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Kapitel acht
Der nächste Morgen beginnt mit einem ausführlichen Frühstücksbuffet auf dem Außendeck, bevor der Ausflug in die größte Tropfsteinhöhle des Landes ansteht. Die Sung Sot Cave ist seit ein paar Jahren einer der touristischen Hot Spots in der Region und gut besucht. Aber mit einem großen Andrang an Besuchern, muss man in der Halong Bucht mittlerweile überall rechnen.
Massentourismus ahoi.
Davin und Thian lassen sich davon nicht abhalten und freuen sich auf den ersten Landausflug, der von einem Strand-Besuch gekrönt wird. Bepackt mit Badehosen, Strandtüchern, Sonnencreme und allem was man für einen gelungenen Tag in einer der schönsten Buchten der Welt benötigt, besteigen sie um 10 Uhr das Motorboot.
Die zahlreich vorhandenen Schwimmwesten, die schon bessere Zeiten gesehen haben, dienen hauptsächlich als Dekoration. Wirklichen Wert darauf, dass die Touristen für etwaige Unfälle gesichert sind, legt hier niemand. Dennoch tragen Davin und Thian die nach Algen riechenden Westen. Der Guide des heutigen Tages, ein grauhaariger Mann namens Bao, erläutert gerade das Tagesprogramm, bevor er dem Kapitän des Motorboots ein Zeichen gibt. Der Bug hebt sich ein wenig aus dem Wasser, als die PS-starken Motoren das Boot beschleunigen. Davin und Thian müssen sich festhalten, um nicht von ihren Holzbänken geschleudert zu werden.
„Wow, der hat ja vielleicht einen Speed drauf“, jauchzt Thian, der freudig erregt den Kopf aus dem Boot streckt, um den Wind auf seinem Gesicht und in seinem Haar zu spüren.
Davin lacht und hält den Vietnamesen am Arm fest. „Nicht, dass du mir noch hinausfällst.“ Der Vorteil dieses kleinen Bootes liegt neben dem schnelleren Vorankommen auch darin, dass die Passagiere näher an die mit dichter Vegetation bewachsenen Inseln herangefahren werden können.
„Sieh mal dort, dieser bunte Vogel und dort, ein schon wieder ein Affe.“
„Wo siehst du einen Affen?“
Thian lehnt sich zu Davin und deutet mit dem Finger auf die entsprechende Stelle. „Dort, an dem großen Baum mit den knorrigen Ästen. Ein kleiner Affe mit braunem Fell und einer hellen Zeichnung um die Augen. Siehst du ihn?“
Davin nickt und lächelt verzückt. „Ja, jetzt sehe ich ihn auch. Genial.“ Aufgeregt suchen die Männer jede vorbeiziehende Insel nach Lebewesen ab und werden mehr als einmal fündig. Aber auch das Kalkgestein der aus dem Wasser emporragenden Monolithen hält einige Überraschungen für interessierte Beobachter bereit. So wachsen dort Muscheln und sonstige Meeresbewohner, die jetzt, da die Ebbe eingesetzt hat, sichtbar sind, bevor sie dann gegen Abend wieder in den salzigen Fluten verschwinden.
Die Fahrt zur Sung Sot Höhle dauert nur wenige Minuten, bevor der Kapitän das Boot an einen wackelig wirkenden Steg lenkt, an dem die Passagiere aussteigen können. Einer Pilgerfahrt gleich, setzen sich die Menschen kurz darauf in Bewegung. Ziel ist der am Berg gelegene Eingang zur Tropfsteinhöhle, den es nun über unzählige schiefe und ungleichmäßige Treppenstufen zu erreichen gilt. Die Sonne hat die Luft massiv aufgeheizt und so stellt der steile Aufstieg für viele, vor allem ältere Touristen, bereits eine fast unüberwindbare Herausforderung dar. Einige geben auf und setzen sich auf die Treppe, um zu verschnaufen, während andere tapfer durchhalten und sich mit Flip Flops an den Füßen die Treppen hochkämpfen.
„Komm schon, beeil dich“, ruft Thian von einem Felsvorsprung in Davins Richtung, der ein paar Tritte zurückliegt.
