewesen waren, Lily Ellsworth aus dem Leben und aus dem Gedächtnis aller Lebenden zu entfernen. Wenn es tatsächlich so viele waren, wie er zu befürchten begann – vielleicht das gesamte Department –, dann hatte Sharpe recht: Er hatte keinen Trumpf mehr in der Hand. Oder handelte es sich nur um eine Handvoll korrupter Cops, die allerdings immer noch einflussreich genug waren, um die lästige Schmeißfliege Denny Rakestraw einfach so zu zerquetschen?

Die Tür ging auf und herein kam ein Cop in tadelloser Uniform. Er war breit und groß gewachsen, schon älter, doch im Gegensatz zu Dunlow hatte er sich gut in Form gehalten. Er brachte einen zentimeterdicken Aktenstapel mit. Einen Moment lang blickte er auf Rake hinunter, dann durch die offene Tür nach draußen und verlangte von jemandem namens Kenny einen zusätzlichen Stuhl. Der unsichtbare Kenny reichte ihm einen Stuhl, die Tür wurde geschlossen, und Chief Jenkins nahm Platz gegenüber dem aufsässigsten Polizisten der Stadt.

»Diskretion gehört nicht gerade zu Ihren Stärken, Officer Rakestraw.« Jenkins hatte blaue Augen und ein rötliches Gesicht, das viele Jahre in der Sonne zugebracht hatte. Die Augen wirkten immer noch jung, doch die Haut ringsum war von Falten durchzogen, die sich fast bis zum grauen Haaransatz erstreckten.

»Nein, Sir.« Das Sprechen tat weh. Er spannte seinen Bauch an und presste die Worte heraus. »Ich hielt es heute Nacht nicht für vorteilhaft, zu schweigen.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Schweigen tun nur Leute mit Dreck am Stecken. Sir.« Er holte Luft. Seine Rippen schienen nicht gebrochen zu sein, aber besonders glücklich wirkten sie auch nicht. »Die wollen keine Fragen, kein Geraune, niemanden, der sich einmischt. Jemand Lauten können die als Letztes gebrauchen.«

Jenkins musterte ihn.

»Ein Kongressabgeordneter der Vereinigten Staaten befindet sich gerade in einem Flugzeug auf dem Weg nach Atlanta«, sagte der Chief schließlich. »Wenn er landet, wird er wissen wollen, warum sein Sohn tot ist.« Er klappte eine seiner Akten auf und blätterte sie durch. Rake war nicht gut genug darin, auf dem Kopf stehende Buchstaben zu entziffern, um herauszufinden, was Jenkins sich da anschaute, dazu kam, dass er mit seinem »guten« Auge zunehmend verschwommen sah.

»Es ist keine besonders appetitliche Geschichte, Sir. Und den übelsten Teil hab ich mir für Sie aufgespart.«

Jenkins sah von den Unterlagen auf. »Wie meinen Sie das?«

Rake hatte auf die Tatsache gesetzt, dass der für Reformen offene Jenkins, der Jenkins, der damals die Cops im Lotterie-Skandal hatte verhaften lassen und der die Ku-Klux-Klan-Mitglieder aus der Gewerkschaft geworfen hatte, nicht gegen ihn Partei ergreifen würde, sobald er die ganze Geschichte hörte. Die Tatsache, dass der Chief höchstpersönlich hier saß, war ein gutes Zeichen.

Also berichtete er, wie er seinen eigenen Partner verdächtigt und deshalb auf eigene Faust gehandelt hatte. Er sagte ihm die Wahrheit darüber, wie er Silas Prescott vor ein paar Tagen befragt und wie er ihn heute Abend zur Rede gestellt hatte. Als Jenkins wissen wollte, woher Rake gewisse Dinge erfahren habe, verschwieg er seine Zusammenarbeit mit Boggs, aus Angst, ihn in die Angelegenheit hineinzuziehen. Stattdessen berief er sich auf Tipps von farbigen Informanten.

»Sie haben eine Menge falsch gemacht, Officer Rakestraw.«

»Das ist mir bewusst, Sir.«

»Und Sie halsen mir da ganz schön viel Mist auf.«

»Das tut mir leid, Sir. Aber so, wie ich das sehe, gibt es hier Cops, die Sie lieber nicht dahätten, und dann gibt es Cops, von denen Sie gerne mehr hätten. Ich gehöre zu Letzteren.«

»An Selbstvertrauen mangelt es Ihnen ja nicht.«

»Vielleicht hab ich auch einen Schlag zu viel auf den Kopf bekommen.«

»Machen Sie da mal keine Gewohnheit draus.«

»Sir, es gibt eine Menge Dinge, in denen ich nicht gut bin. Aber ich halte mich für einen guten Cop. Und ich war ein guter Soldat. Wenn Sie denken, dass es für Sie und Ihre Abteilung am besten ist, wenn ich verschwinde und meinen Mund halte, dann kann ich das tun. Aber wenn Sie denken, es wäre am besten, wenn ich hierbleibe und den Mund halte, dann kann ich auch das tun, schätze ich.«

Jenkins trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Wenn Sie mich etwas Bestimmtes fragen wollen, dann tun Sie das besser jetzt.«

»Sir, falls Sie sich dazu entschließen sollten, mich hier weiter meinen Dienst als Officer tun zu lassen, dann würde ich mich sehr über einen neuen Partner freuen.«

Jenkins verschränkte die Arme über der Brust. »Komisch, dass Sie gerade das ansprechen. Seit wir Sie hierhergebracht haben, versuchen wir Officer Dunlow zu erreichen, doch der scheint spurlos verschwunden. Eine Ahnung, wo er sein könnte?«