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Kapitel zwei
Als Davin am nächsten Morgen die Augen aufschlägt, durchzuckt ein dumpfer Schmerz seinen Kopf, der sich in Windeseile in seinem gesamten Körper ausbreitet. Keuchend schlägt er die Hände vor die Augen, um sich vor dem Licht der winterlichen Sonne zu schützen, das durch das Fenster fällt. „Aaaah!“ Sofort verkriecht er sich tiefer in der Decke und stößt dabei mit einem anderen Körper zusammen.
„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen.“
Die ihm unbekannte Stimme klingt aufgeweckt, also schlägt Davin erneut die Augen auf und sieht sich den blonden Kerl, der neben ihm im Bett liegt, genauer an. „Wer … aua“, murrt Davin und bricht ab. Egal wie tief er in seinem Gedächtnis nach dem Namen dieses Mannes sucht, er kommt nicht darauf. „Wie war nochmal dein Name?“
„Nils.“
„Stimmt. Entschuldige bitte.“
„Kein Problem. Du warst ziemlich fertig gestern Abend. Geht es dir besser?“
Davin dreht sich auf den Rücken, reibt sich die Augen und versucht dann erneut, sie zu öffnen ohne vor der Helligkeit zurückzuschrecken. „Alles wieder gut.“ Niemand würde ihm diese Lüge abkaufen, aber das ist Davin in diesem Moment egal. Mit Schwung setzt er sich an den Bettrand und sucht nach seinem Smartphone. „Wie spät ist es?“
„Fast zehn Uhr.“
„Was?!“ Davin schießt hoch und fällt dabei beinahe vorne über. „Ich habe verschlafen. Verdammt nochmal. Ich müsste schon längst im Büro sein.“
„Das tut mir leid, ich habe heute frei und du hast nicht gesagt, wann du geweckt werden willst, daher habe ich dich einfach schlafen lassen.“
Davin unterbricht sein Gegenüber, als er ins Badezimmer stolpert. „Schlechte Entscheidung.“ Nils bleibt im Bett liegen und hört dabei zu, wie sich Davin erleichtert, sich kurz wäscht und dann zurück ins Zimmer kommt. „Ich muss los. Wo sind meine Klamotten?“
„Warte, ich helfe dir suchen.“ Zusammen finden sie Davins Anzug, seine Unterwäsche und das Hemd in Windeseile. Als er einigermaßen wiederhergestellt ist, küsst er Nils auf die Wange und drängt zum Ausgang. „Werde ich dich wiedersehen?“
Davin dreht sich um und sieht Nils für eine Weile einfach nur an. „Nein. Aber ich entschuldige mich einfach mal für gestern und wünsche dir eine gute Zeit.“
„Für was genau entschuldigst du dich jetzt?“ Nils sieht Davin mit einem kecken Grinsen an und zieht die Augenbrauen hoch.
„Für den sicherlich grottenschlechten Sex, den wir hatten. Konnte ich überhaupt?“
„Du erinnerst dich an nichts mehr? Nicht mal mehr an unseren Sex?“
„Nein, tut mir leid.“
Nils lacht, bevor er Davin auf die Wange küsst. „Es war nicht schlecht, sondern geil. Aber verschwinde jetzt.“
„Tschüss.“
„Bye.“
Damit verlässt Davin die Wohnung, steigt in den Aufzug und fährt ins Erdgeschoss. Die Erinnerung an die gestrige Nacht blitzt bruchstückhaft vor ihm auf, aber das meiste liegt noch unter einer dicken Nebelschicht begraben.
Ich war in einer Bar, hab zu viel getrunken und bin dann mit Nils nach Hause gegangen. Da war ein Zusammenstoß. Aber mit wem? Ich kannte die Person, aber jetzt, verflucht, jetzt kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Wer war es? Und dann? Sex. Wie oft? Geschützt? Ungeschützt?
Als das Taxi vor dem Bürogebäude hält, wirft Davin einen Kaugummi ein, richtet ein letztes Mal seine Frisur und steigt aus. Der Restalkohol in seinem Kreislauf sorgt dafür, dass ihm leicht übel ist, während sich sein Körper anfühlt, als wäre er von einer Dampfwalze überrollt worden. Seine Augen sind empfindlich, während in seinem Schädel eine Hardrock Band spielt.
Memo an mich: Viel weniger trinken und das verdammte Koks weglassen.
