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Kapitel sechs
Der nächste Tag steht ganz im Zeichen von Ho Chi Minh, dem revolutionären Führer, der Vietnam zu einer demokratischen Republik gemacht und das Land durch den 20 Jahre andauernden Krieg zwischen dem Norden und dem Süden des Landes geführt hat. Mitten in Hanoi befindet sich das Mausoleum, in dem die sterblichen Überreste des Nationalhelden aufgebahrt liegen.
Es gehört zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
„Das ist aber lieb von deinem Cousin, dass er schon heute für dich eingesprungen ist.“ Davin ist überglücklich, dass er den Tag erneut mit Thian verbringen darf.
Dieser nickt lächelnd. „Na ja, lieb? Er ist einfach scharf auf die Kohle, darum ist er eingesprungen. Aber meinen Stammkunden kann ich heute leider nicht verschieben, den muss ich um vierzehn Uhr frisieren.“
„Kein Problem, das kriegen wir hin. Nicht, dass dem alten Herrn noch die letzten Haare ausfallen“, scherzt Davin, nachdem er von Thian erfahren hat, dass es sich bei seinem VIP um einen 89-jährigen Mann handelt.
„Hey, der ist noch ganz gut in Schuss. Jetzt komm, hör auf zu quatschen und sieh dir meine Überraschung an.“
Davin nickt und folgt Thian auf die Straße, auf der wie jeden Tag das organisierte Chaos herrscht. „Was ist das für eine Überraschung? Komm schon, spann mich nicht länger auf die Folter.“
Thian deutet auf einen ziemlich mitgenommenen Motorroller, der auf dem Gehweg vor dem Hotel geparkt ist. Einer Kraterlandschaft gleich, überziehen Beulen und Dellen das vor Dreck starrende Vehikel, das in den Staaten längst von der Polizei aus dem Verkehr gezogen worden wäre. „Tada!“
„Nicht dein Ernst, oder?“ Davin versucht, sein Entsetzen zu überspielen, setzt ein keckes Lächeln auf und schüttelt den Kopf. „Auf dieses Ding bringen mich keine zehn Pferde.“
Thian verdreht die Augen, reicht Davin den Zweithelm und steigt auf. „Na komm schon, du Angsthase. Ich fahre schon mit dem Teil, seit ich acht bin, hatte noch nie einen Unfall und auch sonst gab es nie Beschwerden.“
Davin seufzt resignierend, setzt sich den Helm auf und klettert ein wenig ungelenk hinter Thian. „Und das soll mich beruhigen? Ist diese Schüssel überhaupt verkehrstauglich?“
„Diese Schüssel
ist in einem perfekten Zustand und bringt uns in Nullkommanichts zum Mausoleum. Bereit?“, will der Vietnamese von seinem Fahrgast wissen.
„Kann losgehen.“ Sich krampfhaft an Thians schlankem Körper festhaltend, versucht Davin, seine Nerven in den Griff zu bekommen und dem Vietnamesen zu vertrauen. Es ist nicht nur der desolate Zustand des Rollers, sondern viel mehr das Chaos auf den Straßen der Stadt, das Davin beunruhigt. Die Rikscha war eine Sache, aber nun selbst durch den dichten Verkehr zu preschen, etwas ganz anderes.
Ach, was soll’s!
Wie ein wildgewordener Stier rast Thian los, fügt sich ohne Probleme in den Verkehr ein und biegt bereits an der nächsten Kreuzung nach rechts ab. Davin schließt für ein paar Sekunden die Augen und öffnet sie auch danach nur widerwillig. Der sehnige Körper, an den er sich klammert, fühlt sich warm an und der Duft, der von Thian ausgeht, lässt Davin zufrieden seufzen. Dem anderen so nahe zu sein und ihn an sich zu spüren, ist einmalig.
Vorwitzig lugt er an Thians rotem Helm vorbei, um einen Blick auf den Verkehr zu erhaschen.
Ein Fehler.
