Kapitel drei ღ
Am nächsten Morgen fährt Davin voller Tatendrang an seinen Arbeitsplatz, um das Gespräch mit dem Firmengründer und Inhaber von Stockman Trading
zu suchen.
„Davin, was machst denn du hier?“ Das Erstaunen des Vorgesetzten als er seinen Angestellten in der Tür stehen sieht, ist nicht gespielt. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt: Ich will dich …“
„Jaja, du willst mich zwei Wochen nicht mehr sehen“, beendet Davin Peters Satz, tritt ein und schließt die Tür hinter sich. „Wenn du mir ein paar Sekunden deiner kostbaren Zeit schenkst, werde ich dich von einer Last befreien.“ Mit einem selbstgefälligen Lächeln setzt er sich in einen der knirschenden Ledersessel und sieht sein Gegenüber auffordernd an.
„Von welcher Last willst du mich denn erlösen?“
„Na von mir. Ich werde die Firma verlassen und dir weitere Auseinandersetzungen mit homophoben Kunden ersparen“, erwidert er. Geradezu entspannt schlägt er die Beine übereinander und so fühlt er sich auch.
Stockman reibt sich über die Glatze und seufzt. „Warum musst du bloß immer übertreiben? Ich brauche dich.“
„Das hat gestern anders geklungen und ganz ehrlich: Ich habe keinen Bock mehr. Aber ich gehe nicht einfach so, ich will für die harte Arbeit, die ich in den letzten Jahren geleistet habe, eine angemessene Entschädigung.“
„Du drohst mit der Kündigung und willst dann auch noch Geld dafür?“ Peters Lachen wirkt grotesk.
„Selbstverständlich. Wie nennt man das? Goldener Fallschirm? Abgangsentschädigung? Wiedergutmachung? Such dir einen Begriff aus, der für dich am besten umschreibt, was ich verdient habe, nachdem ich dir Millionen von Kundengeldern und Gebühren in den Rachen geschwemmt habe.“
„Davin, so kannst du nicht …“
„Ich kann und ich werde. Du gibst mir einen Scheck, dafür musst du mich nie wiedersehen und Mendosa hat keinen Grund, den Ruf der Firma durch den Schmutz zu ziehen. Das nenne ich eine Win-win-Situation.“ Davin kann förmlich sehen, wie die Zahnräder im Kopf des Firmeninhabers zu rotieren beginnen. „Du glaubst nicht wirklich, dass er mit einer zweiwöchigen Suspendierung zufrieden gestellt ist, oder? Er wird weitere Forderungen stellen und irgendwann wirst du mich doch rauswerfen müssen. Ich offeriere dir eine einfache Exit-Strategie auf dem silbernen Tablett.“
„Was schwebt dir vor?“
„Ich bin sicher, dass du eine angemessene Summe finden wirst.“
Peter nickt zustimmend, bevor er sein Scheckbuch zückt und den teuren Schweizer Kugelschreiber in die Hand nimmt, damit herumspielt. „Was wirst du jetzt tun, Davin?“
„Ich werde reisen, die Welt entdecken und mich dann irgendwo niederlassen, wo es mir gefällt.“
„Das klingt nach einem guten Plan. Und die Finanzbranche?“
„Die kann mir gestohlen bleiben.“
„Und du bist dir 100 prozentig sicher? Ich möchte dich nicht verlieren und noch einmal betonen, dass du mein bester Mitarbeiter bist. Dennoch muss ich auch auf den Ruf meines Unternehmens achten und darum nehme ich dein Angebot an, sofern das wahrhaftig dein Wunsch ist.“
„Ich bin sicher. Dieses Leben hat seinen Tribut gefordert und nachdem ich gestern Nacht beinahe eine große Dummheit begangen hätte, steht meine Entscheidung fest.“
Peter Stockman nickt, schreibt eine Summe auf den Vordruck, unterzeichnet ihn und reißt den Scheck vom Block.