Die miese Stimmung, die ihm beim Betreten des Großraumbüros entgegenschlägt, ist bezeichnend. Jeder, dem er begegnet, ist gestresst. Niemand lächelt, keiner nimmt sich Zeit für eine auch noch so kurze Unterhaltung. Eigentlich nichts Besonderes, so ist es beinahe jeden Tag in der hektischen Welt des Börsenkapitalismus. Doch heute kommt ihm etwas seltsam vor. Die Blicke seiner Kollegen verweilen etwas zu lange auf ihm. Wie jeden Morgen türmt sich auf seinem Schreibtisch ein riesiger Stapel mit Post, der auf Bearbeitung wartet.
Seufzend lässt er sich auf seinen Bürostuhl fallen.
„Da bist du ja endlich. Ich habe zig Mal versucht, dich zu erreichen. Wo warst du bloß?“ Danielas Stimme verrät, wie ungehalten sie ist, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn verdeutlichen es noch.
„Ich habe verschlafen.“
„Und das ausgerechnet heute? Hier ist die Hölle los, der Chef will dich …“ Weiter kommt sie nicht, bevor Peter Stockmans Stimme die angespannte Hektik im Büro durchschneidet und für eine Stille sorgt, in der man eine Stecknadel fallen hören könnte.
„Davin, in mein Büro!“
Peters Stimme lässt keine Widerrede zu und Davin ertappt sich dabei, wie er ein wenig zusammenzuckt. Ohne zu wissen, was auf ihn zukommt, erhebt er sich und schleppt sich in das Büro seines Vorgesetzten.
Urplötzlich ist er hellwach und alarmiert.
Stockman wartet nicht, bis Davin die Tür geschlossen hat, sondern poltert sofort los. „Was hast du dir dabei gedacht?“ Wie ein Tiger im Käfig geht der Inhaber und CEO von Stockman Trading auf und ab. „Ich weiß ja, dass du schwul bist, aber unseren Kunden müssen wir das nicht unbedingt auf die Nase binden, oder? Du kannst doch nicht einfach einen von ihnen anmachen und dann noch so … so plump und widerlich. Ich bin enttäuscht und stinksauer. Der Deal ist geplatzt, Davin. Hörst du? 20 Millionen futsch. Allein wegen deines Fehlverhaltens.“ Stockman fährt sich über seine Glatze, die Haare sind ihm schon vor Jahren ausgefallen. „Vielleicht haben wir noch eine Chance, aber nur, wenn ich ihm einen neuen Kundenberater zuteile.“ Davins Vorgesetzter stoppt sein hastiges Auf-und-ab-Gehen, setzt sich hin. Mit zusammengekniffenen Augen starrt er Davin an und schüttelt ratlos den Kopf. „Du hast nicht nur deinen Ruf, sondern auch den Ruf dieser Firma ruiniert. Seit heute Morgen um acht Uhr krieche ich ihm in den Arsch, schmiere ihm Honig ums Maul und versuche zu kitten, was es zu …“
„Auszeit, bitte“, brüllt Davin, schüttelt den Kopf und hebt beschwichtigend die Hände. Sein Vorgesetzter verstummt, starrt ihn aber weiter an. „Was genau ist passiert, Peter? Wovon sprichst du? Ich … habe gestern etwas zu viel getrunken und habe einen … Filmriss. Ich kann mich nur noch an Bruchstücke erinnern.“
„Paul Mendosa, davon spreche ich, Davin. Du hast ihn gestern angerempelt. Sturzbetrunken und wild knutschend in den Armen eines anderen Mannes. Er war außer sich vor Wut, vor allem, weil du ihn ziemlich plump angegraben und dann lauthals verkündet hast, dass er Geld hat.“
„Das … oh mein Gott … wie gesagt, ich kann mich nicht mehr erinnern.“
„Herrgott nochmal. Du kannst dich in der Öffentlichkeit doch nicht so aufführen. Das geht nicht. Du hast eine Verantwortung gegenüber dieser Firma und auch deinen Kunden gegenüber.“
„Ich war völlig betrunken und das tut mir leid. Aber was ist eigentlich sein Problem?“
„Die Kurzfassung? Er will nicht von einer Schwuchtel betreut werden. Nachdem ich ihn eine halbe Stunde bekniet habe bei uns zu bleiben, meinte er, dass dies nur unter einer Bedingung möglich ist. Er will einen neuen Berater, der ausdrücklich keine Tucke ist.“
„Wie bitte?“
