Prolog
Die verängstigten Männer jagen geduckt und keuchend durch das knöchelhohe Gras in Richtung ihrer Rettung, die in Form eines Motorboots am nahegelegenen Flussufer ankert. Das in den Körpern der Flüchtenden ausgeschüttete Adrenalin verhindert, dass sie die haarfeinen Schnitte wahrnehmen, die ihnen messerscharfe Grashalme an den Beinen zufügen.
Flucht, ihr einziges Ziel.
Hektisch wandern ihre Blicke immer wieder nach hinten, um abzuschätzen, wie groß ihr Vorsprung noch ist. Denn ihre Verfolger sind ihnen dicht auf den Fersen, ihre lauten Stimmen übertönen sogar das Geräusch des reißenden Mekongs und verdeutlichen, wie ausweglos sich die Lage der jungen Männer darstellt. Gefangen im Zustand nackter Panik versuchen sie, schnellstmöglich zu ihrem Boot zu kommen.
In regelmäßigen Abständen durchzucken die Taschenlampen-Lichtkegel ihrer Jäger den sternenklaren Nachthimmel und unterstreichen ihr Dilemma. Sie sind einfach überall! Die Männer eilen direkt auf ein bewässertes Reisfeld zu, welches ihre Flucht zusätzlich erschweren wird. Keine Zeit für lange Umwege. Mit einem Keuchen landet Davin, gefolgt von Thian, im lauwarmen Wasser, in dem sie schlagartig bis zu den Waden versinken. An ein schnelles Vorankommen ist nun nicht mehr zu denken.
„Das schaffen wir nie!“
Thians Stimme bebt vor Angst, was Davin nicht verborgen bleibt. Mit so viel Zuversicht, wie er in diesem Moment aufbringen kann, antwortet er: „Nur noch ein paar Meter, dann haben wir es geschafft.“ Mit einem beherzten Griff umfasst er Thians zitternde Hand, sieht ihm kurz in die Augen und spendet ihm Hoffnung, bevor er ihn mit sich zieht.
Es kann nicht mehr weit sein. Wir müssen einfach nur das Boot erreichen, gemeinsam. Nur noch ein paar Schritte.
In unmittelbarer Nähe wird das Rauschen des Flusses erneut hörbar, ein verlockender Ruf, der Freiheit verspricht.
„Ich kann nicht mehr“, keucht Thian, dessen Beine immer tiefer in dem Morast, einem Gemisch aus Wasser, Schlick und Erde versinken. Unvermittelt bleibt er stehen, als hätte ihm eine unsichtbare Macht den Stecker gezogen.
Davin hält ebenfalls inne und dreht sich um. „Wir schaffen es, gemeinsam. Hörst du? Du und ich.“ Mit einem sanften Lächeln legt er sich die ausgemergelte Gestalt des Vietnamesen auf die Schulter.
Immer weiter.
Der aufgeschwemmte Boden behindert ihn und das zusätzliche Gewicht droht, ihn tiefer versinken zu lassen. Davin wirft einen angstvollen Blick zurück. Die Lichtkegel tanzen durch die Dunkelheit, doch die Verfolger selbst sind nirgends auszumachen. Noch nicht. Also setzt er einen Fuß vor den anderen und mobilisiert seine letzten Kraftreserven.
Schritt für Schritt vorwärts.
Immer weiter, nur nicht innehalten. Die hohen Temperaturen, die selbst nachts nicht merklich abkühlen, verwandeln die Luft in eine schwüle Suppe, die jede Bewegung zur Qual werden lässt. Dennoch gibt Davin nicht auf. Zu viel Verantwortung lastet wortwörtlich auf seinen Schultern. Im nächsten Moment erreicht er das Ende des Feldes, stolpert und taumelt aus dem sumpfigen Schlick. „Alles in Ordnung?“, will er von seinem Partner wissen, als er ihn auf dem festen Boden außerhalb des Ackers absetzt.
„Es geht mir gut.“
„Komm, das Boot liegt hinter den Bäumen dort im Bewässerungsgraben.“ Auf Davin gestützt, kann sich Thian langsam weiterkämpfen, während das stete Tosen des Flusses nach ihnen ruft und die langersehnte Erlösung verspricht. Einen achtlosen Tritt später stürzen sie nacheinander über eine mit Gestrüpp bewachsene Böschung in die Tiefe. Davin landet hart auf seinem Arm. Ein stechender Schmerz schießt durch seinen Körper, verblasst jedoch rasch, als er den auf dem Rücken liegenden, nach Luft schnappenden Thian entdeckt. Stöhnend rappelt er sich auf und kriecht zu seinem Freund. Der heftige Aufprall scheint einen kurzzeitigen Atemstillstand ausgelöst zu haben, der sich im nächsten Moment löst. „Geht’s?“
Thian nickt und Davin schließt ihn für einen kurzen Moment in seine Arme, streicht ihm über die Wange und sucht dann blitzschnell mit den Augen die Umgebung ab: Wasser, endlich haben sie den Fluss erreicht.