Davin streckt seine Finger nach dem Wertpapier aus, das kaum größer als ein Notizzettel ist, und wirft einen beinahe beiläufigen Blick auf die Summe. Trocken schluckend sieht er seinen Vorgesetzten an. „Das ist sehr großzügig.“
„Du hast es dir verdient, Davin.“ Mit diesen Worten erhebt sich der Firmeninhaber aus seinem Chefsessel und gibt Davin die Hand. „Danke für deinen Einsatz und dafür, dass du diese Firma zu dem gemacht hast, was sie heute ist.“ Die Männer gehen langsam Richtung Tür. „Wohin verschlägt es dich als erstes?“
„Ich wollte schon immer mal nach Vietnam.“
„Ein schönes Land, genieße die Zeit und lass mal was von dir hören. Ach und verabschiede dich doch bitte noch von Daniela, ich bin sicher, dass sie sich darüber freuen würde.“
„Denkst du, dass ich gehen würde, ohne ihr Lebewohl zu sagen? Du hast vielleicht eine Meinung von mir …“
Stockman lacht und schüttelt den Kopf. „Nein, das denke ich nicht, aber du warst in den letzten Wochen und Monaten nicht du selbst, das haben wir alle gespürt, daher dachte ich einfach, dass ich es erwähne.“
„Ach, da fällt mir ein: Wenn du sie nicht auch noch verlieren willst, solltest du ihr Kevin ersparen. Den Kerl kann hier wirklich niemand ausstehen und sie hat Besseres verdient. Sie ist nämlich sehr talentiert und äußerst engagiert.“
„Danke, dass du mich darauf aufmerksam machst. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Danke, Peter, mach‘s gut.“
„Du auch.“
Davin macht sich auf den Weg zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz und entdeckt schon von weitem Kevin, der neben Daniela steht und sie anzuschreien scheint – die Körpersprache der beiden spricht Bände. Mit einem Kopfschütteln tritt Davin neben den schleimigen Typen, dessen Stimme in ihm unweigerlich das Verlangen auslöst, zuzuschlagen.
Doch er hält sich zurück.
„Gib der armen Daniela auch mal ein bisschen Zeit, um sich von dir zu erholen, Kevin, und lass uns kurz für ein paar Minuten allein.“
Ein überhebliches Lächeln aufsetzend, dreht sich Kevin zu dem Neuankömmling um und schüttelt den Kopf. „Sieh an, sieh an, wer da unter seinem Stein hervorgekrochen ist. Dave, die Tucke. Bist du hier, um mir noch ein paar Accounts zu übergeben? Hast du gestern Abend wieder jemanden angebaggert, der sich nun nicht mehr von dir betreuen lassen will?“
„Ach, Kevin, lass gut sein. Ich möchte mich noch für gestern entschuldigen. Der Schlag auf dein operiertes Näschen, das war nicht korrekt von mir und es tut mir leid.“
„Sieh an, bist du zur Vernunft …“
„Und jetzt bitte, langweile uns nicht länger mit deinem leeren Lächeln und den hohlen Floskeln, sondern verzieh dich. Danke.“
Die Hände zu Fäusten ballend, baut sich Kevin vor Davin auf. „Was hast du gesagt?“
„Meine Güte, verschwinde einfach!“, mischt sich nun Daniela in das Gespräch ein, während sie aufsteht und Kevin unsanft nach hinten stößt.
„Ihr seid das Letzte!“, murrt dieser, bevor er sich wild gestikulierend an seinen Schreibtisch zurückzieht.
„Was tust du denn hier? Geht es dir nicht gut?“
Davin beginnt seine persönlichen Dinge aus den Schränken zu kramen und in die mitgebrachte Tüte zu legen. „Ich bin hier, um meinen Arbeitsplatz zu räumen.“
Mit entsetzten Augen und einem großen Fragezeichen im Gesicht, schlägt Daniela die Hände vor den Mund. „Was? Nein! Hat Stockman dich gefeuert?“
„Nein, ich habe gekündigt“, beschwichtigt sie Davin.
„Du hast was? Obwohl, das ist eigentlich keine große Überraschung.“ Daniela hat sich schnell wieder unter Kontrolle.