„Außerdem verlangt er, dass wir die bisher getätigten Käufe rückgängig machen, denn er möchte nicht in ein Produkt investieren, das ihm von einem Hinterlader verkauft wurde. Seine Worte, nicht meine.“
Davin schüttelt den Kopf, kann nicht verstehen, was sich hier gerade abspielt. „Du hast ihm doch sicher gesagt, dass ich der Beste bin und dass …“
„Ja, alles habe ich ihm gesagt. Ich habe mich tausend Mal entschuldigt und ihm versichert, dass du der Beste bist.“
„Aber?“
„Er hat damit gedroht, seinen Geschäftspartnern von dem Vorfall zu erzählen und sein gesamtes Vermögen abzuziehen. Ich konnte das in allerletzter Sekunde noch verhindern.“
Es ist klar, in welche Richtung dieses Gespräch geht. „Spuck es schon aus, Peter. Was hast du ihm versprochen.“
„Einen neuen Ansprechpartner, also habe ich ihm Kevin zugeteilt. Damit konnte ich Mendosa ein wenig beruhigen. Außerdem will er, dass ich dich feuere.“
„Ich wusste es! Feuern, weswegen? Weil ich betrunken war oder weil ich schwul bin? Beides kein Grund.“
„Weil du aller Welt verkündet hast, dass er Kohle hat, Davin, und weil du ihn öffentlich angemacht hast und ja, weil du schwul bist.“
„Und was hast du ihm darauf erwidert? Warte mal, du hast Kevin
diesen Account übertragen? Dem Frauenschwarm, der alle Weiber des Büros schon mindestens zweimal flachgelegt hat? Diesem Arschloch, das mir meine Kunden schon seit Monaten streitig machen will?“
„Dieses Arschloch
, Davin, ist der einzige, der dir deinen Kopf aus der Schlinge ziehen kann. Wenn Mendosa abspringt und herumerzählt, was geschehen ist, dann wäre das ein massiver Schlag, den wir nicht so leicht verkraften können. In dieser Branche ist bereits das kleinste Gerücht tödlich, denk an unsere Konkurrenz BlueInvest. Die mussten Konkurs anmelden und das wegen einer Lappalie.“
„Du feuerst mich also tatsächlich? Weil ich einmal abgestürzt bin? Das kann ich nicht glauben.“
„Nein, ich feuere dich nicht. Ich entziehe dir lediglich den Mendosa-Account. Und dann möchte ich, dass du dir ein paar Tage frei nimmst, bis sich die Wogen geglättet haben.“
„Du suspendierst mich?!“
„Ja, so könnte man das auch nennen. Sei froh, dass ich dich nur für ein paar Tage freistelle. Wenn du nicht schon so viele Jahre gute Arbeit in meiner Firma geleistet hättest, würde ich dir kündigen und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. Du kennst dieses Business, da reicht ein grober Fehler. Und was du dir geleistet hast, ist keine Lappalie, Davin.“
„Schon gut, Peter, ich habe verstanden.“ Davin steht auf, kramt aus seiner Jacketttasche den Scheck hervor, den er gestern entgegengenommen hat, und knallt ihn seinem Vorgesetzten auf den Tisch. „Den willst du sicher zurückhaben.“
Stockman nickt anerkennend, bevor er das Papier zerreißt und im Abfalleimer entsorgt. „Danke, Davin, diese Geste spricht für dich. Wenn sich alles beruhigt hat, sprechen wir noch einmal über einen Bonus.“
„So viel zu Dankbarkeit und Loyalität“, murrt Davin leise und dennoch laut genug, damit es bei seinem Gegenüber ankommt.
Unvermittelt steht Stockman auf und knallt seine Fäuste derart brutal auf den Tisch, dass die Stifte im Köcher zittern. „Pass auf, was du sagst, Davin. Meine Geduld ist nicht unerschöpflich. Jetzt geh, übergib deine Kunden an Kevin und nimm dir ein paar Tage frei. Ich will dich hier zwei Wochen lang nicht mehr sehen.“
Mit einem letzten bösen Blick in die Richtung seines Vorgesetzten steht Davin auf und zieht sich zurück. Als er das Großraumbüro betritt, heften sich sämtliche Blicke auf ihn. Anscheinend hat es sich bereits herumgesprochen und wahrscheinlich dürfte auch das ein oder andere zu hören gewesen sein. Davin strafft seine Schultern, ignoriert die Blicke, geht zu seinem Schreibtisch und setzt sich seufzend hin.