Dieser winkt ab und keucht: „Jaja, gib mir ein paar Minuten. Boah, ist das anstrengend. Diese Hitze und die vielen Stufen.“
Thian lacht und schüttelt belustigt den Kopf. „Wie alt bist du eigentlich? Ich würde mich ungern mit einem Opa abgeben.“
„Dir gebe ich gleich Opa, du kleiner Frechdachs“, ächzt Davin, bevor er zu einem Sprint ansetzt, um die wenigen Stufen zu überwinden, die ihn von Thian trennen. Mit seinen Armen umfasst er die Taille des Vietnamesen und zieht ihn an sich. „Opa! Du mich auch. Total frech.“ Er beginnt Thian zu kitzeln und genießt die glucksenden Geräusche, die dieser von sich gibt.
„Hör auf, lass mich.“ Thians Gesicht läuft rot an, so laut lacht er und bekommt dabei kaum Luft. „Du bist kein Opa, ich nehme alles zurück.“
Davin lässt von ihm ab, damit sie gemeinsam die letzten Meter zum Höhleneingang überwinden können. „Ich bin nur gerade fünf Jahre älter als du, haben wir doch herausgefunden. Das ist wirklich kein großer Unterschied.“
„Stimmt schon, ich wollte dich nur aufziehen.“
Bao, der Reiseleiter, hat ebenfalls Mühe, die Stufen zu erklimmen und ruft den Männern von unten zu, dass sie bereits in die Höhle gehen können, die Gruppe würde später zu ihnen stoßen.
Über einen mit weiteren Stufen versehenen Weg steigen Davin und Thian ein paar Minuten später in die Höhle ab, ein Handlauf bietet Halt. Als sie am Höhlenboden ankommen, sieht sich Davin erstaunt um. „Wow, das ist ganz anders, als die Höhlen, die ich bisher gesehen habe.“
„Inwiefern?“
„Na, hier ist alles so bunt ausgeleuchtet“, kommentiert Davin, bevor er seinen Blick erneut durch die aus unzähligen Tropfsteinen bestehende Höhle gleiten lässt. In Bereichen, in denen es etwas zu sehen gibt, wurden bunte Lampen montiert, und so wirkt die Kaverne wie ein gigantischer, unterirdischer Regenbogen. Überwältigt von der schieren Schönheit der Kammer, beginnen Thian und Davin über einen gepflasterten Weg tiefer in das Labyrinth vorzudringen. Natürlich sind sie nicht allein und so haben die beiden keine Angst, verloren zu gehen. Außerdem sind die gefährlichen Areale abgesperrt und Wärter sorgen für Sicherheit. „Es ist wirklich unheimlich schön. Sieh dir mal diese Figur dort hinten an, die sieht speziell aus. Wie ein riesiger Wolf.“
Thian stimmt ihm nickend zu und deutet auf ein anderes Gebilde an der gegenüberliegenden Wand. „Du hast recht und das dort drüben sieht entfernt wie ein weiterer Elefant aus.“
Inzwischen ist auch der Guide in der Höhle angekommen, von Weitem hören sie ihn von Tierfiguren erzählen, die man in der gesamten Kaverne entdecken kann und die farblich hervorgehoben sind. Davin und Thian lachen und dringen tiefer in die Wirren aus Gängen und Sackgassen vor, um möglichst viel zu sehen. In der Höhle herrscht eine angenehme Temperatur, was den verschwitzten Männern gelegen kommt. Als sie in der nächsten Kammer vor einem rot beleuchteten See anlangen, bleiben sie mit offenen Mündern stehen.
„Wow“, echoen sie im Chor, doch kurz darauf wird die Idylle von einer riesigen Traube aus schnatternden Touristen zerstört, was die Männer dazu bringt, zurück in die Hauptkammer zu schlendern. Auf ihrem Weg kommen sie an Bao vorbei, der ihnen verrät, dass sich der Strand, an dem sie den Mittag und Nachmittag verbringen, gleich auf der anderen Seite der Schiffsanlegestelle ist. Davin und Thian bedanken sich freundlich und verlassen die Höhle in Richtung Badevergnügen. Nachdem sie über die Treppen wieder nach unten gestiegen sind, entdecken sie den ausgeschilderten Weg zum Strand, dem sie einige Meter durch die blühende Vegetation hindurch folgen. Nachdem sie einen Teil des Berges umrundet haben, tut sich vor ihnen eine kleine Bucht mit smaragdgrünem Wasser und einem weißen Sandstrand auf.