„Warum ist es keine Überraschung?“
„Weil du dich in den letzten Wochen und Monaten verändert hast und es offensichtlich war, dass dir dein Job nicht mehr gefällt. Um ehrlich zu sein, bin ich froh, dass du diesen Schlussstrich gezogen hast, weil ich mir wirklich langsam Sorgen um dich gemacht habe.“
„Sorgen?“, hakt Davin nach, während er die Tüte auf den Boden stellt und sich mit seinem Stuhl neben Daniela rollt.
Diese lächelt scheu. „Drogen, Davin. Es war glasklar und ich hätte dich auch bald darauf angesprochen, aber irgendwie, na ja, ich wusste nicht, wie und wann ich es anbringen soll.“ Sie seufzt. „Obwohl nein, Fakt ist, ich war wohl einfach zu feige.“
„Das hast du mitbekommen?“ Auf Davins Gesicht zeigt sich überdeutliches Erstaunen. „Ich dachte eigentlich, dass ich es gut verborgen habe.“
„Hast du nicht. Erstens warst du danach immer völlig verändert, und das eine oder andere Mal habe ich weißes Pulver auf deinem Jackettkragen gesehen.“ Das Gespräch verebbt für eine kurze Weile, da beide ihren Gedanken nachhängen. „Was wirst du jetzt machen?“
Davin entweicht ein Lachen. „Ich werde die Welt bereisen. Beginnen werde ich mit Vietnam, da wollte ich schon immer mal hin.“
„Das ist ein wirklich toller Plan, Davin. Abschalten und entspannen, das wirkt Wunder. Ich wünsche dir auf deinem weiteren Weg alles Gute und ganz viel Glück. Schickst du mir eine Postkarte?“
„Natürlich, das kann ich gerne machen.“
„Aber schick sie mir bitte an meine Privatadresse, denn hier werde ich wahrscheinlich nicht mehr lange erreichbar bleiben.“
„Warum denn das?“ Davin ist sichtlich geschockt.
„Denkst du, dass ich für dieses Arschloch arbeiten will? Du bist der einzige Grund, weshalb ich geblieben bin, auch wenn du in den letzten Wochen ein ziemliches Aas gewesen bist. Da du nun weggehst, hält mich nichts mehr.“ Beide erheben sich und stehen eine Weile voreinander. „Pass auf dich auf, Davin.“ Damit schließen sie sich in die Arme.
„Du auch. Danke für alles. Du hörst von mir.“ Als Davin das Bürogebäude verlässt, in dem er seit fünf Jahren Überstunden geschoben und Millionen gescheffelt hat, fällt eine ungeheure Last von ihm ab, die er bislang gar nicht als solche wahrgenommen hatte. Doch nun, da er seinen Job gekündigt hat, fühlt er sich federleicht, frei und voller Tatendrang.
Zwei Straßen weiter betritt Davin das erstbeste Reisebüro, in dem er sich beraten lassen will. Zu seinem Glück ist der Inhaber der kleinen Reiseagentur ein Asien-Fan und damit bestens mit den Gegebenheiten Vietnams vertraut. Überschwänglich erzählt er Davin, wie langsam sich das Land von den Folgen des Jahrzehnte zurückliegenden Krieges mit den USA erholt. Armut, Kommunismus und ein desolates Gesundheitssystem, um nur einige der gravierendsten Probleme zu nennen, die Vietnam und seine Bürger geißeln. Auf ein Visum müsste Davin entweder eine Woche warten, oder aber er beantragt es direkt bei der Einreise. Das wird eigentlich nicht gern gesehen, stellt jedoch eine passable Alternative für Leute dar, die wenig Zeit haben.
Eine perfekte Lösung.
Nachdem er dem Reiseberater einen Scheck über die gesamte Summe ausgestellt hat, macht er sich auf den Weg zur Bank, um seine Abgangsentschädigung einzuzahlen. Die Frau am Schalter verlangt Davins Ausweis, bevor sie das Wertpapier entgegennimmt, um die Gutschrift auf sein Konto in die Wege zu leiten. Während Davin geduldig wartet, vibriert sein Smartphone in seiner Hosentasche. Die Boardingkarte und eine E-Mail vom Reisebüro mit weiterführenden Informationen ist eingetroffen. Zufrieden und glücklich macht er sich auf den Weg nach Hause, um den Tag ausklingen zu lassen und zeitig ins Bett zu gehen.
