Der Einäugige

El Tuerto steht am Hafen wie jeden Morgen. Der Einäugige mit dem kleinen schwarzen Strohhut bietet allen Neuankömmlingen, die vom Fährschiff über die Mole kommen, seine Ansichtskarten an.

„Bist du blind, Onkel?“, fragt ein kleiner Junge und bleibt stehen.

„Nur auf einem Auge, mein Junge“, antwortet El Tuerto.

„Hörst du mit dem Knopf im Ohr Musik?“

„Das ist mein Hörgerät“, antwortet El Tuerto und lächelt. „Damit hör ich zum Beispiel jetzt dich!“

Der Junge sieht ihn mitleidig an. Ein Mann, der fast nichts sieht und fast nichts hört …

¡Carlo!“, ruft eine aufgebrachte Stimme. „¡No molestes al señor!“ Die Mutter zieht ihren wissbegierigen Sohn hastig mit sich fort. Seine ewige Fragerei ist ihr peinlich.

El Tuerto geht zum Yachthafen hinüber. Da liegen die Schiffe der Prominenz aus allen Ecken der Welt. Ab und zu wird er auch dort ein paar Karten los. Aber sein Hauptinteresse gilt den neu anlegenden Schiffen. Sie werden alle in Gedanken von ihm registriert. Mit seinem phänomenalen Gedächtnis kann er sich Kleinigkeiten merken, die anderen nicht auffallen. Eine großartige Begabung. Sie war der Grund, dass Leo Leon dem jungen Polizisten vor sieben Jahren in Madrid anbot, als verdeckter Ermittler bei der Guardia Civil zu arbeiten.

„Gibt es Neuigkeiten?“, erkundigt sich eine Stimme aus dem fernen Madrid über den Knopf in seinem Ohr. Es ist Leo Leon!

El Tuerto hält das Handgelenk mit der Mikrofonuhr vor den Mund und antwortet: „Es scheint eine große Ladung neuer Stoff von Tanger nach Cádiz unterwegs zu sein. Das hat mir mein V-Mann mitgeteilt. Die Übergabe muss irgendwo auf See stattgefunden haben. Mehr als eine Tonne Opium soll zur Feriensaison auf den Markt kommen. Die Abnehmer wurden bereits informiert. Kein Hinweis bisher, wie die Ware an Land gebracht wird.“

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„Ah, daher hält sich El Conde in Torremoros auf“, antwortet Leon. „Wir beobachten ihn schon länger. Er gehört zur Mafia in Neapel und mischt bei der Topolino-Bande mit. Vielleicht ist er sogar der ,Pate der spanischen ,Mafia-Familie?“

„Da bin ich fast sicher“, erwidert El Tuerto. „Es gab ein Geheimtreffen in seiner Villa. Ich weiß es von seinem Gärtner. Das Personal wurde weggeschickt. Wie mein Informant berichtet, nahmen Bankdirektor Saltamonte, Bürgermeisterin Mariposa, Kunsthändler Goya, ein reicher Araber, der zwielichtige Anwalt Circuela und der korrupte Polizeichef Calva daran teil. Jedenfalls parkten ihre Autos hinter den Zypressen auf der Einfahrt.“

„Das korrupte Netzwerk scheint also noch zu funktionieren, obwohl der alte alcalde im Knast sitzt“, brummt Leo Leon. „Hör zu, momentan hält sich ein berühmter Kollege aus Hamburg in Torremoros auf. Er nimmt demnächst Kontakt mit dir auf. Sende eure Erkenntnisse als verschlüsselte Mail an die übliche Adresse. Codewort Canguro.“

„Ende! ¡Fin! Ich habe Kunden!“, sagt El Tuerto und bricht das Gespräch ab, weil jetzt zwei braungebrannte Sportsegler auf ihn zukommen und Postkarten aus seinem Bauchladen kaufen wollen.

„Na, du führst wohl Selbstgespräche“, sagt der eine lachend, als er zahlt.

„Das mach ich immer, wenn ich mich einsam fühle“, antwortet El Tuerto geistesgegenwärtig. „Ein Tick von mir.“

An der Küstenlinie brummt ein kleines Propellerflugzeug entlang, das ein Werbebanner hinter sich herzieht. Vorgestern hat es für die Discoteca Tarantella in Torremoros geworben. Gestern für den Beach Club in Marbella. Und heute verspricht es „Freien Eintritt im Casino Royal“ und große Gewinnchancen.