„So schlimm?“ Daniela ist aufgestanden und baut sich neben ihm auf, legt ihm ihre Hand auf die Schulter.
„Schlimmer. Stockman hat mich vorübergehend suspendiert und für zwei Wochen in den Zwangsurlaub geschickt.“
„Was? Das kann er doch nicht tun. Was für ein Idiot. Aber sag, was ist denn überhaupt passiert?“
Seufzend fährt sich Davin durchs Haar. „Die Kurzfassung? Ich bin gestern total abgestürzt, habe Mendosa auf der Straße angerempelt und ziemlich vulgär angemacht.“
„Oh, scheiße. Und jetzt hat das bigotte Arschloch Zeter und Mordio geschrien und Stockman hat ihm gegeben, was er verlangt?“
„Du hast es erfasst und dreimal darfst du raten wer diesen Account übernimmt.“
„Aber nicht Kevin?“ Entsetzt runzelt Daniela die Stirn und verdreht die Augen.
„Die Kandidatin hat 100 Punkte.“
„Boah, nein, ausgerechnet dieser schleimige, widerliche Kerl, der alles anmacht, was einen Busen hat und nicht bei drei auf den Bäumen ist. Dieser Typ ist ein …“ Daniela unterbricht sich, weil jemand neben sie an den Schreibtisch tritt. Als sie entdeckt, wer neben ihr steht, läuft sie rot an und verstummt.
„Hey, Leute.“ Kevins Stimme trieft förmlich vor Überheblichkeit, während sein Lächeln berechnend ist wie das eines Hais. „Danke für den Mendosa-Account, Dave.“ Obwohl ihm die Hintergründe wohl bekannt sein dürften, formuliert er seinen Satz so, als ob Davin ihm den Millionär aus reiner Nächstenliebe übergeben hätte. „Peter hat mich darüber informiert, dass ich auch deine anderen Kunden während deines Urlaubs übernehmen soll und Daniela mich unterstützen wird. Wäre ich nicht der beste Anlageberater, den diese Firma zu bieten hat, würde mich diese Herausforderung in die Knie zwingen, aber so sollte das kein Problem sein.“
„Ich soll für dich arbeiten?“ Daniela wirkt über diese Neuigkeit fast noch geschockter, als darüber, dass Kevin alle von Davins Kunden zugesprochen bekommen hat.
„Genau, Süße. Für einen richtigen Mann mit einem harten Schwanz und dicken Eiern. Du bist sicher froh, wenn du mal in den Genuss eines richtigen Kerls kommst.“
Davin steht unvermittelt auf und baut sich dicht vor Kevin auf. „Hast du etwas gesagt, Arschloch?“ Die zwei stehen sich wie Kampfhähne gegenüber und funkeln sich an.
„Dass du ein kleiner, schwuler Verlierer bist, der es einfach nicht packt und es nie zu etwas bringen wird. So jemand wie du, Dave, ist einfach nicht für den Druck und den Stress gemacht, den dieser Job mit sich bringt. Darum säufst du dir das Hirn weg und machst deinen besten Kunden an, weil du ein Nichts bist.“
Davin schlägt zu.
Den umstehenden Kollegen entweicht ein erschrockenes Keuchen, während sich Davin, selbst erstaunt über seinen plötzlichen Gewaltausbruch, die schmerzenden Knöchel reibt.
Überrascht von der Heftigkeit des Schlages, kippt Kevin nach hinten und landet ziemlich unsanft auf Davins Schreibtisch – einige Stifte fallen zu Boden. Mit entsetztem Gesichtsausdruck hält er sich die blutende Nase und sieht sein Gegenüber mit großen Augen an. „Das wird dir noch leidtun, hast du gehört?“ Kochend vor Wut stemmt sich Kevin hoch und versucht auf Davin loszugehen, doch einige seiner Arbeitskollegen halten ihn zurück. „Dich mache ich fertig, du kleiner Feigling“, droht er, die Faust in Davins Richtung erhoben.
