Kapitel sieben ღ
Um 6 Uhr am nächsten Morgen betritt Davin vollbepackt mit Koffer und Umhängetasche die Lobby, um an der Rezeption auszuchecken. Während er dem freundlich lächelnden Angestellten versichert, dass der Aufenthalt ganz seinen Wünschen entsprochen hat, erhält er die definitive Abrechnung. Als er mit seinem Gepäckstück das Hotel verlässt, wird ihm schlagartig klar, dass die Fahrt zum Flughafen ein besonderes Abenteuer werden wird.
Auf dem Gehweg lehnt Thian an seiner Maschine, als wäre sie ein richtiges Motorrad und er ein James Dean-Verschnitt mit Lederjacke und Cowboystiefeln.
„Guten Morgen, Davin.“
Allein dieser kurze Satz aus Thians Mund lässt Davin zufrieden lächeln und die bevorstehende Fahrt mit der Rostlaube vergessen. „Hey, guten Morgen. Du bist ja gut gelaunt.“
Die Männer umarmen sich kurz, bevor Thians Blick hinter Davin, auf dessen Gepäck fällt. „Das ist dein Koffer?“ Die Falte auf der Stirn des Vietnamesen spricht Bände. Wahrscheinlich hat er einen kleinen, handlichen Rollkoffer erwartet, wie man ihn auf einer Städtereise dabeihaben würde.
Davin verzieht seinen Mund zu einem schiefen Lächeln und zieht die Augenbrauen hoch. „Ich habe dir gesagt, dass wir ein Taxi nehmen sollten und wir dieses Teil niemals …“
Thian lässt ihn den Satz nicht einmal beenden, sondern nimmt ihm das Gepäckstück aus der Hand und wuchtet es in den Bereich zwischen Steuer und Sitz, legt es quer darüber. „So, klappt doch wunderbar. Du nimmst meinen Rucksack und alles ins gebongt.“ Davins weit aufgerissene Augen und sein offener Mund lassen Thian schallend loslachen. „So läuft das hier in Vietnam. Komm, das klappt schon.“ Umständlich klettert Thian auf den Roller, seine Beine baumeln mangels freier Fußablage auf den Seiten nach unten. Mit einem bezaubernden Lächeln klopft er auf die freie Sitzfläche hinter sich. „Aufgesessen.“
Kopfschüttelnd setzt sich Davin den Helm auf und besteigt hinter Thian das vor Dreck starrende Gefährt. Nach zweimaligem Versuch startet der Motor, also schieben die Männer das schwer beladene Gefährt vom Ständer und fahren langsam über den Bordstein auf die Straße. Mit einem Jauchzen fügt sich Thian in den Verkehr ein und fährt gekonnt, als würde er den Motorroller ständig mit Davin und dessen Riesenkoffer durch Hanois Straßen lenken. Die ersten Minuten sind eine Qual, da der Verkehr derart dicht ist, dass ein Vorankommen kaum möglich ist. Davin ist froh, dass ihm nicht so rasch übel wird, denn Thians Fahrstil ist mit dem eines Bankräubers zu vergleichen, der sich auf der Flucht eine Verfolgungsjagd mit der Polizei liefert. Eine Viertelstunde später biegen sie auf die Schnellstraße ein, die sie auf direktem Weg zum Flughafen bringen wird.
Genau auf diesen Straßenabschnitt hat vor ein paar Tagen das Abenteuer Vietnam für Davin begonnen und er ist froh, dass er es gewagt hat und seinem alten Leben den Rücken zugewandt hat.
Da das Fahren auf der Fahrbahn für Motorroller verboten ist, rasen die beiden Männer über den Standstreifen ihrem Ziel entgegen. Schlaglöcher und herumliegender Hausrat inklusive. In der Ferne tauchen die Gebäude des Flughafens am Horizont auf und kurz darauf lenkt Thian seinen Roller in ein Parkhaus in der Nähe des Terminals. Nachdem alle Gepäckstücke zu ihrem jeweiligen Besitzer zurückgefunden haben, stürzen sie sich in das Getümmel und finden nach kurzer Suche den Schalter der Autovermietung.
Die Abwicklung der Formalitäten nimmt einige Zeit in Anspruch, denn obwohl Davin vorab schon alles ins Online-Formular getippt hat, braucht der Angestellte unzählige Informationen und Unterschriften. Nach zwanzig Minuten werden die Männer zurück in das Flughafenparkhaus geschickt, in dem sie ihren Wagen in Empfang nehmen: Ein kleiner Japaner mit allem technischen Schnickschnack.
„Der ist ja cool und sogar mit Navi.“ Thian setzt sich in den Wagen, schaltet das Radio ein und sieht sich alles an.
„Natürlich, ich habe keine Lust in der Landschaft herumzuirren, bis wir endlich die Halong Bucht finden. Hilf mir mal, das Gepäck in den Kofferraum zu schaffen.“
„Nö, meinen Rucksack habe ich hier, der Rest ist von dir.“ Noch bevor Davin protestieren kann, steigt Thian aus und hilft dem Amerikaner mit seinem schweren Gepäckstück. „Das war doch nur ein Späßchen.“
Nach wenigen Minuten sind die Spiegel, der Sitz und das Steuerrad an Davins Körpermaße angepasst und die Fahrt kann endlich losgehen.
„Drei Stunden bis Halong? Ich hätte jetzt gedacht, dass wir länger unterwegs sind“, meldet sich Thian zu Wort, der sich in seinem Handy die Route berechnen lässt.
„Gemäß Navi sollte das hinkommen. Dann haben wir noch genug Zeit, uns ein paar Reisfelder anzusehen. Darauf freue ich mich schon riesig.“
„Wie bitte? Warum will man sich denn bitteschön Reisfelder ansehen?“, erkundigt sich Thian mit einem Zwinkern.