Schritte kommen hastig näher.
Die Flüchtenden erstarren, versuchen flach zu atmen und keinen Mucks von sich zu geben. Ihre Blicke treffen sich erneut, versinken ineinander. Davin zerreißt es das Herz, die Furcht in Thians Augen sehen zu müssen und dabei so hilflos zu sein. Diese Machtlosigkeit, in der sie gemeinsam gefangen sind, ist das schlimmste Gefühl für ihn. Während sie mit laut schlagenden Herzen verharren und auf ihr Schicksal warten, verwandeln sich Sekunden in Minuten. Nur die dichte Vegetation verhindert, dass sie gesehen werden und so atmen beide Männer dankbar auf, als die Verfolger außer Hörweite sind. Davins Blick gleitet am Flussufer entlang, bis er den nur wenige Schritte entfernten Bewässerungskanal entdeckt. Andeutungsweise schnippt er mit den Fingern, um Thians Aufmerksamkeit zu erlangen. Geduckt rennen die Männer los. Sie überwinden die Distanz mit wenigen Schritten, bleiben dann aber unvermittelt stehen. Einer von Thians Cousins hat sich breitbeinig direkt neben dem Boot aufgebaut.
„Wohin wollt ihr denn?“ Seine Stimme ist bedrohlich und alles an ihm wirkt einschüchternd, besonders die Spitzhacke in seiner Hand.
„Lass uns vorbei!“, verlangt Davin mit autoritärem Tonfall, während er sich vor Thian stellt und so den Vietnamesen mit seinem Körper vor einem etwaigen Hieb zu schützen versucht.
Die Reaktion ihres Widersachers ist grotesk, etwas zwischen Kichern und manischem Prusten. „Denkst du wirklich, dass wir euch einfach gehen lassen? Er kann hier nicht weg, er muss arbeiten und Geld verdienen.“
„Das ist keine Arbeit, das ist Sklaventreiberei.“
„Er hat es nicht anders verdient.“ Thians Cousin spuckt angewidert auf den Boden, bevor er erneut seine Waffe schwingt.
Davin muss einen Schritt zurückweichen, um nicht getroffen zu werden. „Letzte Warnung, lass uns durch!“ Das hämische Lachen ihres Gegenübers ist für Davin Antwort genug. Beherzt greift er in den Hosenbund und zieht eine kleinkalibrige Pistole hervor, die er auf ihren erschrocken keuchenden Angreifer richtet. „Tritt vom Boot zurück und lass uns durch. Sonst knalle ich dich ab. Ich zähle bis drei.“
„Davin, sie kommen“, murmelt Thian gehetzt und nervös, während sein Blick immer wieder nach hinten schweift.
Unbeeindruckt lädt Davin die Waffe durch, richtet sie auf den Kopf des Mannes und beginnt zu zählen. „Eins. Zwei …“ Sein Finger wandert mit einer Ruhe zum Abzug, die sogar ihn selbst überrascht.
„Bitte, töte mich nicht“, beginnt der Cousin zu wimmern, bevor er die Hacke ins Wasser wirft und mehrere Schritte vom Motorboot zurücktritt. Der Schock ist ihm deutlich vom Gesicht abzulesen.
„Los, steig ein.“ Davin hilft Thian beim Hineinsteigen und beginnt das Tau zu lösen, mit dem er das Boot an einem Baum befestigt hat. Doch das gestaltet sich mit einer Feuerwaffe in der Hand gar nicht so einfach.
„Beeil dich!“ Thian steht mit zittrigen Knien da und sieht zwischen Davin und seinem Cousin hin und her.
Als das Seil endlich gelöst ist, klettert Davin mit erhobener Pistole ins Boot, bevor er sie seinem verschreckten Freund in die Hand drückt. „Zielen und abdrücken, wenn er Dummheiten macht.“ Unbeholfen zieht Davin den Schlüssel aus seiner Hose und versucht, das Boot zu starten. Stotternd erwachen die Motoren für eine Millisekunde zum Leben, bevor sie wieder ersterben. „Verdammt, warum geht das nicht?“ Von der Strömung erfasst, beginnt sich das Boot langsam in Bewegung zu setzen und abzudriften.
„Mach schon, Davin! Sie sind bald hier.“
„Nicht hilfreich“, faucht dieser entnervt, während er immer wieder den Zündschlüssel im Schloss dreht und den Start-Knopf drückt. Aus der Dunkelheit hetzen nun auch die anderen Verwandten auf sie zu, sammeln sich am Flussufer und erfassen die Situation sofort. Während einige von ihnen am Ufer warten und ihre Waffen schwingen, waten andere beherzt ins Wasser und schwimmen Richtung Boot.
Nur noch ein paar Meter und alles ist verloren.