In diesem Moment muss Thian eine Vollbremsung durchführen und auf die Hupe drücken. Grund für das Manöver, ist ein mit einer Fotokamera bewaffneter Mann, der über den Zebrastreifen zu gehen versucht.
Davin wird richtiggehend an Thian gedrückt.
„Verdammter Tourist!“, flucht Thian, bevor er merkt, dass er einen eben solchen hinter sich auf dem Roller sitzen hat. „Oh, äh, entschuldige.“
Davin prustet los und entgegnet glucksend: „Kein Problem, ich nehme es dir nicht übel. Ob der arme Kerl den heutigen Tag überlebt?“
Thian schenkt ihm ein bezauberndes Lächeln, bevor er wieder nach vorne sieht und Gas gibt. Weiter geht die Fahrt vorbei an unzähligen Straßencafés, rostigen Fahrrädern, Motorrollern und Autos, bis Thian sein Gefährt neben einen hohen Baum auf den Gehweg fährt.
„Wir sind da“, verkündet er und stellt den Motor ab.
Davin und Thian spazieren zusammen an dem schmiedeeisernen Zaun entlang, der das Ho-Chi-Minh-Mausoleum umspannt und Unbefugte vom Betreten der Anlage abhalten soll. Dafür sorgen unter anderem diverse Wachposten und ein gefährlich aussehender Stacheldraht, der sich wie Efeu um die oberen Streben der Umzäunung rankt. Eine achtspurige Prunkstraße, auf der die Regierung regelmäßig Paraden abhält, zieht sich vom Grabmal her wie eine Schneise durch die Stadt und teilt sie in zwei Hälften.
An einem der gefühlt zwanzig Kassenhäuschen, von denen lediglich zwei besetzt sind, kaufen sich die Männer ihre Eintrittskarten. Die Frau an der Kasse reicht Davin die Tickets und verwickelt Thian dann in ein angeregtes Gespräch, was ihr dem Anschein nach einfacher fällt, als wenn sie dem Touristen alles auf Englisch hätte erklären müssen.
„Was wollte sie?“, erkundigt sich Davin, als sie gemeinsam in Richtung Ausgangspunkt der Führung spazieren.
Thian sieht ihn mit einem Augenzwinkern an. „Du hast nicht per Zufall eine Fotokamera in deiner Hosentasche, oder?“
„Nein, nur mein Smartphone.“
„Gut, dann habe ich die nette Frau ja nicht angelogen. Sie hat mir eingeschärft, dass du dein Handy unter allen Umständen in der Tasche lassen sollst. Es ist nämlich unter Strafe verboten, Fotos vom toten Ho Chi Minh zu machen.“
Davins Augen weiten sich, bevor er die Hände in die Hüften stemmt und zurückgibt: „Das ist doch nicht dein Ernst? Aber das Mausoleum darf ich schon fotografieren oder ist das auch illegal?“
„Sobald die Führung zu Ende ist. Vorher nicht. Sie hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass empfindliche Strafen auf alle warten, die sich nicht an das Fotografierverbot halten. Egal ob Tourist oder Vietnamese.“ Nach ein paar Metern gelangen die Männer an den Treffpunkt und stellen sich zu den Besuchern, die begierig darauf warten, den Toten im Glaskasten zu bestaunen.
„Ich habe schon gemerkt, dass das sehr staatsmännisch aufgezogen ist. Das ist das erste Mal, dass ich spüre, dass ich mich in einem kommunistischen Land aufhalte. All die Soldaten mit den Gewehren, die vielen Vorschriften und Verbote.“
„Das ist unser nationales Heiligtum und …“ Thian wird unterbrochen, als vier Armeeangehörige zu der kleinen Gruppe aufschließen und auf Englisch erklären, wie die Besichtigung der Grabkammer ablaufen wird. Die Gäste haben sich in Zweierreihe einzuordnen und den zwei vorausgehenden Soldaten zu folgen, während das zusätzliche Paar hinterher gehen wird, um zu überprüfen, dass niemand aus der Reihe tanzt.