„Na, weil es so etwas bei uns nicht gibt und ich gerne ein Foto davon hätte.“
„Ihr Amerikaner seid seltsam. Aber ja, ich bin mir fast sicher, dass wir am einen oder anderen Feld vorbeikommen.“ Thian kichert spitz, was ihm eine herausgestreckte Zunge von seinem Reisebegleiter einbringt.
Davin steuert den Wagen auf die Autobahn, auf der sie ein paar Meilen fahren können, bevor sie auf Hauptstraßen ausweichen müssen. Ihre Reise führt sie durch üppige Täler und weite Ebenen, vorbei an Dörfern, die sich an den Asphalt der Hauptverkehrsachse klammern wie an eine Lebensader. Gegen 10 Uhr machen die beiden einen ersten Halt, um zu frühstücken und sich mit Wasser einzudecken. Das Café, in dem sie sitzen, ist von kleinen Wellblech-Häusern umringt, die in erster Linie ärmlich wirken. Doch die Menschen scheinen sich von ihren Lebensumständen nicht einschüchtern zu lassen.
„Ich finde es erstaunlich, wie gut gelaunt hier alle sind. Höflich, nett und immer mit einem Lächeln. Das ist bei uns im Westen ganz anders.“
Die Männer sitzen in einem kleinen, eingezäunten Bereich vor dem Café, schlürfen einen Tee und teilen sich, mangels weizenhaltiger Alternativen, eine Obstplatte. Der Lärm der vorbeifahrenden Roller macht eine Konversation nahezu unmöglich, von den Abgasen ganz zu schweigen.
„Nicht immer, aber meistens. Wir freuen uns halt einfach über unser Leben, was nicht bedeutet, dass wir nicht manchmal überfordert sind.“
„Das glaube ich dir gern. Wo hast du eigentlich so gut Englisch gelernt?“
Mit einem stolzen Lächeln strafft Thian die Schultern, bevor er antwortet. „Das lernen wir in der Schule. Aber da ich so gut war, wurde ich speziell gefördert und konnte weitergehende Sprachkurse besuchen. Das ist mein Glück, aber nicht alle hier sprechen diese Fremdsprache so gut wie ich, vor allem auf dem Land kommst du damit kaum mehr durch.“
Davin hört interessiert zu und nickt, bevor er sich einen Schnitz Pomelo in den Mund schiebt und eine stachelige Frucht in die Hände nimmt und von allen Seiten betrachtet. „Was denkst du, warum ich froh bin, dass du mich begleitest? Ich hätte mir ja nicht einmal einen Tee bestellen können.“
„Ach komm, du hättest ihm dein Smartphone mit den Übersetzungen unter die Nase halten können.“
„Stimmt schon, aber so ist es einfacher. Außerdem wäre da der Akku ziemlich schnell leer. Und was dann?“ Davin grinst und zwinkert Thian zu. „Du sag mal, wie isst man dieses Ding? Die gibt es bei uns in den Supermärkten auch, aber ich habe mich nie getraut, eine zu kaufen, weil ich nicht wusste, wie man sie isst.“
Thian kichert, bevor er Davin das einer Kastanie in ihrer Schale nicht unähnliche Obst aus den Fingern klaubt. Mit einem Messerchen ritzt er die Schale ein und öffnet sie schließlich. Aus dem Innern taucht eine weißliche Frucht auf, die er Davin reicht.
„Wow, danke. Dann bin ich mal gespannt, wie sie schmecken. Sieht ein bisschen aus wie eine Litschi.“
„Das ist eine Rambutan. Die sind total lecker.“ Für ein paar Sekunden schweigen beide Männer, während sie essen. „Warum hast du deinen Job gekündigt?“, erkundigt sich Thian nach einer Weile.
Davin schüttelt irritiert den Kopf. „Woher weißt du, dass ich nicht gefeuert wurde? Ich habe dir nur gesagt, dass ich bis vor ein paar Tagen …“
„Weil du sicher nicht gekündigt wurdest. Du machst nämlich einen sehr professionellen Eindruck, nicht wie jemand, der seine Arbeit nicht gewissenhaft erledigt. Dann kommt dazu, dass du jetzt sicher nicht Urlaub machen würdest, wenn du nicht wüsstest, wie es weitergeht. Du hast dein Leben im Griff. So zumindest schätze ich dich ein.“
„Eine tolle Einschätzung, aber glaub mir, ganz so rosig, wie du dir mein Leben vorstellst, ist es nicht“, entgegnet Davin mit einem traurigen Lächeln im Gesicht.
„Erzählst du es mir?“
„Kann ich gern, ist aber eine längere Geschichte.“
Thian deutet auf den Wagen, der unweit von ihnen am Straßenrand steht. „Ich habe Zeit.“
Davin nickt und nachdem sie wieder im Auto sitzen, beginnt er zu berichten. Offen und ehrlich führt er Thian in der nächsten halben Stunde durch die letzten Monate seines Lebens und erzählt ihm unter anderem auch, wie er auf dem Dach stand und in die Tiefe geschaut hat.
„Danke, dass du so ehrlich mit mir bist.“ Thian hat während Davins Erzählungen ein paar wenige Fragen gestellt, sich aber sonst zurückgehalten. Sein Gespür hat ihm geraten, den anderen einfach nur berichten zu lassen. Vorsichtig legt er seine Hand auf die von Davin, der das Steuer des Wagens krampfhaft umklammert hält. „Ich bin froh, dass du nicht gesprungen bist“, flüstert er kaum hörbar.