„Wie geil ist das denn?“ Davin ist hin und weg, beschleunigt seinen Schritt und betritt als erster den warmen Sand der Lagune. „Komm schon Thian, noch können wir uns aussuchen, wo wir liegen möchten, bevor die Touristenmassen einfallen wie Stechmückenschwärme.“
Thian hetzt ihm keuchend hinterher, scheint Mühe mit dem sandigen Untergrund zu haben. „Ich komme ja schon. Warte auf mich.“
„Wer ist der Opa? Komm schon, du Jungspund, beeil dich ein wenig.“ Davin steht allein mitten am Strand und lässt seinen Blick über die einmalige Landschaft schweifen. „Wow, ich bin schlicht begeistert. Was sagst du zu diesem Platz hier?“, will er von Thian wissen, der mittlerweile neben ihm angekommen ist.
„Ja, sieht super aus. Aber warum so dicht bei zwei Felsen?“, erkundigt sich der Vietnamese perplex. „Da können wir uns gar nicht ausbreiten.“
Davin lacht, stellt den Rucksack in den Sand und beginnt, die Badetücher auszubreiten, die sie von der Dschunke mitgenommen haben. „Weil sich hier keiner von den Touristen dazu legt. Viel zu eng. Das heißt, wir sind ein bisschen für uns.“
Thian lacht und nickt anerkennend. „Dir ist schon bewusst, dass du auch einer dieser Touristen bist?“, neckt er Davin, als er sein T-Shirt auf den Rucksack wirft und die Shorts abstreift. Darunter kommen Badehosen zum Vorschein, die knapp über dem Knie aufhören und seinen Körper perfekt in Szene setzen. Für einen Moment rekelt sich Thian noch in der Sonne, bevor er Richtung Wasser davonrennt. „Komm schon, rein ins Badevergnügen.“
Davin lacht, sieht zu, dass er seine Klamotten ebenfalls verliert, um dem bereits bis zum Bauch im Wasser stehenden Thian hinterher zu eilen. „Hey, warte mal.“ Als das relativ kühle Wasser mit seinen Oberschenkeln in Kontakt kommt, hält er inne und zieht vor Kälte den Bauch ein. „Brrr, das ist megakalt.“
„Sei kein Weichei, es ist super hier.“ Thians Begeisterung ist spürbar, sein Gesicht strahlt richtiggehend.
Davin bespritzt den Vietnamesen mit Wasser, bevor er an ihm vorbeirennt und mit einem Satz ins Meer eintaucht.
„Hey, das war fies“, protestiert Thian, bevor er es wie Davin macht und sich einfach in die Kälte stürzt. Für eine Weile schwimmen sie nebeneinander weiter aus der Bucht hinaus, bevor sie umdrehen und so weit zurückschwimmen, dass sie wieder sicher stehen können. „Danke, dass du mich mitgenommen hast.“
„Du brauchst dich dafür nicht zu bedanken, wie gesagt, ohne dich wäre das nicht möglich. Aber eigentlich könntest du mal deiner Aufgabe nachkommen und den Dolmetscher geben.“
Thian lacht gelöst und nickt auffordernd. „Was soll ich dir denn übersetzen?“
„Lass mich kurz überlegen“, beginnt Davin, während er die Hand einer Denkerpose gleich ans Kinn legt. „Wie wäre es hiermit: Es ist schön hier mit dir und ich genieße unsere gemeinsame Zeit.“ Sanft streichelt er über Thians Wange. Thian übersetzt Davins Worte ins Vietnamesische und spricht sie dabei langsam und deutlich aus, damit sie der Amerikaner nachsprechen kann. Doch nach fünf Versuchen wird klar, dass sie höchstwahrscheinlich bei der englischen Sprache bleiben werden. „Entschuldige, ich gebe mir Mühe, aber irgendwie sprichst du eine sehr komplizierte Sprache.“
Thian lacht und schüttelt den Kopf. „Wenigstens hast du es versucht.“
Nach der ersten Abkühlung im Golf von Tonkin, ziehen sich die Männer auf ihre Strandtücher zurück, liegen in der Sonne und lassen es sich gutgehen, genießen die gemeinsamen Stunden an der wärmenden Luft. Diverse Frucht- und Getränkeverkäufer sorgen dafür, dass es den mittlerweile zahlreich anwesenden Badetouristen an nichts fehlt. „Äh, Davin?“
Etwas verschlafen, öffnet er die Augen und sieht den Vietnamesen irritiert an. „Was ist los?“, will er wissen, als er sich aufgesetzt hat.