„Genug!“ Peter Stockmans Stimme erstickt den Tumult im Keim. „Davin, Kevin, in mein Büro. Sofort!“ Die beiden Streithähne folgen dem Firmeninhaber aus dem Großraumbüro, in dem beinahe augenblicklich eine aufgeregte Diskussion losbricht, die sie aber nicht mehr mitbekommen. „Ich bin schlicht fassungslos, dass sich zwei meiner besten Kundenberater prügeln. Was habt ihr euch dabei gedacht?“
„Diese schwule Sau hat mich angegriffen.“ Kevin schnaubt vor Wut und Entrüstung, während er mit seinem Zeigefinger auf Davin deutet und sich gleichzeitig ein Taschentuch gegen seine Nase hält.
„Davin, was hast du dazu zu sagen?“
„Ich bin ausgetickt, nachdem mich Kevin aufs gröbste beleidigt und beschimpft hat.“
„Ich zeige dich wegen Körperverletzung an, du Schwuchtel.“
„Und ich dich wegen homophoben Äußerungen, Verleumdung und Rufschädigung.“
„Das will ich sehen, du …“
„Schluss jetzt!“ Stockman ist nicht gerade für seine Geduld bekannt, und der letzte Rest davon scheint sich in diesem Moment zu verflüchtigen. „Ich habe genug von eurem kindischen Benehmen. Davin, schaffst du es, Kevin deine Kunden zu übergeben, oder nicht?“
„Ja, natürlich!“
„Und Kevin, denkst du, dass du von Davin die Accounts übernehmen kannst, ohne ihn zu beleidigen?“
„Irgendwie geht das sicher!“
„Ich dulde keine Gewalt und keine Beschimpfungen in meinem Unternehmen. Darum bekommt ihr beide eine schriftliche Abmahnung, die auch im Personaldossier abgelegt wird.“
Ruhe kehrt ein.
„Also, Davin, du überträgst deine Kunden und dann bist du hier weg. Zwei Wochen.“
„Verstanden, Peter.“
„Gut, dann verschwindet jetzt und wenn ich höre, dass ihr euch heute noch einmal in die Haare kriegt, seid ihr beide raus. Kapiert?“
„Ja“, echoen beide Männer im Chor.
Nachdem zwei Stunden später alle Kunden übergeben worden sind, verabschiedet sich Davin von Daniela und verlässt das Hochhaus, in dem sein Arbeitgeber eine gesamte Etage gemietet hat. Als er unten auf der Straße in der Kälte steht und sich das aus Glas und Stahl gefertigte Gebäude ansieht, wird ihm klar, dass er hier nichts mehr zu erwarten hat.
Beim nächsten Liquor Store deckt er sich mit Hochprozentigem ein, bevor er den kleinen Dealer besucht, der ihn seit ein paar Jahren mit qualitativ hochwertigem Kokain versorgt, das er sich regelmäßig in die Nasenhöhlen zieht. Der Latino verkehrt stets im gleichen Lokal und ist einfach zu finden. Das Verkaufsgespräch wird ohne ein einziges Wort zum Abschluss gebracht: Nachdem der Augenkontakt hergestellt ist, erfolgt von beiden Seiten ein Nicken, das Geld sowie die Drogen wechseln die Hände und schon ist die Transaktion beendet.
Einfach und simpel.
Nach dem zweiten Drink, den er sich in einem Zug in die Kehle schüttet, zahlt Davin beim Barkeeper und verlässt die Spelunke in Richtung seines Zuhauses. San Francisco ist zu jeder Jahreszeit schön, doch im Moment wirkt hier alles ein wenig trostlos. Viel Beton, Metall und Glas. Kalt und abstoßend. Mit dem Aufzug fährt Davin in die achte Etage des Wohnkomplexes und schließt die Wohnungstür auf. Für ein paar Minuten steht er einfach nur im Flur, lässt seinen Blick durch die geräumige, ansprechend ausgestattete Wohnung gleiten, während die Tür hinter ihm noch immer offensteht. Die Melancholie droht sein alkoholgeschwängertes Gehirn zu überfluten und ihn an einen Ort zu ziehen, von dem es kein Entrinnen mehr gibt.
Niemand hier, der auf mich wartet oder sich freut, dass ich zu Hause bin. Nicht mal eine verdammte Katze. Was bringt mir eine 150 qm Wohnung, wenn ich niemanden habe, mit dem ich den Ausblick genießen könnte?