Morgen geht es früh los.
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Davin hat schon lange nicht mehr derart gut und tief geschlafen, wie in dieser Nacht. Ohne die Last, die von seinen Schultern genommen worden ist, hat er wie ein Baby geschlummert. Und obwohl sich an seinem Leben, abgesehen von seinem Beruf, nicht viel geändert hat, spürt er bereits, wie er aufblüht und wieder neuen Mut für seine Zukunft fasst.
Auf in die Ferne.
Das Taxi bringt ihn um 6 Uhr am nächsten Morgen zum Flughafen. Davin hat Glück. So früh am Morgen, und noch dazu an einem Donnerstag, ist am San Francisco International kaum Betrieb und so fressen weder das Check-in, noch die anschließende Sicherheitskontrolle wertvolle Zeit. Als er schließlich an seinem Gate auf das Boarding wartet, lässt er seinen Blick aus den deckenhohen Fenstern in die Ferne schweifen. Die Landebahnen ragen auf je einer Seite auf das offene Meer hinaus, was vor allem den Landeanflug in ein überwältigendes Spektakel verwandelt. Die Reise von San Francisco über den Incheon Airport in Südkorea nach Hanoi wird 19 Stunden verschlingen. Eine lange Zeit, die Davin dafür verwenden möchte, den ganzen Stress der vergangenen Jahre von sich abfallen zu lassen und sich auf seinen Urlaub zu freuen. Doch wie so oft, kommt es anders, als gedacht, und er verschläft den Großteil der Flugzeit.
Noi Bai nahe Vietnams Hauptstadt Hanoi, ist der zweitgrößte Flughafen des Landes und empfängt seine Besucher mit einer luftigen, aufgeräumten Architektur. Doch beim genaueren Hinsehen wird schnell klar, dass man sich in einem armen Land befindet, das an allen Ecken und Enden zu sparen versucht. Die meisten der zahlreich vorhandenen Rolltreppen und Beförderungsbänder sind außer Betrieb und die verbauten Materialien wirken alles andere als hochwertig.
„Guten Tag, ich würde gerne ein Visum beantragen“, begrüßt Davin die Einreisebeamtin an dem sicherheitsverglasten Schalter mit einem gewinnenden Lächeln und schiebt ihr seinen Pass über den Tresen zu. Die hagere Frau mustert ihn kritisch, bevor sie das Telefon in die Hand nimmt, höchstwahrscheinlich um sich Hilfe zu holen. Ein gedrungener Mann erscheint kurz darauf und zusammen schaffen es die beiden Vietnamesen Davins Visumsstatus innerhalb einer halben Stunde abzuklären. Nachdem er den geforderten Betrag bezahlt und die Formulare unterzeichnet hat, wird ihm der langersehnte Stempel in den Pass gedrückt. Nun darf er offiziell in die sozialistische Republik Vietnam einreisen, um das Land und seine Schätze zu erkunden.
In der unübersichtlichen Menge an Menschen, die im Empfangsbereich mit ihren Schildern wedeln, ist es ein äußerst schwieriges Unterfangen, sich zur Straße durchzukämpfen, um ein Taxi zu ordern. Doch nach ein bisschen schieben und drängeln, hat es Davin schließlich nach draußen geschafft und einen Wagen gefunden. Nachdem er dem Taxifahrer den Hotelnamen genannt und auf der Karten-App seines Smartphones gezeigt hat, wo es liegt, kann die Fahrt über die Schnellstraße in Richtung Hauptstadt losgehen. Vielleicht hätte der Mann auch gewusst, wohin er zu fahren hat, aber Davin geht lieber auf Nummer sicher.
Fasziniert beobachtet er die vorbeiziehenden Reisfelder sowie die altertümlichen Wagen und Mofas, die am Straßenrand entlang schleichen und teils abenteuerlich beladen sind. Irgendwie scheint in diesem Land jeder so zu fahren, wie es ihm passt. Verkehrsregeln? Fehlanzeige. Davin lacht, als er den ersten Roller mit vier Fahrgästen entdeckt.