„Ich auch.“ Ihre Blicke treffen sich für einen kurzen Moment, bevor Davin wieder durch die Windschutzscheibe auf die Fahrbahn schaut. „Wow, schau dir dieses geile Reisfeld an!“ Nachdem er den Wagen am Straßenrand zum Stehen gebracht hat, steigen die beiden aus und gehen ein paar Schritte in einen Feldweg hinein. „Weißt du, wie das funktioniert? Muss es die ganze Zeit unter Wasser stehen oder gibt es da ein spezielles Vorgehen?“
Die Männer stehen auf dem lehmigen Weg, der einige hundert Meter in die Landschaft hineinragt und schauen sich die Felder an, die sich über Meilen erstrecken. Das schlammige Wasser steht ein paar Zentimeter hoch und verwandelt das Feld in eine Art Sumpf, aus dem unzählige, grüne Reishalme hervorragen, um die Energie zum Wachsen von der Sonne zu beziehen.
„Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung, wie das läuft. Meine Cousins aus dem Süden haben es mir mal erklärt, aber ich habe es schon wieder vergessen. Aber warte mal, ich frage einfach die Bäuerin da vorne.“ Thian geht ein paar Schritte auf die mit dem typischen Kegelhut vor der Sonne geschützte Frau zu, die beinahe knietief im Wasser steht und fein säuberlich Setzlinge in den Schlamm steckt.
Davin beobachtet fasziniert, wie die drahtige Vietnamesin die Reispflänzchen millimetergenau setzt, als hätte sie ein Maßband zur Hand, mit dem sie nachmisst. Die Bäuerin unterbricht ihre Arbeit, um Thian seine Fragen zu beantworten.
„Sie sagt, dass die Felder nur während der Wachstums- und Reifezeit unter Wasser stehen“, beginnt Thian simultan zu übersetzen. „Sie können das Wasser über ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem auf das Feld leiten und nach Ablauf der Zeit wieder ablassen. Nach etwa vier bis sechs Monaten kann geerntet werden.“
„Faszinierend. Und das wird hier alles von Hand gemacht? Wahrscheinlich haben sie kein Geld für Maschinen, oder?“
Thian gibt die Frage an die Vietnamesin weiter, die mit einem strahlenden Lächeln weitererzählt. „Maschinen wären viel zu teuer, darum ist alles Handarbeit. Sie ist hauptsächlich für die Aussaat zuständig, während sich ihr Mann und ihre Söhne um die Ernte, die Trocknung und den Verkauf kümmern.“
Davin bedankt sich für die vielen Informationen. Nachdem sie sich von der Frau verabschiedet haben, schießt Davin ein paar Fotos mit seinem Smartphone, bevor er und Thian zum Auto zurück spazieren. „Ich bin schon sehr gespannt auf die Halong Bucht und die Dschunke, mit der wir um die Felsen schippern.“
„Und wir schlafen auch auf dem Schiff?“, erkundigt sich Thian, als sie ins Auto steigen und weiterfahren.
„Genau, das Schiff wird Ausgangspunkt für die weiteren Ausflüge sein. So wie ich es verstanden habe, bringen sie uns mit Motorbooten zu den entsprechenden Orten.“
„Wow, das hört sich wirklich toll an. Da ich noch nie auf so einem Schiff war, habe ich keine Ahnung, was mich erwartet.“
„Na hoffentlich wirst du nicht seekrank“, scherzt Davin, bevor er einem Rollerfahrer ausweichen muss, der auf dem Gepäckträger mehrere Sixpacks Mineralwasser transportiert und durch das enorme Gewicht in Zeitlupentempo unterwegs ist. „Boah, das war knapp.“
Thian verdreht die Augen und scherzt: „Du schaust vielleicht besser auf die Straße, anstatt mich anzustarren.“
„Das ist gar nicht so einfach, weil du doch so unheimlich süß bist“, sagt Davin und wirft ihm einen weiteren kurzen Blick zu.
Thian lacht. „Süß? Also komm, das kannst du wesentlich besser“, fordert er ihn heraus, zugleich färben sich seine Wangen rosig.
Davin nimmt Gas weg, um Thian einen längeren Blick schenken zu können und nicht Gefahr zu laufen, im Straßengraben oder nächsten Reisfeld zu landen. „Heiß. Begehrenswert. Liebenswert.“
Thians Röte vertieft sich. Abwehrend schüttelt er den Kopf, trotzdem lacht er. „Du bist doof“, erklärt er dem Amerikaner. „Und nun guck auf die Straße, sonst kommen wir heute gar nicht mehr ans Ziel.“
„Wäre das so schlimm?“, fragt Davin und zwinkert ihm verschmitzt zu, bevor er seine Aufmerksamkeit komplett, wenn auch nur widerwillig, auf den Verkehr richtet.
Die weitere Fahrt verläuft ohne weitere Beinahe-Unfälle und so gelangen sie innerhalb kürzester Zeit an die vietnamesische Westküste. Chinesische Großinvestoren haben unweit der Stadt Halong einen Vergnügungspark aus dem Boden gestampft, dem es schon seit der Eröffnung an Besuchern mangelt. Die Touristen ziehen die Bucht mit den einzigartigen Steinformationen schlicht der Austauschbarkeit eines Parks vor. Zumal das Gebiet zum Unesco-Weltkulturerbe gehört.
Auf einem Parkplatz in der Nähe des Hafens, stellen sie ihr Auto ab, um mit dem Gepäck Richtung Terminal zu spazieren. „Wir liegen perfekt in der Zeit, es könnte aber sein, dass wir noch ein bisschen warten müssen“, erklärt Davin, als sie den Check-in-Schalter des kleinen Hafengeländes gefunden haben und darauf zugehen.
„Macht doch nichts, ich kann gut noch eine Weile …“ Thian bricht seinen Satz ab und erstarrt.
„Was ist denn los?“ Davin berührt den Vietnamesen an der Hand, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Doch dieser scheint von irgendetwas auf dem Meer derart begeistert zu sein, dass er nichts anderes mehr wahrnimmt. „Thian?“
„Ist eines von diesen Schiffen unseres?“, will er schließlich wissen, als er sich von den zahlreich im tiefen Wasser ankernden Dschunken lösen kann.