Voll bekleidet lässt er sich in die Couch fallen, bevor er aus der Plastiktüte den Fusel hervorkramt. Während er auf dem Beistelltisch ein einigermaßen sauberes Glas zur erneuten Benutzung sucht, schraubt er den Deckel von der Flasche und entscheidet sich dann, dass es schneller geht, wenn er sich nicht die Mühe macht, den Scotch in ein Glas zu schütten. Der Alkohol rast durch seine Blutbahn und löst das wunderschöne, warme Gefühl aus, das er so sehr schätzt. In einer ziemlich ungelenken Bewegung schwingt er seine Füße auf den mit Gläsern und Fastfood-Resten vollgestellten Tisch. „Mein Leben ist ein einziges Scheißloch“, grummelt er, bevor er einen weiteren tiefen Zug nimmt.
Nachdem er sich erneut zwei Lines mit Koks in die Nase gezogen hat, verliert er für ein paar Sekunden das Bewusstsein und findet sich in einem fußballstadiongroßen Raum wieder, in dem es absolut nichts gibt, außer ihm. Keine anderen Menschen, keine Tiere, kein Leben. Da ist nur er und sonst nichts. Schreiend, weinend und fluchend, beginnt der junge Mann durch den einsamen Raum zu laufen, auf der Suche nach einem auch noch so klein gearteten Zeichen von Leben. Doch er findet nicht einmal ein verdammtes Insekt. „Hilfe, warum hilft mir denn niemand? Ich will nicht allein bleiben! Ich will Liebe, einen Mann an meiner Seite! Hey, hallo?“
Nichts.
Außer seiner Stimme, die von der unendlich scheinenden Leere widerhallt, ist es mucksmäuschenstill. Die skurrile Umgebung, in der er sich befindet, verändert sich erneut. Nun steht Davin auf einem mehrere Stockwerke hohen Gebäude und starrt ins Nichts. Die Großstadt, in der dieses Hochhaus steht, wirkt verlassen. Auf den Straßen gibt es kein einziges Auto, kein Fahrrad und kein Anzeichen von Leben.
Leere.
In Davins Hand befindet sich eine Flasche mit Hochprozentigem, von dem er immer mal wieder einen Schluck nimmt, um die Unwirklichkeit, die ihn umgibt, besser ertragen zu können. „Was soll das hier?“, brüllt er so laut er kann in die Stille. „Soll das eine Art Zeichen oder eine Bestrafung sein?“
Plötzlich taucht neben ihm ein anderer Mensch auf. Als Davin ihn sich genauer ansieht, durchzuckt ihn eine bedrückende Erkenntnis: Er selbst steht dort. Ein ferngesteuerter, ziemlich abgemagerter Davin, der sich mit unendlich traurigen Augen umsieht und dann einen beherzten Schritt macht. Die dunklen Augenringe, das ausgemergelte Gesicht und die dünnen Arme sprechen eine sehr deutliche Sprache: So wirst du aussehen, wenn du nicht endlich mit den Drogen und dem Alkohol aufhörst.
Davin sieht seinem ausgezehrten Ich dabei zu, wie es langsam auf den Abgrund zugeht. Schritt für Schritt an den Rand des Daches, immer weiter und weiter. Der drogenabhängige Davin lehnt sich über den Rand, um sich anzusehen, wie viele Meter ihn vom sicheren Tod auf dem harten Asphalt der Straße trennen. Mit einem zufriedenen Lächeln sieht er erneut in Davins Richtung, bevor er die Augen schließt und den letzten Schritt macht. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verschwindet die erschöpfte Gestalt aus Davins Sichtfeld. „Nein!“, brüllt er aus Leibeskräften, während er selbst einen Schritt auf den Abgrund zu macht, um den Drogen-Davin festzuhalten.
Doch er kommt zu spät.
Vorsichtig und ängstlich schiebt sich Davin immer dichter an den Rand des Dachs, um einen Blick zu wagen. Als er endlich genug Mut gefasst hat, um die 20 Meter in die Tiefe zu blicken, verschlägt es ihm beinahe die Sprache. In einer massiven Blutlache, mit zertrümmerten Knochen, liegt er selbst dort. Die Augen des Toten sind offen und starren Davin direkt an. Einsamkeit und Ausweglosigkeit stehen überdeutlich in ihnen geschrieben.
„Nein! Nein!“
In diesem Moment wacht Davin auf und sieht sich irritiert in seiner Wohnung um. Mit einem beherzten Griff an seinen Kopf versichert er sich, dass er noch lebt, bevor er bemerkt, dass sich etwas Feuchtes an seinem Bein ausbreitet. Ein Blick auf die Couch offenbart, dass ausgelaufener Scotch seine Anzughose tränkt und über das Leder seines Sofas rinnt. „Ach, verdammt noch mal.“ Davin steht auf und beginnt, die Sauerei mit einer Serviette zu beseitigen.
