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RAKE KONNTE WIEDER nicht schlafen, und das, obwohl gerade eine zermürbende Schicht mit seinem neuen Partner hinter ihm lag. Ein Mann hatte seinen Bruder vor dessen Frau und beiden kleinen Kindern erstochen. Rake war nur Minuten später eingetroffen, und bis auf den Toten hatten alle geschrien. Überall Blut und Gesichter, die er im schlimmsten Fall nie wieder vergessen würde.
Nachdem er eine halbe Stunde lang wach im Bett gelegen hatte, stand er auf, zog sich an und unternahm einen Spaziergang.
Der Mörder von heute Nacht hatte sich sofort ergeben. Er hatte noch nicht einmal versucht, vom Tatort zu fliehen, hatte einfach nur draußen auf die Polizei gewartet. Mit blutverschmierten Händen hatte er ihnen erklärt, dass er getan habe, was nötig gewesen sei. Dass sein Bruder ihm einst Geld geliehen hatte und immer wieder davon angefangen hatte, ihn immer wieder damit beschämt hatte, mit seiner hübschen Frau und den süßen Kindern und seinem gut bezahlten Job angegeben hatte. Jemand hatte ihm den Kopf geraderücken müssen. Geisteskrankheit konnte manchmal so sachlich klingen.
Es war nach drei Uhr morgens, als Rake mitten auf der Straße lief, die Stille war so greifbar wie die hohe Luftfeuchtigkeit. Ihm war bewusst, dass er immer noch die Schrecken der Nacht verarbeitete, die Schreie der beiden kleinen Jungs, doch irgendwie mischte sich diese Erfahrung in seinem Kopf mit Dunlow. Er wusste, dass Dunlow tot war. Undenkbar, dass der Mann einfach abgehauen war, und Boggs’ Theorie, dass er jemandem vom APD zu lästig geworden sei, erschien ihm nicht richtig. Dunlow hatte mit der Ellsworth-Geschichte nicht das Geringste zu tun. Er hatte einen Teil vom Kuchen abhaben wollen, aber Underhill hatte ihn abblitzen lassen. Die Männer von der Rust Division, die Rakes Finger gebrochen hatten, hatten es ihm bestätigt. Dunlow war ein korrupter Rassist und ein grauenvoller Cop, aber mit dem Ellsworth-Mord hatte er nichts zu tun, außer dass er Underhill in jener Nacht keinen Strafzettel ausgestellt hatte. Es gab keinen Grund, warum ihn jemand wegen dieses Verbrechens hätte töten sollen.
Rake gefiel der Gedanke nicht, dass Boggs oder Smith ihn getötet hatten, und doch bekam er ihn seit Tagen nicht aus dem Kopf. Er hatte sehen wollen, wie Boggs auf den Namen Dunlow reagierte, und die Reaktion des Negro war ihm gespielt vorgekommen. Jetzt, da Dunlow wahrscheinlich tot war, empfand Rake ein Schuldgefühl, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hatte. Hatte er Dunlow auf dem Gewissen? Hatte er seinen Partner zu einer Dummheit verleitet? Er hatte sich die Ereignisse der letzten Wochen so oft durch den Kopf gehen lassen, doch die nur langsam nachlassende Angst und der Stress warfen alles durcheinander, verwirrten ihn, ließen die Chronologie verschwimmen, Ursache und Wirkung verschmelzen.
Als er das Splittern von Glas hörte, blieb er stehen. Es war weiter entfernt von links gekommen, gerade noch hörbar, und er fragte sich, ob er sich das nur eingebildet hatte. Dann hörte er es wieder.
Nichts war verwirrender, als in Gedanken versunken zu sein und zu begreifen, dass gerade etwas von großer Bedeutung diese Gedanken unterbrach. Es fiel schwer, sich von seiner Vereinzelung loszureißen und sich dem tatsächlichen Geschehen zu widmen. Durch den Job hatte Rake dazugelernt, denn die plötzlichen Vorgänge draußen in der Welt unterbrachen die Monotonie mindestens einmal pro Nacht.
Als er links eine Gestalt vorbeihuschen sah und ihr folgen wollte, fiel ihm im rechten Augenwinkel etwas ganz anderes auf. Ein grelles Licht. Er wandte sich um, verlor dabei die Gestalt aus den Augen, konnte jetzt aber das Feuer besser sehen. Es war das Haus von Mr. Calvin. Aus der Entfernung konnte er nur die Umrisse erkennen, doch die gelben Flammen, die die Häuserwände hochschlugen, waren nicht zu übersehen. Es war so grell, dass er nicht direkt ins Feuer schauen konnte, in dieses gleißende Gelb und wütende Orange, das sich so schnell ausbreitete. Sobald er blinzelte, sah er Ringe aus blauen Flammen vor seinem inneren Auge.