„Das kann doch nicht deren Ernst sein“, flüstert er in Thians Ohr, wird dann aber eines Besseren belehrt, als sich der Gänsemarsch in Bewegung setzt. Im Stechschritt marschieren die Leadsoldaten los, während ihnen die Touristen etwas unkoordiniert folgen. Doch nach ein paar zurückgelegten Metern bildet sich eine Kolonne, über die sich der Tote im Glassarg freuen würde. Einem vorgegebenen Pfad folgend, werden die Besucher von der westlichen Seite her zum Eingang des Mausoleums geführt, an dem bewaffnete Soldaten Wache halten und jeden der Eintretenden genau mustern. Die Gruppe wird eine Treppe hochgescheucht und über eine Balustrade gelotst. Jeder Besucher hat nun während ein paar Sekunden die Möglichkeit, den toten und aufgebahrten Ho Chi Minh in seinem gläsernen Kubus zu bestaunen.
Stehen bleiben und fotografieren? Unmöglich.
Als Thian und Davin auf der Ostseite wieder aus dem Gebäude geführt werden, endet der Rundgang. Einer der Soldaten erklärt herrisch, dass es nun wieder gestattet sei, Fotos zu schießen, bevor er sich mit einem Salut verabschiedet und zusammen mit den anderen Genossen davonstolziert.
„Oh, mein Gott. So etwas habe ich noch nie erlebt“, prustet Davin los, der sich kaum mehr halten kann. „Im Gänsemarsch wirst du hier an einem Toten vorbeigeführt. Ich habe dir das zuerst nicht geglaubt, als du mir davon erzählt hast.“
Thian verdreht die Augen, nimmt Davin an der Hand und zieht ihn auf den ausladenden Platz vor dem Grabgebäude. „Ich habe dir doch gesagt, dass dieser Besuch während meiner Schulzeit zum Pflichtprogramm gehörte.“
„Hast du, aber so was glaubt niemand. Wenn ich nicht so große Angst davor gehabt hätte, dass sie mich abknallen, wäre ich unheimlich gerne aus der Reihe getanzt.“
Thian schüttelt den Kopf und stöhnt. „Gut, dass du es nicht getan hast. Ich hätte nämlich keine Lust gehabt, dich aus dem Militärgefängnis zu holen. Aber jetzt kommt das, wofür sich das alles gelohnt hat. Schau dir das an.“ Mit seinen Händen deutet Thian auf das Bauwerk.
„Wow, das sieht wirklich genial aus. Da hat sich der Besuch tatsächlich gelohnt“, schwärmt Davin, der die Ruhestätte bisher nur auf Bildern gesehen hat. „Komm, stell dich mal davor, dann mache ich ein Foto von dir.“
Das pompöse Mahnmal mit sechs Säulen pro Seite steht auf einem riesigen Sockel aus Sandstein, auf dem es sich über die Stadt erhebt. An dutzenden Masten flattern die roten Flaggen mit dem mittig ausgerichteten goldenen Stern im Wind. Unzählige Touristen in seiner Nähe versuchen ebenfalls, ihre Liebsten zu fotografieren, und suchen den besten Ort dafür.
„Geh noch ein wenig zurück, dann ist es perfekt“, instruiert er Thian, der geduldig tut, was man ihm sagt. „Super, hab’s. Machst du auch eins von mir?“
„Gib schon her.“
Der Vietnamese schnappt sich Davins Smartphone und lässt nun ihn vor dem Bauwerk hin und her tänzeln, bis der perfekte Standort gefunden ist. Danach verlassen die beiden das streng bewachte Gelände auf der östlichen Seite und betreten kurz darauf die Anlage, auf der sich neben einem großen Teich mit Koi-Karpfen auch das ehemalige Wohnhaus des Revolutionärs befindet. Obwohl sich die beiden eigentlich nicht für die Behausung interessieren, macht es ihnen Spaß, durch den Park zu flanieren und sich zu unterhalten.