Ich wusste gar nicht, dass man so viele Menschen mit einem Roller transportieren kann. Unvorstellbar. Und das, was ist das? Transportiert der wirklich zehn Sixpacks mit diesem kleinen Moped? Ha, ich flipp aus.
„Wir hier in Vietnam viel mit Roller unterwegs“, eröffnet der Fahrer das Gespräch auf Englisch, nachdem er Davins Reaktion auf das örtliche Verkehrstreiben bemerkt hat. Wahrscheinlich ist ihm das Erstaunen förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Ich finde es faszinierend. So etwas gibt es bei uns in den Staaten nicht.“
„Ist schnell und günstiger als Auto.“
„Aber ist das nicht gefährlich? Ich meine, eigentlich sind diese Dinger doch für maximal zwei Personen und nicht für eine ganze Familie ausgelegt.“
„Nein, nicht gefährlich, wir wissen, wie geht.“
Davin nickt und sieht weiter aus dem Fenster des Taxis. Langsam verwandelt sich die üppige Natur in eine Art Vorstadt, der Straßenverkehr wird dichter und der Lärmpegel schwillt drastisch an. Der Taxifahrer hat recht, es scheint nichts zu geben, das der moderne Vietnamese nicht mit dem Motorroller transportiert. Hühnerkäfige, Kisten mit Gemüse, Hausrat und Devotionalien, literweise Mineralwasser, ja sogar den Klopapierjahresvorrat. Staunend beobachtet Davin das chaotische Treiben und kann sich daran gar nicht sattsehen. Alle paar Meter gibt es eine neue Skurrilität zu entdecken, für die man in den USA schon längst verhaftet worden wäre, die aber hier an der Tagesordnung zu sein scheint.
Kurz nach Überquerung der Stadtgrenze steht das Taxi auch schon in einem zähen Stau. Überall wird gehupt und gedrängelt. Angetan von dem authentischen Leben in dieser Stadt, versucht Davin alles, was er sieht und erlebt, in sich aufzunehmen. Der Lärm ist erdrückend, die Abgase stechend und dennoch hat dieser Ort so viel mehr Charme, als alles, was ihm in den USA schon einmal begegnet ist. Nach einer halben Stunde Fahrt erreichen sie Davins Hotel. Er steigt aus, bedankt sich bei dem Fahrer und gibt ihm ein großzügiges Trinkgeld.
„Ich begleiten dich in Hotel.“
„Das ist wirklich nicht nötig, danke. Das ist gleich dort drüben“, wiegelt Davin ab, nimmt seinen Koffer und stellt sich an den Zebrastreifen mit Blick auf das Lichtsignal. Vor ihm schieben sich unzählige Motorroller und ein paar vereinzelte Autos vorbei. Fußgänger wuseln inmitten des Chaos zusammen mit Fahrradfahrern umher und verschärfen die Situation zusätzlich. Als die Ampel auf Grün schaltet, geht Davin los.
Ein Fehler.
In letzter Sekunde kann er zur Seite springen und sich in Sicherheit bringen, bevor er von einem Roller angefahren wird. Fluchend erhebt er sich und schüttelt den Kopf über die Dreistigkeit des anderen Verkehrsteilnehmers. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, wagt er erneut einen Anlauf und scheitert auch dieses Mal kläglich. Niemand hält an, obwohl es an ihm wäre, die Straße zu überqueren.
„Ich haben gesagt, ich dich bringen in Hotel. Kommen mit mir“, meldet sich erneut der Taxifahrer zu Wort, der dem Treiben die längste Zeit zugesehen hat. „In Hanoi man muss wissen, wie gehen über Straße. Ist nicht wie USA.“
Dankbar und dieses Mal ohne nur ein einziges Wiederwort nickt Davin dem Vietnamesen zu. Ohne auf Grün zu warten, geht dieser los, überquert einen Teil der Straße, hält an, geht weiter und schlängelt sich so durch den fließenden Verkehr. Davin sieht ihm mit großen Augen nach, während er noch mit sich ringt, ob er sich erneut in das Getümmel stürzen soll.