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Auch das entgeht dem Einäugigen nicht. Er nimmt an, dass es ein Signal für alle Drogenkunden ist, dass neue „Ware“ angekommen ist und dass man sie im Casino abholen kann.

Kugelblitz wundert sich, als er am späten Vormittag einen Anruf von seiner Assistentin Sonja Sandmann aus Hamburg bekommt. „Ich wollte Sie fragen, ob ich Ihre Urlaubsgeheimnummer an Comisario Leon aus Madrid weitergeben darf. Er möchte Sie dringend sprechen.“

„Sie dürfen, Sandmännchen. Sie dürfen! Im Übrigen erhole ich mich prächtig. Die Sonnenaufgänge sind spektakulär. Die sehe ich vom Bett aus. Im Mondschein trinke ich abends mit netten Leuten unterm Orangenbaum ein Glas Rioja-Wein. Es könnte nicht besser sein. Ich lese schon den dritten Krimi aus eurem Päckchen! Vielen Dank dafür!“

Er hört ein fröhliches Lachen am anderen Ende der Leitung. „Das klingt ja tatsächlich fast nach Urlaub, Chef! Weiterhin alles Gute, auch von Pommes und Zwiebel.“

Der Anruf von Leo Leon aus Madrid lässt nicht lang auf sich warten.

„Wir brauchen Ihre Hilfe“, sagt Leon mit ernster Stimme. „Kommissar Zufall hat es so eingerichtet, dass Sie ausgerechnet dort sind, wo sich unsere Ermittlungen im Augenblick konzentrieren. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass eine Sendung von einer Tonne Heroin aus Marokko unterwegs ist. Auf dem Containerschiff, auf dem die Ware angeblich unter Berberteppichen versteckt war, konnte man bei der Kontrolle im Hafen von Cádiz nichts mehr finden. Die Drogen müssen irgendwie kurz vor der spanischen Küste von Bord gebracht worden sein. Wir haben einen Undercover-Agenten in Torremoros. Er vermutet, dass die Ware zur Verteilung bereit ist. Das übernimmt die Topolino-Bande, die dort alle illegalen Geschäfte im Griff hat.“ Er lacht. „Sie nennen die andalusische Costa del SolCosta Nuestra“, also ,unsere Küste!“

„Wie finde ich euren Agenten?“, erkundigt sich Kugelblitz.

„Er verkauft Postkarten am Hafen und trägt eine Augenklappe.“

¿El Tuerto? Der Einäugige? Ich kenne ihn“, antwortet KK.

„Waaas? Sie sind kaum angekommen und kennen schon unseren Verbindungsmann?“, staunt Leon.

„Das verdanke ich meiner Verbindungsfrau Isabella“, antwortet Kugelblitz und lacht leise. „Sie hat mich auf ihn aufmerksam gemacht, als wir neulich beim Eisessen am Hafen waren. Mit Isabellas Hilfe habe ich auch ein Versteck oder Zwischenlager in einer Höhle entdeckt, das der Bande gehören könnte.“

„Großartig. Nehmen Sie sofort Kontakt mit El Tuerto auf!“, bittet Leon eindringlich. „Kaufen Sie ihm eine Postkarte ab und stecken Sie ihm dabei einen Zettel mit Orts- und Zeitangabe für ein geheimes Treffen zu.“

„Ich könnte Martin und Isabella mitnehmen“, überlegt KK. „Ein Opa mit zwei Kindern. Das ist unauffällig …“

Leon zögert und sagt dann: „Lieber nicht. Es könnten Dinge zur Sprache kommen, die für Kinderohren nicht geeignet sind.“

So kommt es, dass Kugelblitz nach dem Mittagessen allein mit Pedro in die Stadt fährt.

Isabella und Martin sind enttäuscht, dass sie nicht mitkommen dürfen.

„Eine langweilige Besprechung“, versichert Kugelblitz. „Und es ist heiß in der Stadt. Sicher habt ihr mehr Spaß, wenn ihr hierbleibt.“

Wie recht er mit dieser Bemerkung haben

soll …

„Weißt du was“, sagt Isabella, als das Auto mit Kugelblitz in einer kleinen Staubwolke den Sandweg zur Hauptstraße hinunterfährt, „ich zeig dir, wo wir die Sachen der Schmuggler gefunden haben!“

„Gute Idee“, sagt Martin. „Aber hast du nicht versprochen, dass du vorsichtig sein willst?“

„Die Höhle liegt schließlich auf unserem Grundstück!“, sagt Isabella. „Und falls ein Boot kommt, sehen wir es von Weitem!“

Gesagt, getan. Mit Martin geht der Abstieg wesentlich schneller als mit Kugelblitz. Flink wie eine Eidechse schlüpft er durch den Felsspalt, in dem KK fast stecken geblieben wäre.