„Du bist, äh, ganz rot auf dem Rücken. Soll ich dich noch einmal mit Sonnencreme einreiben?“
„Was? Rot? Verdammt. Dabei habe ich mich doch geschützt. Mist. Das wird jetzt wieder eine Weile wehtun. Wie schlimm ist es?“
Thian beißt die Zähne zusammen und entgegnet dann leicht verlegen: „Ich glaube, dass die richtige Bezeichnung krebsrot ist.“
Mit einem Stöhnen dreht sich Davin zu Thian um. „Ja, bitte crem mich noch einmal ein, aber bitte vorsichtig. Jetzt, da ich es weiß, merke ich auch, wie die Haut spannt.“
„Mache ich gern.“
Als die kühlende Sonnenlotion auf seine Haut trifft, zieht Davin scharf die Luft durch seine Zähne. Doch schon nach ein paar Sekunden und spätestens als Thians warme Hände mit dem Verteilen und Einmassieren der Creme beginnen, genießt er es. Nachdem seine Haut mit einem neuen Schutzfilm versehen ist, holt er sich am Strandverleih einen Sonnenschirm, den er für Thian und sich aufspannt. Bei einem der aufmerksam durch die Menge wuselnden Fruchthändler, kaufen sie sich ihr Mittagessen, weil sie beide keinen Appetit auf die Fastfood-Angebote des am Strand gelegenen und maßlos überfüllten Restaurants haben. Sie verbringen die Zeit lieber in trauter Zweisamkeit mit schwimmen, sonnen und relaxen. Gegen sechzehn Uhr trommelt Bao alle seine Leute zusammen. Mit dem Schnellboot geht es zurück zur Pearl of the bay
, auf der sich die Männer spontan für eine Sonnenuntergangs-Kajaktour anmelden, auf die Bao sie aufmerksam gemacht hat.
Kurz nach dem Abendessen geht das Abenteuer los.
Mit dem gleichen Beiboot wird die aus sechs Touristen bestehende Kajakgruppe von der Dschunke zu einer der nahegelegenen Inseln gefahren. Dort erhalten die Teilnehmer eine kurze Einführung ins Kajakfahren, bevor sie in Zweierpaddelbooten losfahren, um sich die felsigen Sehenswürdigkeiten, die Flora und Fauna anzusehen.
„Nein, Thian, bitte, hör doch zu. Wenn du links paddelst, paddel ich rechts und umgekehrt. Wir müssen zusammenarbeiten, damit wir vorankommen. Immer abwechselnd.“ Ihre Koordination, das Zusammenspiel ihrer Paddel, ist alles andere als eingespielt.
„Ich versuche es ja“, verteidigt sich Thian kopfschüttelnd. Nach ein paar gescheiterten Anläufen, bei denen sie beinahe gekentert wären, haben sie das Kajak im Griff. Zumindest laufen sie nicht mehr Gefahr, an einer der muschelbewachsenen Steilwände zu kentern. Nach zehn Minuten haben sie zu den versierteren Pärchen aufgeholt und können gemeinsam mit ihnen die Inselerkundung vom Wasser aus erleben. Die Sonne schickt ihre warmen, rotorangen Strahlen über die Kalksteinfelsen und verwandelt das Wasser um sie in ein rotes Farbenmeer.