Mit einem Nicken bestätigt Davin: „Ja, ich denke schon. Vielleicht findest du es ja, unseres hat den klingenden Namen Pearl of the bay.
„Wow, die sind alle wunderschön. Sieh dir diese riesigen Segel an, genial. Die haben sogar ein Sonnendeck mit Liegestühlen. Boah, so cool, da können wir uns hinfläzen und einfach nur sein.“
Davin lacht, bevor er an den Check-in-Schalter tritt und seinen Pass zur Identifikation vorweist. Auch hier bedarf es einer Unterschrift und der Hinterlegung der Kreditkartendaten, bevor sich ein Angestellter der Rederei dem Gepäck der beiden Reisenden annimmt. „Wir wären startklar“, flüstert Davin Thian ins Ohr, als er erneut neben ihn tritt und seinem Blick aufs Wasser folgt. „Hast du unser Schiff entdeckt?“
Nickend streckt Thian die Hand aus und deutet auf eine dreistöckige, strahlend weiße Dschunke mit drei braunen Segeln. „Ich denke, dass das die Pearl ist.“
„Die ist wirklich traumhaft schön. Toll. Wir sollen uns noch einen Moment hier im Café die Zeit vertreiben. Das Einschiffen findet dann um 16 Uhr statt. Und weißt du, was das Beste ist? Das Gepäck wird direkt aufs Zimmer gebracht.“ Die Männer suchen sich im Außenbereich des Restaurants einen Tisch mit Blick auf die Bucht und gönnen sich eine süße Zwischenmahlzeit. „Wo würdest du denn gerne hinreisen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?“, will Davin wissen, nachdem sie es sich gemütlich gemacht haben.
Thian seufzt, starrt übers Wasser in die Ferne und überlegt einen Moment, bevor er antwortet: „Die Staaten, Europa, Afrika. Ich würde total gern New York besuchen, San Francisco, Paris, London. Ach, eigentlich kann ich mich gar nicht entscheiden. Wenn ich ehrlich bin, würde es mir auch schon reichen, wenn ich etwas von Vietnam sehen würde, aber irgendwie … ach ich weiß nicht …“
„Doch, ich glaube, dass du ganz genau weißt, was du willst. Erzähl es mir. Bitte.“ Der Blick, den sie in den nächsten Sekunden teilen, spricht Bände.
„Ich würde gern die Oper in Paris besuchen, den Big Ben in London fotografieren, das Empire State Building in New York erklimmen oder mit einem Fahrrad über die Golden Gate Bridge in San Francisco radeln. Ich möchte einfach etwas erleben, die Welt sehen. Aber das ist … ein Wunsch, der nie in Erfüllung gehen wird.“
„Warum glaubst du das denn? Alles ist möglich!“
Thian lacht verächtlich und schüttelt den Kopf. „Das ist ein Spruch, der nur von einem gutbetuchten Westler kommen kann.“
„Was, warum das denn?“ Davin fühlt sich ein wenig gekränkt und zeigt das auch.
„Weil meine Familie kein Geld hat und ich gebraucht werde. Ich muss arbeiten, damit wir uns das Haus und unser Leben leisten können. Nie bleibt etwas über, nie haben wir Geld für irgendetwas. Alles ist möglich, ha, nicht für mich, nicht für meine Familie, nicht für arme Menschen.“ Thians Augen werden feucht. „Ach, vergiss es. Ich bin selbstsüchtig und das ist kein guter Zug von mir. Eigentlich sollte ich zufrieden sein mit dem, was ich habe und nicht nach Dingen streben, die ich nie erreichen werde.“
Nun kann sich Davin nicht mehr länger zurückhalten, also legt er seine Hand auf Thians, nur für ein paar Sekunden, denn er weiß genau, wie sensibel der Vietnamese auf Berührungen reagiert. „Man darf und soll immer träumen. Was wäre das Leben ohne Träume und Ziele, die man zu erreichen versucht? Du hast sehr wohl das Recht, auch einmal an dich zu denken!“
Thian sieht Davin tief in die Augen, bevor er entgegnet: „Du hast recht. Aber nur schon das, was ich hier mit dir erlebe, ist mehr, als ich mir je hätte erträumen können. Dass ich hier an der Küste von Halong sitze und auf die Bucht der Drachen blicke, das ist ein langgehegter Traum. Von der Schifffahrt, dem Flug und dem Besuch von Hoi An mal ganz zu schweigen. Danke, dass du mich mitgenommen hast.“
„Ich freue mich, dass du mitgekommen bist.“
Davin und Thian genießen die warmen Sonnenstrahlen, die frische, smogfreie Luft und die Aussicht auf das türkisfarbene Wasser der Bucht. Je länger sie im Café sitzen, desto mehr Menschen erreichen das Hafenareal. Teils in großen Bussen, teils in Autos mit Guide und Fahrer treffen die Touristen ein, um sich ein paar Tage an Bord eines der Schiffe verwöhnen zu lassen. Pünktlich um sechzehn Uhr ist es soweit und die Passagiere werden zu kleineren Motorbooten mit Sonnendach geführt, um vom Festland auf die Dschunken gebracht zu werden. Nach kurzer Wartezeit gelangen auch Davin und Thian auf eines der Holzboote, das kurz darauf übersetzt. Auf dem Weg zur Pearl oft the bay schießen sowohl der Amerikaner, als auch der Vietnamese fleißig Fotos, um sich für immer an diesen ganz besonderen Moment zu erinnern. Von Nahem wirkt der Dreimaster noch pompöser und eindrucksvoller als vom Land her. Die braunen, übermannshohen Segel dürften hauptsächlich einen repräsentativen Zweck erfüllen, denn Hauptantriebskraft ist ein Dieselmotor. Mit Blumenkästen verzierte Fenster, kleine Balkone und ein geräumiges Sonnendeck verleihen dem Schiff ein einzigartiges Flair.