„Weiß deine Familie, dass du auf Männer stehst?“ Davin ist sich bewusst, dass diese Frage heikel sein könnte, dennoch geht er das Risiko ein. Denn er möchte sein Gegenüber besser kennenlernen und wünscht sich insgeheim, dass dieser ihn ins Vertrauen zieht. Davin brennt auf die vielen Geschichten, die Thian auf Lager hat und die ihm das Leben in diesem fremden Land näher bringen.
Thian schüttelt traurig den Kopf. „Jein. Meine Großmutter hat mich einmal danach gefragt, also habe ich ihr die Wahrheit gesagt. Doch meine Eltern haben das Thema bisher immer gekonnt verdrängt, obwohl ich denke, dass es ihnen klar sein müsste.“
„Was hat deine Oma dazu gesagt?“
„Nicht viel“, erwidert Thian bedrückt. „Sie hat gelächelt, mir über die Wange gestreichelt und genickt. Aber ich denke, dass sie es akzeptiert und was sie entscheidet, gilt auch für die restliche Familie.“
„So einfach läuft das? Und deine Eltern? Wieso denkst du, dass sie Bescheid wissen, es aber nicht ansprechen?“
„Wahrscheinlich, weil es ihnen peinlich ist. Per Gesetz ist Homosexualität in Vietnam nicht verboten, aber es ist halt noch immer ein Tabu und viele Menschen können damit nicht umgehen.“
„Die Reaktion der Leute auf etwas, das sie bisher nicht kennen, ist meistens Ablehnung. Warum auch immer. Ich glaube, dass die Menschen einfach so ticken und das ist überall auf der Welt so. Ich bin nur froh, dass es hier nicht illegal ist und der LGBT-Community nicht allzu viele Steine in den Weg gelegt werden.“
Thian nickt, bevor er sich an den Teich setzt und Davin bittet, sich neben ihn auf einen Felsen zu setzen. „Na ja, ich habe auch schon gehört, dass Familien ihre Kinder verstoßen haben sollen“, führt Thian aus und wird ruhig.
Davin legt kurz seine Arme über dessen Schultern und zieht ihn an sich, bevor er ihn wieder loslässt. „So etwas ist schlicht unvorstellbar.“ Betreten schüttelt er den Kopf. „Aber du brauchst keine Angst zu haben, deine Oma steht hinter dir.“
„Du hast recht. Ich sollte mir nicht immer so viele Gedanken machen.“ Thian nickt und lächelt scheu. „Was ist jetzt mit unserer Reise morgen?“
„So wie ich meinen Reisefuzzi verstanden habe, sollte das kein Problem sein, aber das definitive Go erhalte ich erst heute gegen Abend. Wir müssen nur das Auto am Flughafen abholen. Können wir da mit deinem Monstergefährt hinfahren?“
Thian beginnt schallend zu lachen und schüttelt belustigt den Kopf. „Natürlich, das ist nicht so weit und wir sind viel schneller, als wenn wir uns ein Taxi nehmen.“
„Okay, gut und dann holen wir das Auto und fahren dann ins Hotel, um mein Gepäck einzuladen, bevor die Reise definitiv losgeht.“
„Warum sollten wir noch einmal ins Hotel? Das Gepäck nehmen wir auf dem Roller mit, das ist doch kein Problem.“
„Zwei Männer, zwei Gepäckstücke und ein Roller? Ich denke nicht, dass das passt“, gibt Davin zu bedenken, als sie die ehemalige Wohnanlage verlassen und Richtung Rollerparkplatz zurückspazieren.