Es stand kein Auto in der Einfahrt. Er hörte keine Schreie, zumindest noch nicht. Für einen Augenblick verharrte Rake an Ort und Stelle.
Dann drehte er sich um und hielt nach der Gestalt Ausschau. Er konnte sie nicht sehen, aber er hörte Schritte auf dem Asphalt, also rannte er los. Da war sie, rannte an ein paar Häusern weiter vorne vorbei, kürzte durch einen Garten ab.
Er hätte so was wie »Stopp, Polizei!« rufen können, und in einer anderen Gegend hätte er das vielleicht auch getan. Doch er rannte, denn es war einfach, und je länger er rannte, desto mehr fragte er sich, ob er nicht in die falsche Richtung lief. Calvins Einfahrt war leer, aber was war mit dem Haus?
Bei der Verfolgungsjagd wäre Rake beinahe über eine Schaufel gestolpert, hätte ihn nicht ein Licht im Hinterhof rechtzeitig gewarnt. Dann sah er den Mann, umzingelt von einem Zaun, den ein Nachbar errichtet hatte. Er kam jetzt von der Seite her auf ihn zu, in der Hoffnung, einen neuen Fluchtweg zu finden. Er lief durch ein paar Büsche, und Rake war direkt hinter ihm, die beiden gelangten in einen anderen Garten, und dann hechtete Rake nach vorn wie der Verteidiger, der er einst beim Football gewesen war, erwischte ihn mit einem perfekten Tackle und hielt ihn an den Knöcheln fest.
Bevor der Mann wieder aufstehen konnte, saß Rake schon auf ihm. Er stemmte das Knie in seinen unteren Rücken und ergriff sein rechtes Handgelenk, bog es nach hinten.
»Lass mich los.« Eine jugendliche Stimme. Rake war nicht überrascht. Kein Mann, nur ein Teenager.
»Was zur Hölle tust du da, Junge? Willst du auf dem elektrischen Stuhl landen?«
»Es ist doch niemand zu Hause, wir haben nachgeschaut!«
»Wer ist ›wir‹?«
Keine Antwort. Der Junge war außer Atem, genau wie Rake.
Mit seiner freien Hand durchsuchte Rake den Jungen. Solange der Junge auf dem Boden lag, kam er nicht überall ran, aber er war jetzt beruhigt.
»Ich werd dich jetzt ganz langsam umdrehen. Denk noch nicht mal dran, aufzustehen.«
Rake erhob sich und machte einen Schritt zur Seite, damit er Platz hatte, falls der Junge etwas versuchte. Dann stieß er mit dem Fuß gegen die Schulter des Jungen und befahl ihm, sich auf den Rücken zu drehen. Es war dunkel, doch der Vollmond reichte aus, um Rake in die Vergangenheit blicken zu lassen. Die Gesichtszüge und die Augen waren unverkennbar.
»Du bist ein Dunlow, richtig?«
»Jawohl, Sir. Lionel Junior. Man nennt mich Buddy.« Beim Laufen hatte er beinahe so groß wie Rake gewirkt. Er war schlank, doch keineswegs schmächtig. Der Nacken war kräftig, und sein weißes T-Shirt spannte über der Brust.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich arbeite mit deinem Vater zusammen.«
»Wissen Sie, wo er ist?«
Rake seufzte und schüttelte den Kopf.
»Er arbeitet in geheimer Mission, stimmt doch? Eine, für die sie nur besondere Cops nehmen?«
Rake hörte Schritte aus dem Garten nebenan und ein Flüstern im hohen Gras.
»Das kann sein«, sagte Rake. »Ich weiß über solche Dinge nicht Bescheid.«
»Ich und mein Bruder tun nur unsere Pflicht. Er hat uns schon mal darum gebeten, aber wir haben es nicht rechtzeitig geschafft. Vielleicht war er sauer auf uns, weil wir es nicht früher erledigt haben, deshalb kann er jetzt zurückkommen und …«
»Halt die Klappe, Buddy!«
Ein paar Meter weiter sah Rake eine neue Gestalt. Noch zu weit weg, um ein Gesicht zu erkennen, aber die Stimme klang wie ein weiterer Dunlow. Älter, kräftiger. Mit einem Messer in der Hand.