Am Heck der Dschunke ermöglicht ein ausschwenkbares und über den Bug des Schiffs ragendes Deck, dass die Passagiere ohne Probleme auf das Schiff gelangen. Freundlich lächelnde Besatzungsmitglieder helfen den teils ziemlich ungeschickt wirkenden Touristen an Bord, wo man ihnen ein Glas mit Champagner oder alternativ Orangensaft reicht. Der Kapitän begrüßt sämtliche Gäste persönlich und reicht ihnen ihre Schlüssel. Freudig erregt und gespannt wie Flitzebögen, machen sich Davin und Thian auf den Weg zu Deck zwei, um ihre Kabine in Augenschein zu nehmen. Davin sieht mit einem Lächeln dabei zu, wie Thian die Tür aufschließt, um dann als erster ihr Heim auf Zeit zu betreten und einen Blick zu riskieren. Er findet, dass der nervös-erwartungsvolle Ausdruck auf dem Gesicht des Vietnamesen unheimlich niedlich ist.
„Wow, das ist fantastisch! Komm, sieh dir das an. Hier gibt es sogar eine Badewanne und eine Dusche und sieh dir das Bett an und wow, hier ist noch ein Balkon. Davin, komm endlich, sieh dir diese Aussicht an.“ Ohne auf eine Reaktion des Anderen zu warten, reißt Thian die Tür nach draußen auf und stürmt ins Freie, um sich verzückt umzusehen.
„Es ist wunderschön“, flüstert Davin, der hinter Thian getreten ist und seine Arme vorsichtig um die Brust des Vietnamesen legt, um ihn an sich zu ziehen. Der sinnliche Duft, den Thian verströmt, wirkt unheimlich anziehend auf ihn, am liebsten würde er den Hals des Mannes küssen, bei dem er sich so wohl fühlt, wie schon seit Jahren nicht mehr. Doch er weiß, dass diese Zärtlichkeit wahrscheinlich als aufdringlich aufgenommen werden würde, also belässt er es vorerst bei der Umarmung.
Wenn er bereit ist, wird er den ersten Schritt tun.
Ein Klopfen an der Kabinentür beendet die vertraute Nähe. Mit einem entschuldigenden Lächeln windet sich Thian aus der Umarmung und rennt Richtung Tür. Ein Besatzungsmitglied rollt Davins Koffer ins Zimmer, den Rucksack hält er in der Hand. Nachdem der Mann mit einem Trinkgeld die Tür wieder hinter sich geschlossen hat, legt sich Davin aufs Bett, um sich für einen Moment zu erholen.
„Was liegst du denn jetzt herum? Los, komm, ich will mir das Schiff anschauen. Ich möchte wissen, wo wir essen, was es zu entdecken gibt und vor allem möchte ich mich aufs Sonnendeck legen.“ Aufgeregt geht Thian hin und her, ergreift Davins Hand und versucht ihn mitzuziehen.
Doch mit einem geschickten Ruck sorgt dieser dafür, dass Thian das Gleichgewicht verliert und zu ihm aufs Bett plumpst. „Das hat noch ein wenig Zeit. Leg dich ein wenig zu mir.“
Thian lächelt, nickt und breitet sich auf seiner Seite des Bettes aus, bevor er seine Hand in Davins gleiten lässt. Die Hände ineinander verschränkt liegen sie auf dem bequemen Doppelbett und erholen sich von der langen Fahrt, um danach fit für die Erkundung des Hotelschiffes zu sein. Nach einer Weile dreht sich Thian auf die Seite und stützt seinen Kopf auf seiner Hand ab. „Nimmst du immer noch Drogen oder hast du in den USA damit aufgehört?“ Als er Davins irritierten Blick auffängt, räuspert er sich. „Entschuldige, natürlich geht mich das gar nichts an, aber … na ja, ich möchte wissen, wie es dir geht und ob du es noch immer für nötig hältst … ach, vergiss es. Ich bin einfach neugierig und …“, Thian macht eine kurze Pause, wahrscheinlich um sich zu überlegen, wie er fortfahren sollte. „Du bist mir wichtig.“
Davins Gesichtszüge entspannen sich ein wenig und ein sanftes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Du hast recht, das geht dich nichts an, aber da wir schon so ehrlich zueinander sind, kann ich dir versichern, dass ich, seit ich gekündigt habe, weder starken Alkohol noch Drogen angerührt habe.“ Für eine Weile starrt Davin gedankenversunken an die Decke, bevor er sich zu Thian umdreht und ihm vorsichtig die Hand an die Wange legt, um darüber zu streicheln. „Mit dir ist das Leben viel einfacher und auch reicher. Reicher an Erfahrungen und Zwischenmenschlichem.“
Thian legt seine Hand über Davins, die noch immer seine Wange berührt. In dieser innigen Pose liegen sie eine Weile da und sehen sich in die Augen. „Das kann ich zurückgeben. Ich liebe es, Zeit mit dir zu verbringen.“ Nach weiteren zehn Minuten, erhebt sich Thian vom Bett und meint bestimmt: „Und jetzt komm, sehen wir uns das Schiff an.“
Hölzerne Wandverkleidungen und Teppiche dominieren die Flure der Dschunke, was sie dunkel wirken lässt. Davin ist froh, dass die Kabinen moderner und freundlicher eingerichtet sind. Über eine Treppe gelangen sie ins Untergeschoss, doch dort gibt es eigentlich nur Zugänge zu anderen Kabinen und dem Außenbereich, über den sie auf das Hotelschiff gekommen sind. Also wieder zurück nach oben. In einem großzügig und modern gestalteten Raum finden sowohl das Restaurant als auch ein Lounge-Bereich Platz. Eine Couch und diverse Sessel laden zum Entspannen ein, während unzählige Bücher für Abwechslung sorgen. Vom Speisesaal aus führt eine Doppeltür auf das Außendeck, auf dem sich weitere Tische und Stühle befinden. Thian steuert das Sonnendeck an, das über eine Außentreppe zu erreichen ist. Nebst den Segelmasten, stehen hier auch zwei Hollywoodschaukeln und diverse Liegestühle, um es sich gemütlich zu machen und sich zu sonnen. Gerade als sich die Männer in eine der Schaukeln gesetzt haben, ertönt das markerschütternd laute Schiffshorn und zeigt an, dass die Fahrt durch die Halong Bucht beginnt.