Thian grinst und deutet auf einen vorbeifahrenden Moped-Fahrer, der auf seinem Gepäckträger die halbe Gemüseabteilung eines mittelgroßen Supermarktes mitführt. „Noch Fragen?“
„Das wird ja eine Reise werden“, stöhnt Davin und lächelt versonnen. Beim Roller angekommen, entscheiden die Männer spontan, dass sie sich etwas zu essen holen und dann ein wenig früher zu Thians Termin aufbrechen. Die Gasse, in der sich seine Friseur-Station befindet, besticht durch viele Pflanzen und nette Cafés, in denen die unterschiedlichsten Menschen sitzen und es sich gut gehen lassen. „Du hast dir einen guten Platz ausgesucht.“
„Danke, der ist noch von meinem Vater“, erklärt Thian, als er seinen Roller neben einen anderen an einer mit Efeu bewachsenen Mauer abstellt und den Helm abnimmt. „Ich habe mir vor ein paar Jahren einen neuen Spiegel geleistet.“
„Mir gefällt es sehr gut“, entgegnet Davin, der sich auf den Barstuhl setzt und Thian auffordernd anschaut. „Dann schnipple mal los. Ich hätte gerne einen neuen Haarschnitt.“
Thians Kiefer klappt nach unten, doch er erholt sich schnell. „Willst du das wirklich? Dein Styling sieht doch genial aus.“
„Vielleicht reicht es, wenn du mir die Spitzen schneidest?“, bietet Davin verlegen grinsend an, was Thian ein lautes Lachen entlockt.
„Einverstanden, dann legen wir los.“ Aus dem Fach unter dem Sitz des Rollers zieht Thian einen schwarzen Umhang hervor, den er Davin umlegt. Des Weiteren entnimmt er dem Stauraum einen Friseurgürtel, den er sich um seine schlanken Hüften legt. Darin finden sich neben diversen Scheren auch Kämme, Spangen und sonstiger Friseurbedarf.
„Wow, du bist ja gut ausgestattet“, staunt Davin, der fasziniert zusieht, wie Thian ans Werk geht. Dabei strahlt der Vietnamese richtiggehend und lacht mit der Sonne um die Wette. Davin verfolgt im Spiegel jede Bewegung des anderen Mannes und genießt die zärtlichen Berührungen der sanften Hände an seinem Kopf. Geschickt kürzt Thian Davins Spitzen, sieht ihm dabei immer wieder im Spiegel in die Augen und fährt ihm mit den Fingern liebevoll durchs Haar. „Du machst das sehr gut.“ Davins Stimme gleich dem Schnurren einer vollkommen entspannten Katze.
„Du hast tolle Haare, da macht es Spaß. Soll ich dir die Seiten auch ein wenig kürzen?“
„Sehr gern.“ Die Männer sind derart vertieft in die Blicke, die sie im Spiegel austauschen, dass sie gar nicht merken, wie aus den umliegenden Cafés interessierte Touristen heraustreten und sich neben den beiden aufstellen. Fasziniert beobachten sie, wie sich ein westlicher Tourist am Straßenrand frisieren lässt.
„So, fertig“, verkündet Thian und nimmt Davin den Umhang ab. Dieser steht auf, sieht sich im Spiegel an und nickt dann zufrieden. In diesem Moment beginnen die umstehenden Menschen zu applaudieren und sowohl Davin, als auch Thian schrecken zusammen.
Davin reagiert blitzschnell, als er die neugierigen Gesichter sieht und realisiert, dass sie größtenteils aus dem Ausland kommen. So laut, dass es alle hören können, erkundigt er sich: „Wie viel kostet ein Haarschnitt?“ So, dass es alle sehen können, gibt er Thian eine Fünfdollarnote und richtet sich dann an die Gaffer: „Fünf Dollar für eine neue Frisur? Kommt schon Leute, Thian macht das verdammt gut. Wer ist der Nächste?“
In den kommenden Minuten kann sich Thian vor lauter Anfragen kaum retten, schnippelt Haare wie ein Weltmeister und hat dabei immer ein nettes Lächeln für seine Kunden übrig. Davin übernimmt die Rolle des Kassierers und lässt sich von den Touristen in Dollar bezahlen, damit sich Thian ganz auf sein Handwerk konzentrieren kann. Die Haare türmen sich auf dem Boden, weshalb sich Davin bei einem Laden in der Nähe einen Besen und ein Kehrblech ausborgt, um dem Berg abgeschnittenen Keratins Herr zu werden.