»Junge, du kannst dein Messer entweder ganz schnell wieder in die Hosentasche packen oder es mir ganz langsam und vorsichtig geben.«
»Sie nehmen meinen Bruder nicht mit«, sagte der Junge, bewegte sich nicht. »Unser alter Herr ist weg, aber den nehmen Sie nicht mit.«
»Ich hab nie gesagt, dass ich jemanden mitnehme. Seid ihr beide Vollidioten? Wollt ihr jemanden umbringen?«
»Nein, Sir«, sagte der Ältere. Er klappte das Messer ein und steckte es in die Hosentasche. »Wir haben durchs Fenster geschaut, wollten sichergehen, dass niemand zu Hause ist. Wir haben auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Wir wissen, was wir tun.«
»Genau, ihr seid nämlich verdammte Verbrechergenies.« Rake war nicht überrascht, dass keine Sirenen und keine schreienden Nachbarn zu hören waren. Er wandte sich dem Jüngeren zu. »Steh auf. Geht verdammt noch mal nach Hause und kümmert euch ab jetzt um eure eigenen Angelegenheiten.«
Der Jüngere stand auf und hinkte hinüber zu seinem Bruder. Rake starrte sie an, und sie starrten ihn an, dunkle Konturen ohne Gesichter. Rake hätte am liebsten »Haben wir uns verstanden?« gefragt, doch er biss sich auf die Zunge. Es würde noch schwer genug für die beiden werden.
Dann verschwanden die beiden Dunlows, wurden von den überwucherten Sommergärten verschluckt.
Rake war jetzt seinem eigenen Haus näher als dem der Calvins, also rannte er erst mal nach Hause. Cassie und die Kinder schliefen noch, sanft und sorgenfrei. Er rief vom Telefon in der Küche aus die Feuerwehr an. Er gab sich nicht als Cop zu erkennen, gab sich überhaupt nicht zu erkennen. Er bat um einen Feuerwehrwagen und einen Krankenwagen, von dem er hoffte, dass er nicht gebraucht würde, und man versicherte ihm, dass beides auf dem Weg sei.
Der Feuerwehrwagen würde sich Zeit lassen, das wusste er. Er rannte wieder nach draußen zu dem brennenden Gebäude. Die Flammen hatten in den letzten Minuten große Fortschritte gemacht. Feuer war ein zuverlässiger Arbeiter. Die Flammen hatten jetzt das gesamte Gebäude erfasst, schwarzer Rauch stieg in die schwüle Luft auf und verschwand im ebenso schwarzen Nachthimmel. Von den Calvins war niemand aufgetaucht. Niemand schrie, es gab kein Lebenszeichen. Er hoffte, dass die Dunlow-Jungen recht behielten.
Auf der Straße, gute zehn Meter vom Vorgarten entfernt, fühlte sich die Hitze wie eine Hand auf der Brust an, die ihn erbost zurückhielt. Seine Augen wurden trocken, seine Kehle zog sich zusammen.
Es handelte sich um ein Eckgrundstück. Das Haus rechts daneben lag näher, und die Sträucher dazwischen drohten Feuer zu fangen. Er rannte zu dem Haus und versuchte es an der Vordertür, doch sie war verschlossen. Er hämmerte dagegen und schrie: »Polizei! Nebenan brennt es, Sie müssen das Haus verlassen!«
Etwas im Inneren des Feuers knallte oder es war nur das Feuer selbst, das sich ausbreitete. Oder seine Nerven, während er zur Hintertür der Nachbarn rannte. Sie war nicht abgeschlossen. Er schaltete das Licht ein und rannte zur Treppe, wiederholte seine Warnung, so laut er konnte. Er sah Bilder von Kindern an der Wand. Er rannte die Stufen hinauf, brüllte immer noch, fand ein Schlafzimmer und ein leeres Bett. Genau wie das Bett in dem anderen Zimmer. Er fand das Schlafzimmer der Eltern, aber auch das war verlassen.
Er rannte zum nächsten Haus, es stand ebenfalls leer. Dann stand er wieder im Freien, und das brennende Haus war nur noch ein schwarzes Skelett, ohne die wütende Flammenseele. Rake ging rückwärts, die gefräßigen Flammen im Blick. Als er weit genug entfernt war, um nicht mehr die Hitze auf der Haut zu spüren, drehte er sich um und ging durch die stille Nacht zurück nach Hause.