„Kommen, mein Freund. Einfach gehen. Blickkontakt mit Fahrern. Kein Problem“, ruft ihm der Taxifahrer zu.
Davin atmet durch, beschließt, dass er nichts zu verlieren hat und geht los. Mutigen Schrittes schlendert er auf die Straße und mitten in das Chaos hinein. Voller Erstaunen realisiert er, dass die Rollerfahrer einen Bogen um ihn machen. Immer wieder nimmt Blickkontakt auf und geht weiter. Die anderen weichen ihm gekonnt aus. Ganz einfach, wenn man weiß, wie es geht.
Was für ein Tohuwabohu.
„Genauso. Langsam und kontrolliert.“
Als Davin die gegenüberliegende Straßenseite erreicht und auf den Gehweg tritt, lacht er erleichtert auf. „Vielen Dank, für deine Hilfe.“
„Gerne, mein Freund. Mach’s gut.“
Davin blickt nach oben und entdeckt ein schmales Haus, an dem tatsächlich der Name seines Hotels prangt. Das Gebäude ist nur ungefähr zehn Meter breit, aber dafür acht Stockwerke hoch. Über Marmorstufen gelangt er in die klimatisierte Lobby, in der er sogleich freundlich empfangen wird. Als die Formalitäten erledigt sind, wird er in sein Zimmer geführt. Nachdem Davin dem Kofferträger ein Trinkgeld zugesteckt und sich etwas Leichteres angezogen hat, ist er bereit für die erste Stadterkundung. Bewaffnet mit einer GPS-basierten Stadtplan-App betritt er erneut den Gehweg. Ein Blick in die Höhe verrät, dass alle Häuser in Hanoi schmal und hoch zu sein scheinen. „Seltsam“, grummelt Davin, bevor der erste Shop seine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Ein, ja, was? Ein Glühbirnenverkäufer?
Und tatsächlich, das Geschäft führt lediglich Glühbirnen, in allen erdenklichen Größen, Formen und den unterschiedlichsten Watt-Angaben. Daneben ein Laden mit Lichterketten, gefolgt von einem Anbieter elektrischer Heizöfen. Fasziniert und gleichzeitig irritiert von all diesen kleinen Ein-Produkt-Händlern spaziert Davin weiter. Überall stehen Roller entweder vollständig oder teilweise auf den Gehwegen, sodass er an jedem zweiten Haus auf die viel befahrene Straße ausweichen muss, um überhaupt durchzukommen. Das anhaltende Hupkonzert nagt an seinen Nerven, aber trotz des Chaos, den dreckigen Bürgersteigen und dem drohenden Verkehrskollaps, empfindet Davin Hanoi als unheimlich charmant. Die schmalen Häuser, die Leute, die zahllosen Mofas und Roller, einfach bezaubernd. Ein Stand mit Glückwunschkarten zieht Davins Aufmerksamkeit auf sich. Auf einem Tisch liegen unzählige aus Papier gefertigte Klappkarten, jede ein Meisterwerk für sich. Beim Öffnen zeigen sie eine aufwendig gestaltete Figur, wie zum Beispiel einen Drachen, einen Kirschbaum oder eine Pagode. Schließt man die Karte, sieht man nichts von dem Wunder, das sich darin befindet und sich beim Öffnen entfaltet. Davin kann kaum glauben, wie fein diese scherenschnittartigen Mitbringsel daherkommen.
Farbenfroh und vielfältig.
Auf Englisch bedankt sich Davin für die Möglichkeit, diese einzigartigen Souvenirs ansehen zu dürfen, kauft zwei und geht dann einen Laden weiter, der erneut nur Elektronikartikel eines einzigen Typs anbietet.
Irgendwie seltsam.