„Schau, dort vorne ist dieser berühmte Bogen, unter dem wir heute durchpaddeln können.“ Davin deutet mit dem Finger in die entsprechende Richtung, lenkt Thians Aufmerksamkeit darauf. Unter einem massiven, üppig bewaldeten Felsen prangt ein ungefähr zehn Meter breiter Bogen, der aussieht wie ein gewaltiges Fenster in eine andere Welt.
„Wow, das sieht hammermäßig aus. Sieh dir an, wie sich die Sonnenstrahlen auf dem Wasser spiegeln. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten unter dem Bogen ist einmalig“, schwärmt Thian verzückt.
Begeistert rudern die Männer darauf zu. Immer wieder lassen sie sich eine Weile treiben, damit sie fotografieren können, bevor es weiter Richtung Felsenbogen geht. Eine Gruppe wild kreischender Affen zieht die Aufmerksamkeit sämtlicher Exkursionsteilnehmer auf sich. Sie sind den Primaten derart nah, dass sie sie beinahe anfassen können. Spielend jagen die Tiere über die Äste, schwingen sich mit Lianen am Felsbogen entlang und sorgen damit für die ein oder andere wirklich gute Aufnahme. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, legt Davin seine Arme um Thian und zieht ihn ein wenig zu sich. Mit einem sanften Lächeln dreht dieser seinen Kopf in Davins Richtung und leckt sich verführerisch über die Lippen, während sein Blick an Davins Mund hängen bleibt.
Seine Absicht ist klar.
Umgeben allein von smaragdgrünem Wasser und rotem Licht, vereinen sich ihre Lippen zu einem sinnlichen Kuss. Davin schließt die Augen und gibt sich ganz dem einmaligen Gefühl hin, das diese romantische Verschmelzung ihrer Münder in ihm auslöst. Erneut durchflutet ihn eine ungeheure Wärme, die ihn von innen her mit neuem Lebensmut erfüllt und ihm den Eindruck vermittelt, alles zu schaffen. Ähnlich wie es in San Francisco das Kokain getan hat, aber das hier ist besser, natürlicher, wahrhaftiger. Für einen winzigen Sekundenbruchteil lässt er sein Paddel los. Unbemerkt gleitet es ins Wasser.
„Dein Paddel!“ Thians Stimme bebt, während er versucht, danach zu greifen, doch in dieser verrenkten Position hat er keine Chance, es zu fassen zu bekommen.
Bevor es im Wasser verschwindet, greift Davin danach. Seine unkontrollierte Handlung bringt das Kajak derart ins Schwanken, dass es beinahe umkippt. Thians Schrei gleicht demjenigen der Affen, was deren Raserei für ein paar Sekunden zum Erliegen bringt. Neugierig blicken sie zu den Menschen, scheinen zu ergründen, was in dieser Nussschale auf dem Wasser vorgeht. Als das Echo des Schreis in den Weiten der Bucht verhallt ist, nehmen die Primaten ihre Verfolgungsjagden wieder auf.
Quasi in letzter Sekunde schaffen es Davin und Thian, ihr Wassergefährt zu stabilisieren. Ein Glücksfall, denn obwohl das Meer an dieser Stelle angenehm warm wäre, kämen Davin und Thian wohl nicht mehr so einfach wieder zurück ins Boot, was hier, mitten im Nirgendwo ein ziemliches Problem wäre.
„Entschuldige bitte“, keucht Davin, während sie weiterpaddeln.
Thian lacht und schüttelt den Kopf. „Ist gerade noch einmal gut gegangen. Komm, wir müssen den anderen nach, sonst hängen die uns ab.“
„Wäre das so schlimm?“, scherzt Davin. „Lost in Halong Bay?“
„Und wovon würden wir leben? Von Früchten, die uns die Affen freundlicherweise runterwerfen? Wo würden wir wohnen? Auf diesem Kajak?“ Thian taucht das Paddel ins Wasser und versucht ihr Boot selbstständig voranzubringen, scheitert jedoch kläglich.