Nach einer Stunde informiert Thian die Wartenden, dass er nun seinen 89-jährigen Stammkunden bedienen wird, der einen Termin vereinbart hat. Etwas enttäuscht wenden sich einige der Passanten zum Gehen. Viele bleiben jedoch interessiert stehen und beobachten, wie dem alten Mann mit viel Sorgfalt die Haare geschnitten werden. Das Lächeln des fast zahnlosen Mannes wirkt ansteckend auf die umstehenden Personen, also grinsen sie mit ihm, bis Thian seine Frisur beendet hat und das Geld für die Dienstleistung bekommt. Nachdem der Greis mit seiner Krücke ums nächste Eck verschwunden ist, nimmt Thian seine Arbeit an den Touristen wieder auf. Vor allem Studenten lassen sich die Möglichkeit nicht entgehen, einen Haarschnitt für fünf Dollar zu ergattern, viele geben aber auch ein großzügiges Trinkgeld.
Gegen neunzehn Uhr schließt Thian seine Friseur-Station endgültig, weil ihm schlicht die Finger wehtun und er nicht mehr stehen kann. Erschöpft setzt er sich auf den Barhocker, um sich für ein paar Minuten zu erholen. „So viel Arbeit hatte ich noch nie“, stöhnt er mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
„Ja, das kann ich mir vorstellen, aber du hast es wirklich gut gemacht. Du hast sage und schreibe 25 Kunden einen neuen Haarschnitt verpasst, wenn man deinen Stammkunden nicht mitzählt.“
Thian starrt ihn mit geweiteten Augen an und kann sein Erstaunen kaum verbergen. „Wow, derart viele Kunden habe ich sonst in einer ganzen Woche nicht. Danke, dass du sie darauf angesprochen hast. Da normalerweise kein einziger Tourist hinhalten will, traut sich auch sonst niemand aus dem Westen, meine Dienste in Anspruch zu nehmen.“
„Dann weißt du jetzt, wie du das machen musst. Such dir auf der App einen heißen Gay, bitte ihn hinzuhalten und verdiene dir dann ein goldenes Näschen.“ Mit einem Lächeln überreicht Davin Thian die Dollarnoten.
„Das gehört alles mir?“ Thian fallen beim Anblick des Geldes beinahe die Augen aus dem Kopf.
„25 Kunden mal fünf Dollar, gibt nach meiner Rechnung 125 Dollar plus Trinkgeld. Somit hast du deine nächsten zwei Wochen bereits finanziert und das was von mir noch dazu kommt, kannst du sparen.“
Thian fällt Davin um den Hals und küsst ihn flüchtig auf den Mund, bevor er sich besinnt, den anderen Mann loslässt und sich das T-Shirt glatt streicht. „Danke, Davin.“
„Dafür doch nicht, Thian. Na, Hunger?“
„Auf jeden Fall! Gehen wir.“
Gerade als die Männer losfahren wollen, meldet sich Davins Smartphone mit einer E-Mail, die, so wie es scheint wieder eine Weile unterwegs gewesen ist. Er liest sie und lächelt. „Unsere Reise ist gebongt. Auf der Dschunke gibt es noch eine Kabine, die er für uns gebucht hat. Der Flug ist auch kein Problem und in Hoi An werden wir vom Hotel abgeholt und wieder zum Flughafen gefahren, damit wir dort kein Auto mieten müssen.“
„Wow, das ist super. Jetzt muss ich nur noch meinen Eltern beibringen, dass ich zwei Wochen mit einem fremden US-Amerikaner durch Vietnam reisen werde.“
Davin verschluckt sich und beginnt zu husten, bevor er sich wieder fängt. „Du hast ihnen nichts gesagt?“
Thian lächelt, schüttelt den Kopf und setzt den Helm auf. „Nein, ich habe es meiner Oma gesagt und sie hat genickt. Du weißt doch, wenn sie etwas abnickt, dann ist alles gebongt.“
Davin entweicht ein Lachen, während Thian den Motor anlässt und Gas gibt. Mit einer Wolke aus Abgasen rauschen sie in den Sonnenuntergang davon.