Davin entscheidet sich, in eine Seitenstraße abzubiegen, um dem Gestank und Lärm der Motorroller für ein paar erholsame Minuten entfliehen zu können. Nachdem er den Drahtseilakt über die Fahrbahn erneut hinter sich gebracht hat, steht er in einer komplett anderen Welt. Irritiert sieht er sich um, denn anscheinend ist er hier in der Nähbedarfsstraße gelandet. Das erste Geschäft zu seiner Linken bietet Reißverschlüsse in allen Längen und Farben an, während dessen Nachbar Knöpfe im Überfluss feilbietet. So können sich Interessierte in diesem Straßenabschnitt mit allem eindecken, was sie zum Nähen brauchen. Kopfschüttelnd geht Davin weiter, begutachtet jeden Laden aufs Genauste und lächelt den Verkäuferinnen und Verkäufern zu. Als würde eine unsichtbare Grenzlinie die Viertel voneinander trennen, machen die Nähbedarfsgeschäfte nun den Devotionalienhändlern Platz. Buddha Statuen blitzen mit goldenen Schildern um die Wette, Räucherstäbchen verpesten zusätzlich zu den Fahrzeugabgasen die Luft, überall funkelt und glitzert es. Erleichtert, dass er endlich eine Art Café gefunden hat, versucht sich Davin auf einen Stuhl zu setzen. Gar nicht so einfach. Mit einem befremdlichen Gefühl und mit gerunzelter Stirn inspiziert Davin die Plastikstühle, die in großer Anzahl herumstehen.
Die in verschiedenen Farben vorhandenen Sitzgelegenheiten haben die Höhe von Kinderstühlen. Etwas umständlich setzt sich Davin und bestellt bei der Kellnerin ein Wasser. Auch die Tische sind auf Kindergröße getrimmt. Anscheinend sitzt man in Vietnam lieber in Bodennähe, anstatt auf richtigen Stühlen. Als Davin den ersten Schluck aus der inzwischen von der Café-Angestellten servierten Flasche nimmt, fällt sein Blick auf einen Mann, der am Straßenrand eine Art primitiven Schlüsseldienst betreibt. An einem Metallring befinden sich unzählige, ja tausende Schlüsselrohlinge, die er bei Bedarf an Ort und Stelle in seiner Fräsmaschine bearbeiten kann. Fasziniert, saugt Davin alle Eindrücke in sich auf. Frauen mit urzeitlichen Fahrrädern und riesigen, geflochtenen Körben auf dem Gepäckträger bieten von Früchten über Gemüse alles an, was die örtliche Landwirtschaft herzugeben scheint. Mit einem Messer werden lokale Früchte wie Pomelo oder Rambutan gleich vor Ort aufgeschnitten und angeboten.
Die Straße lebt.
Nachdem Davin sein Wasser bezahlt hat, schlendert er weiter Richtung Hoan Kiem. Dem See, der sich mitten in der Stadt nicht nur als Naherholungsgebiet für die Lokalbevölkerung etabliert hat, sondern mittlerweile auch Scharen von Touristen anlockt. Sicher vor Motorrollern, Bikes, Rikschas und sonstigen Verkehrsteilnehmern flaniert Davin an der Uferpromenade entlang. Hier herrschen bunt bepflanzte Blumenbeete, grüne Rasenflächen und zu Tierfiguren getrimmte Büsche vor. Mit seinem Handy schießt Davin Fotos vom See, bevor er sich die aus Holz gebaute, malerisch geschwungene, karmesinrote Bogenbrücke genauer betrachtet. Unzählige Menschen strömen über die jahrzehntealte Landverbindung, um den Göttern im Tempel Gaben und Gebete zu widmen. Ausgelaugt und müde von der langen Reise entscheidet sich Davin, eine Pause einzulegen, um etwas zu essen. Seufzend setzt er sich auf eine grüne Parkbank und will im Internet nach einem nahegelegenen Restaurant suchen. Nachdem er sich bei seinem Anbieter ein abartig teures Data-Roaming-Paket gekauft hat, kann es losgehen. Nach kurzem Surfen wird er fündig und als er sich umgesehen hat, ist ihm klar, in welche Richtung er gehen muss. Als er die viel befahrene Hauptstraße erreicht, hält ein Rikscha-Fahrer neben ihm und spricht ihn in einem gut verständlichen Englisch an.
„Willst du mitfahren?“