Da fällt sein Blick auf die offene Eingangstür.
Fremdgesteuert bewegt er sich auf die Tür zu, die Scotch-Flasche fest mit der linken Hand umklammert. Der Aufgang zum Dach steht offen, ist nicht mit einem Schloss verriegelt, wie sonst immer.
Ein Zeichen?
Langsam und schwankend schleppt er sich die wenigen Stufen hoch, bevor er einen Ort betritt, der gleichzeitig surreal und trostlos wirkt. Beton, Kies, Schornsteine und quadratische Außenstationen von Klimaanlagen. Vorsichtig bewegt er sich Richtung Dachkante und hört schon von weitem den Lärm der brodelnden Stadt zu seinen Füßen. Eisiger Wind zischt ihm um die Ohren, lässt ihn erbeben und zurückweichen.
Die schiere Höhe ist überwältigend.
Panik schießt ihm in die Glieder. Doch er fängt sich und streckt die Arme aus. Fünfzehn Stockwerke trennen ihn von der Straße. In diesem Moment fühlt er sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Noch einen Schritt weiter. Die Spitzen seiner Schuhe ragen bereits einige Zentimeter über die Kante des Dachs. Ein kräftiger Windstoß würde genügen, um ihn abstürzen zu lassen. Davin sieht sich um und starrt in die Ferne. Von hier oben sieht die Welt so unheimlich klein aus und sämtliche Probleme erscheinen nichtig. Die Sicht ist großartig und die Vorstellung einfach loszulassen und zu fliegen, lockt ihn.
Erneut fällt sein Blick auf die Straße, bevor er die Lider schließt. Auf einmal beginnt sein bisheriges Leben wie ein Film vor seinem geistigen Auge abzulaufen. Er sieht sich als glückliches Kind in seinem Elternhaus, erlebt erneut den schrecklichen Unfall, bei dem seine Schwester gestorben ist, sieht sich trauern, weinen und verzweifeln. Dann ein Zeitsprung. Davin studiert an der Universität Finanzwissenschaften und Banking, hat einen neuen Plan für sein Leben, ein Ziel. Asset Manager. Immer wieder verschwimmen die Zeiten und Epochen miteinander, sprunghafte Rückblenden vermischen sich mit neueren Eindrücken. Davin allein in seiner Wohnung, Mendosas und Peters Worte prasseln wie Ohrfeigen auf ihn ein. Die Einsamkeit, in der er gefangen ist, schnürt ihm die Kehle zu.
Tränen steigen in seinen Augen auf.
Ich will nicht mehr allein sein. Ich will geliebt werden und lieben. So, wie es jetzt ist, kann und will ich nicht mehr weitermachen. So geht es einfach nicht.
In diesem Moment erfasst ihn ein derart starker Windzug, dass er das Gleichgewicht verliert und vornüber vom Gebäude zu stürzen droht. Mit aller Kraft versucht er, das zu verhindern und rudert verzweifelt mit den Armen.
Viel hätte nicht mehr gefehlt und es wäre vorbei gewesen.
Erneut rauschen vor seinem geistigen Auge die Erfahrungen seines bisherigen Lebens an ihm vorbei, doch dieses Mal deuten sie in eine andere Richtung. Sie verdeutlichen ihm, dass er sein Leben steuern kann, entscheidet, wie er leben will und mit wem er es verbringen möchte. Mit Mühe gelingt es ihm schließlich, sich auf der Dachkante zu stabilisieren.
Entsetzt tritt er einen Schritt zurück.
„Ich will noch nicht sterben!“ Dieser Ausrutscher hat ihm veranschaulicht, dass er noch nicht am Ende ist. Alles, was in seinem Leben nicht stimmt, kann zum Besseren verändert werden.
Ich habe es in der Hand!
Er macht einen weiteren Schritt weg vom bedrohlichen Abgrund. Nur weg von diesem Ort und der Versuchung. Sein Blick fällt auf die Alkoholflasche, die er noch immer umklammert hält. Mit einem Seufzen schleudert er sie in eine Ecke, wo sie zerspringt. Die karamellbraune Flüssigkeit verteilt sich zusammen mit den Scherben des Glases auf dem Dach.