Kurz darauf setzt sich das Hotelschiff in Bewegung.
Langsam vor und zurück schaukelnd, schauen Davin und Thian dabei zu, wie die Stadt Halong in der Ferne immer kleiner wird und schließlich verschwindet. Dann tauchen die ersten aus dem smaragdgrünen Wasser aufragenden und mit Regenwald bewachsenen Kalksteininseln am Horizont auf. Kumuluswolken zieren den stahlblauen Himmel, der sich in seiner Farbintensität mit dem Meerwasser zu duellieren scheint. „Es ist wunderschön. Schau dir diese Felsen an, jeder anders und einmalig“, schwärmt Thian und deutet aufgeregt auf die Unterschiede der Gesteinsformationen. „Ich habe davon gelesen, aber jetzt hier zu sein, das ist wirklich unglaublich. Schau, das muss die Insel sein, die wie ein Elefant aussieht.“
„Stimmt, mit ganz viel Vorstellungskraft kann man darin tatsächlich einen Dickhäuter erkennen.“
„Hihi, ja stimmt, ganz so offensichtlich ist es dann doch auch wieder nicht.“
Andere Touristen gesellen sich ebenfalls auf das Sonnendeck und bestaunen die Einfahrt in das weltbekannte Naturerbe, das als Kulisse in diversen Hollywoodstreifen Berühmtheit erlangen konnte. „Du hast recht, keine der Inseln gleicht einer anderen. Wow, ich bin begeistert. Schau, dort, was ist das? Ein Affe?“ Davin deutet auf einen Baum, auf dem sich etwas Braunes in der üppigen Vegetation tummelt und auf einem Ast hin und her schwankt.
Thian braucht eine Weile, bis er das Tier entdeckt, doch dann ist seine Begeisterung umso größer. „Genau, ein Affe. In diesen Wäldern leben sicher ganz viele Tiere. Wahnsinn.“ Die Männer schaukeln noch eine Weile vor und zurück, genießen die warmen Sonnenstrahlen und den einmaligen Anblick.
„Wenn du die Wahl hättest, was würdest du gerne aus deinem Leben machen? Ich meine bezogen auf den Job?“, erkundigt sich Davin nach einer Weile bei Thian, der gedankenversunken auf das wundervoll blaue Wasser der Lagune blickt.
„Hm, wenn ich alle Möglichkeiten hätte und nicht schauen müsste, dass ich genügend Geld für die Familie verdiene?“
„Ganz genau.“
Nach kurzer Bedenkzeit, antwortet Thian mit einem sanften Lächeln: „Dann würde ich gern ein Gasthaus irgendwo in der Wärme betreiben, wo ich mich um die Besucher kümmern kann und so sein darf, wie ich bin. Vielleicht gäbe es dort auch einen kleinen Frisörladen, den ich nur dann öffne, wenn ich Lust dazu habe.“
„Das klingt wunderbar“, schwärmt Davin verzückt, mit einem Blick, der in die Ferne schweift. „Das machen, was man liebt, aber nur dann, wenn man Lust dazu hat. Was für eine tolle Idee.“
Thian schmunzelt und zuckt mit den Schultern. „Danke dir und ja, das ist wirklich Luxus. Aber erzähl, was ist dein Wunsch für die Zukunft?“
„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Viele Jahre war es mein Traum in der Finanzbranche zu arbeiten und Millionen zu scheffeln. Aber mittlerweile habe ich eingesehen, dass dieser Wunsch dumm und oberflächlich war. Dass er mich nicht erfüllt.“ Davin seufzt. „Eigentlich, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist deine Idee brillant. Das könnte mir auch gefallen: Irgendwo eine eigene Bar zu haben. Nichts Großes, eine Theke, ein paar Tische, am besten an einem Strand. Biere aus aller Welt und Single Malt Whiskys für die Kenner. Ich glaube, dass ich mich da sehr wohlfühlen würde.“
„Dann sind sich unsere Träume ziemlich ähnlich. Wir beide brauchen einen Ort, an dem wir uns geborgen fühlen, um das zu tun, was uns Spaß macht.“
Thians Lächeln ist einfach bezaubernd, was Davin ebenfalls grinsen lässt. „Erstaunlich, wie ähnlich wir uns sind.“
„Es ist, als ob wir uns schon lange kennen“, sagt Thian verträumt, bevor er das Thema in eine andere Richtung lenkt. „Was wirst du machen, wenn du wieder in San Francisco bist?“
„Ich habe keine Ahnung“, muss Davin eingestehen, bevor eine Durchsage ankündigt, dass im Restaurant nun das Abendessen serviert wird. „Wunderbar, ich habe Kohldampf.“
„Ich auch, aber lass uns noch einen Moment warten.“ Thian hält ihn am Arm zurück und sieht ihn auffordernd an. „Du hast keine Ahnung, was du machen wirst, wenn du aus deinem Urlaub zurück bist? Wie wirst du dann deine Rechnungen bezahlen?“
„Ach Thian, ich wünschte, dass ich dir eine bessere Antwort auf deine Fragen geben könnte. Im Moment weiß ich nur, dass ich nicht in die Finanzindustrie zurückkehren werde. Dieses Leben hat mich zerfressen und darum ist es mir wichtig, etwas zu finden, dass mir Freude macht und mich erfüllt. Was das genau ist, steht noch in den Sternen. Mich belastet die aktuelle Situation, dieses Vakuum sehr. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich keinen Plan habe.“ Davin blickt auf seine Hände und wälzt die schweren Gedanken.