Isabella ist als Erste unten und watet durchs Wasser zum Höhleneingang.

¡Caramba!“, ruft sie. „Sieh doch. Da liegen lauter Pakete. Wasserdicht in Folie verpackt.“

„Das muss eine neue Drogenlieferung sein! Lass uns schnell abhauen, ehe einer kommt!“, warnt Martin, der den Ernst der Lage sofort erfasst.

Er zieht Isabella mit sich fort. Keinen Moment zu früh, denn jetzt hört man ein Motorboot, noch ehe man es sieht. In letzter Minute verstecken sich die beiden hinter einer Agavenpflanze auf der anderen Seite des Hanges.

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Da biegt das Boot um die Ecke. Zwei Männer steigen aus.

„Das ist der Rest“, sagt einer. „Das andere haben wir schon heute Nacht abgeholt. War eine Menge Zeug diesmal.“ Argwöhnisch wandern seine Blicke zu dem Hang hinüber, an dem sich die beiden Kinder verstecken.

Die Männer laden die Pakete ins Motorboot und fahren davon.

„Boah!“, schnauft Isabella, als sie wieselflink den Hang hochklettern. „Das müssen wir schnellstens dem Comisario sagen.“

Aber da müssen sie sich etwas gedulden. Kugelblitz ist ja nicht da …

Ihrer Mutter sagt Isabella vorerst nichts, weil sie zu Recht befürchtet, dass sie dann Ärger bekommt.

Als Kugelblitz an der Hafenmole ankommt, mit sandfarbenen Jeans, buntem T-Shirt und Sonnenbrille, sieht er wie ein ganz normaler Tourist aus. Er kauft von einem der fliegenden Händler für 10 Euro einen der kleinen Sonnenhüte, wie sie im Moment modern sind. Dann steuert er auf den Ansichtskartenverkäufer am Pier zu. Er sucht sich eine Postkarte aus und berichtet dabei von dem Anruf aus Madrid.

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„Ich weiß Bescheid“, sagt El Tuerto.

Und weil um die heiße Mittagszeit kaum Menschen unterwegs sind, breitet Kugelblitz an der Hafenmauer eine Straßenkarte aus. Er hält sie vor sich und den Einäugigen und tauscht mit ihm dahinter die Informationen aus. Jeder unbeteiligte Beobachter muss denken, dass sich ein „blinder“ Tourist von einem Einäugigen den Weg erklären lässt.

Schnell ist das Wichtigste besprochen. Kugelblitz ist auf dem neuesten Stand der Ermittlungen der spanischen Polizei, und El Tuerto weiß von dem Versteck in der Höhle. Außerdem tauschen sie ihre geheimen Telefonnummern aus.

Um den Eindruck eines guten Touristen zu vervollständigen und weil er sich schon die ganze Zeit darauf freut, gönnt sich Kugelblitz anschließend noch ein großes Eis am Kiosk im Hafen.

Dann ruft er ein Taxi und fährt zum Hotel Torre Molino zurück.

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Isabella und Martin erwarten ihn schon ungeduldig.

„Sie waren wieder da und haben Ware abgeholt!“, berichtet Isabella aufgeregt.

„Eine Menge Zeug war da unten!“, bestätigt Martin.

„Ihr wart unten in der Höhle? Das finde ich gar nicht gut“, brummt Kugelblitz verärgert.

„Aber ich musste Martin doch zeigen, was ich mit dir entdeckt habe. Und ich dachte natürlich, da ist keiner …“, rechtfertigt sich Isabella zerknirscht.

„Diese Leute sind brandgefährlich“, sagt Kugelblitz ernst. „Ab sofort keine Alleingänge mehr. Versprochen?“

„Piraten-Ehrenwort“, gelobt Martin.

„Sagst du’s auch nicht Mama?“, bittet Isabella kleinlaut.

„Wenn es sich vermeiden lässt …“, murmelt KK. „Aber jetzt muss ich erst einmal dringend telefonieren!“

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Frage an alle Detektive, die in Gedanken mitermitteln:

Wen wird KK jetzt anrufen?