„Die Möglichkeit zu haben, sich komplett neu zu orientieren, ist zum einen eine wundervolle Chance, aber ich kann auch verstehen, weshalb dich das belastet. Nicht zu wissen, wie es weitergeht, ist nicht einfach.“ Thian hat seine langen Finger ausgestreckt und streichelt damit sanft über die Haut an Davins Oberarm. „Ich bin sicher, dass du schon sehr bald wissen wirst, was du brauchst und in deinem Leben machen willst. Gib dir Zeit und genieße deinen Urlaub.“
Davin lächelt verlegen. „Danke, es bedeutet mir viel, dass du an mich glaubst.“ Seufzend strafft er die Schultern und nimmt Thian an der Hand. „Komm, wir gehen essen, damit wir uns nachher den Sonnenuntergang von unserem Balkon aus ansehen können. Was hältst du davon?“
„Das würde mir gefallen.“
Im Restaurant ist einer der Tische mit ihrer Kabinennummer bezeichnet und so setzen sie sich an diesen Platz. Eine vorgedruckte Karte informiert sie über das heutige Menü: Zur Vorspeise wird ein Bananenblütensalat gereicht, während es zum Hauptgang einen lokalen Fisch mit Reis gibt und als Nachspeise Litschis. Kurz nach dem sich die Männer gesetzt haben, eilt auch schon ein Kellner an ihren Tisch, um die Getränkebestellung aufzunehmen.
„Morgen steht der Besuch einer der schönsten Strände dieser Region auf dem Plan, gefolgt von einer Höhlenbesichtigung. Oder war es umgekehrt?“ Davin runzelt die Stirn und blickt an die Decke, als ob ihm das helfen würde, sich zu erinnern. „Irgendwann in den nächsten Tagen haben wir Gelegenheit, Tintenfische zu fangen, die dann frisch zubereitet werden, sollten wir überhaupt welche fangen. Das teilen sie uns spontan mit.“
„Das hört sich nach einem genialen Programm an. Kann man an diesem Strand auch schwimmen?“
Davin lacht und nickt. „Aber natürlich, warum sollten wir sonst dahin fahren? Wir haben dort zwei Stunden Zeit, um uns zu sonnen, zu baden, aber auch Kanu fahren oder Windsurfing ist möglich.“
„Super, bisher haben wir immer im See in der Nachbarschaft gebadet, aber der ist immer sehr überlaufen und das Wasser nicht wirklich sauber. Da freue ich mich umso mehr, im Meer zu schwimmen.“
„Wem sagst du das? Ich liebe es zu schwimmen und im Wasser zu sein.“
Bald darauf serviert der Kellner den ersten Gang und die Getränke. Davin und Thian stoßen miteinander auf ihr Wohl an, bevor sie sich den Salat mit den Bananenblüten zu Gemüte führen. Asiatische Gewürze und frische Zutaten verwandeln die Vorspeise in einen ganz besonderen Gaumenschmaus. Auch die Hauptspeise ist absolut gelungen. Der Fisch zergeht auf der Zunge und die Beilagen ergänzen das Menü perfekt. Die Nachspeise nehmen Davin und Thian kurzerhand mit aufs Zimmer, um sich den ersten Sonnenuntergang in dieser faszinierenden Landschaft aus steil aus dem Meer aufragenden Kalksteininseln anzusehen. Mit einem Glas Mineralwasser setzen sie sich auf den kleinen Balkon mit den zwei Stühlen und schauen dem Naturschauspiel zu, das die Besucher Tag für Tag fasziniert.
Die untergehende Sonne taucht die Welt in goldgelben Schimmer, hebt die bewaldeten Felsen und Klippen als schwarze Schatten hervor und lässt die Umgebung in einer magischen Aura erstrahlen. Die mystische Stimmung nimmt die Betrachter gefangen und legt sich wie eine samtige Decke über die Dschunke, die in einer kleinen Bucht vor Anker liegt und sanft auf den Wellen schaukelt. Eine Viertelstunde später hat sich das Farbenspiel in der Bucht komplett verändert. Die Sonne gibt die letzten Strahlen auf die Erdoberfläche ab, bevor sie endgültig hinter dem Horizont verschwindet und dem Mond die Herrschaft über die Nacht überlässt.
„Es ist einmalig“, schwärmt Thian, der wie gebannt in die Ferne starrt und Davins Hand festhält, diese immer wieder drückt. Im Augenwinkel nimmt er wahr, dass Davin ihn mustert. „Warum siehst du dir denn nicht den Sonnenuntergang an?“
Davin lächelt sanft und streichelt Thian über die Wange. „Weil es genau so schön ist, dir zuzusehen. Das Licht bringt deine Haut und deine Augen zum Leuchten und dein Ausdruck ist absolut bezaubernd.“ Vorsichtig lehnt sich Davin zu Thian, um ihn zu küssen. Kurz bevor sich ihre Lippen berühren, hält er inne, verharrt mit geschlossenen Augen in dieser Position, da er Thian unter keinen Umständen überfordern oder aufdringlich wirken will. Lange muss er nicht auf eine Reaktion seines Gegenübers warten, schon nach ein paar Sekunden spürt er Thians sanfte Lippen auf seinen. Ihr Kuss intensiviert sich rasch und Davin stöhnt verzückt, als ihre Zungen in ein sinnliches Spiel verfallen. Vorsichtig streckt er seine Hände aus und berührt Thian an den Armen, streichelt sanft darüber.
Der Kuss ist innig und unendlich romantisch.
Gerade als sich die Zärtlichkeit der beiden auf dem Höhepunkt befindet, verschwindet die Sonne endgültig hinter den Felsen und flutet die Szenerie mit roten Farben in allen Schattierungen, die langsam von der Dunkelheit verdrängt werden.
Thian unterbricht den Kuss kurz darauf, um für eine Millisekunde aufs Meer hinauszublicken. „Jetzt haben wir das Spektakel verpasst. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“
Davin lächelt verschmitzt, bevor er Thian die Hand um den Nacken legt und ihn wieder zu sich zieht. „Wer will sich schon einen Sonnenuntergang anschauen, wenn er dich haben kann?“, murmelt er, bevor er seine Lippen wieder auf Thians legt.
Ohne Anstalten zu machen, die Zärtlichkeiten zu unterbrechen, schnaubt Thian: „Du bist so kitschig.“
Mit verzücktem Gesichtsausdruck, sieht Davin tief in Thians wunderschöne, dunkle Augen, die von dem Rot der untergegangenen Sonne beschienen werden und schlicht unergründlich zu sein scheinen. Seine schwarzen Augenbrauen, die feinen Wimpern und der kaum sichtbare Bartschatten, der sich durch die seidene, gebräunte Haut kämpft, alles an diesem Mann ist faszinierend und unheimlich anziehend. Thian ist wie eine Droge, von der Davin nicht genug bekommen kann. Dennoch ist ihm bewusst, dass er es vorsichtig angehen sollte, nicht zu forsch an die Sache herangehen darf. Das würde das fragile Band des Vertrauens massiv schädigen, wenn nicht gar zerstören. Aber wenn er mit sich ehrlich ist, dann ist das hier viel schöner als alles, was er je erleben durfte. Unpersönlicher Sex mit Fremden, wie er es jahrelang praktiziert hat, kann dieser innigen Nähe nicht annähernd das Wasser reichen. Das hier geht tiefer, ist sinnlicher, erfüllender und schlicht ein Abenteuer, das Davins Leben in die richtige Richtung zu beeinflussen scheint. Natürlich will er mehr, aber erst, wenn es für sie beide passt.
Für eine Weile sitzen sie noch auf dem Balkon, halten sich in den Armen und blicken übers Wasser. „Ich bin müde“, seufzt Thian wenig später.
„Dann gehen wir doch einfach ins Bett. Willst du als erster duschen?“, erkundigt sich Davin, der sich streckt, die Halswirbel knacken lässt und dann langsam aufsteht.
Mit einem Nicken und einem bezaubernden Lächeln betritt Thian die Kabine, fischt aus seinem Rucksack den Kulturbeutel und zieht sich ins Badezimmer zurück.
Davin zieht sich bis auf die Unterwäsche aus, legt sich aufs Bett und starrt mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke. Er fühlt sich glücklich und zufrieden, Gefühle, die er schon sehr lange nicht mehr erfahren durfte und die ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. In seinen Gedanken reist er erneut zurück auf das Dach seines Wohnhauses an den tiefsten Punkt seines bisherigen Lebens. Beinahe wäre er gesprungen, hätte alles beendet und damit auch diese absolut wertvolle Zeit mit Thian niemals erleben dürfen. Erneut fühlt er tief in sich die Einsam- und die Hilflosigkeit, die seine Lebensflamme langsam erstickt hatten. Heute, nur ein paar Tage später, hat sich alles ins Gegenteil verkehrt. Eine unbändige Lebenskraft erhellt sein Innerstes, wie das Licht eines Leuchtturms in einer stürmischen Nacht.
„Es ist einfach herrlich. Die Dusche ist der Hammer. Am liebsten hätte ich gar nicht aufgehört, mich von dem Wasser berieseln zu lassen, aber ich glaube nicht, dass es unendlich heißes Wasser gibt.“ Thian steht mit einem Frotteetuch um die Hüften gewickelt in der Tür und lächelt Davin an.
Dieser verschluckt sich beinahe an seiner eigenen Zunge, als er seinen Blick über Thians sinnlichen Oberkörper gleiten lässt. Wasser tropft von seiner schwarzen, verstrubbelten Mähne, rinnt über seine gebräunte, samtweiche Haut, bevor es schließlich vom Duschtuch aufgesogen wird. „Dann gibt es also noch ein bisschen warmes Wasser für mich?“, erkundigt sich Davin, bevor er sich vom Bett abstößt, aufsteht und vor Thian stehen bleibt. Wie gerne würde er seine Finger ausstrecken ihn einfach berühren, aber das wäre zu plump, zu forsch und der Intimität der Situation nicht angemessen. Darum lässt er es bleiben, geht an dem nassen Mann vorbei, um sich im Bad komplett zu entblättern und sich in die Dusche zu stellen.
Die Tür hat er ein wenig offengelassen, aus dem Augenwinkel nimmt er wahr, dass ihn Thian beobachtet. Davin kann die Blicke auf seiner Haut spüren, was ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Nachdem er sich die Haare gewaschen und sich die Seife vom Körper gespült hat, dreht er den Hahn zu. Mit einem Badetuch rubbelt er sich trocken, bevor er sich die Zähne putzt und in frische Pants schlüpft, die sich eng an seinen Körper schmiegen.
Thian hat es sich im Bett bereits gemütlich gemacht und hält die Decke für Davin hoch, der mit einem Zwinkern darunter schlüpft und sich auf den Rücken legt. Unsicher, wie es jetzt weitergehen soll, bleibt er einfach so liegen und wartet darauf, wie weit Thian gehen möchte. Nach einer Weile kuschelt sich dieser mit einem zuckersüßen Seufzen an Davins Brust und legt seinen Arm über dessen Bauch.
Ein warmes Lächeln breitet sich auf Davins Zügen aus, als er Thian näher zieht und ihn umarmt. Mehr brauchen die Männer im Moment nicht. Diese innige Nähe, das Zusammensein, die Wärme des anderen reicht, um sie zufrieden und glücklich einschlafen zu lassen.