„Du bist vielleicht ein Spielverderber. Wir würden halt irgendwo an einer unbewohnten Insel anlegen, uns dort ein Haus bauen und von allem leben, was auf der Insel wächst. Das ist doch klar“, verteidigt sich Davin, bevor er sein Paddel ebenfalls ins Wasser eintaucht und Thian hilft, das Kajak in Bewegung zu setzen. Mit kräftigen Zügen eilen sie den anderen hinterher und haben kurz darauf aufgeholt. Eine halbe Stunde später gelangen sie wieder zu der Vermietung, geben ihr Kajak zurück und steigen um auf das Speed Boat, das sie zur Pearl
zurückbringt. Dort angekommen, setzen sich die Männer auf das Sonnendeck, um den Abend ausklingen zu lassen. Mittlerweile ist es stockdunkel, einzig die zahlreich über das Deck verteilten Glühbirnen erhellen die Nacht.
„Wirst du nach der Rundreise sofort wieder in die USA zurückgehen oder bleibst du noch ein paar Tage in Hanoi?“
„Das kommt, ehrlich gesagt, ganz darauf an.“
„Worauf?“, hakt Thian mit einem unsicheren Lächeln nach.
„Darauf, ob du mich noch eine Weile länger aushalten möchtest oder nicht.“ Davin zwinkert keck und verzieht den Mund zu einem schelmischen Lächeln. „In den Staaten habe ich niemanden, der auf mich wartet, von daher kommt es nicht darauf an, wann ich zurückfliege. Aber allein möchte ich auch nicht sein.“
„Wenn du willst, ziehst du einfach für ein paar Tage zu uns. Ich bin mir nämlich sicher, dass meine Großmutter dich gern kennenlernen würde.“
Davin kratzt sich am Kinn. „Habt ihr denn Platz für eine weitere Person? Ich möchte mich nicht aufdrängen.“
Thian lacht und schüttelt den Kopf. „Wir finden schon ein Plätzchen für dich, wenn du das willst. Also wäre das schon einmal geklärt und vielleicht hilfst du mir ja auch, ein paar neue Kunden für meine Friseur-Station zu gewinnen?“ Der Vietnamese formuliert den Satz als Frage, den er offen im Raum schweben lässt.
„Das hört sich wundervoll an, ich würde deine Familie unheimlich gern kennenlernen, habe aber ein paar Bedenken, wie sie auf mich reagieren würden.“
„Meine Eltern würden innerlich ausrasten, aber dir gegenüber höflich bleiben, so sind wir eben. Möglicherweise akzeptieren sie dann auch endlich, dass ich schwul bin.“
„Das wünsche ich dir mehr als alles andere. Akzeptanz ist das Wichtigste im Leben und die Meinung deiner Eltern spielt da natürlich eine große Rolle.“
Thian lächelt im Schein des Mondes und der Glühbirnen, bevor er sich zu Davin lehnt, um ihn zu küssen. Überwältigt von der plötzlichen Gefühlsregung, braucht Davin einen Moment, bevor er die Zuneigung erwidert. „Dann kommst du mit? Du bleibst ein paar Tage bei mir?“
„Ja, sehr gern“, flüstert Davin, bevor er Thian erneut küsst und ihm den Hals streichelt. „Danke für die Einladung.“ Unerwartet bricht auf dem Deck rund um sie herum Hektik aus. Die Passagiere reden wild durcheinander und eilen über die Außentreppe nach unten. „Was ist los?“ Eine der nach unten eilenden Passagierinnen, erklärt ihnen, dass sie nun die Möglichkeit haben, Tintenfische zu fangen. „Ach so, stimmt, das ist heute auch noch. Wollen wir auch schauen gehen und vielleicht sogar selbst eines der Tierchen fangen?“
„Klar, gehen wir fischen“, entgegnet Thian lachend, bevor sie sich erheben und der Masse folgen. „Ich habe noch nie gefischt und du?“
Davin schüttelt den Kopf. „Auch noch nie, darum würde ich gern sehen, wie das funktioniert. Vor allem habe ich keine Ahnung, wie man das in der Dunkelheit machen sollte.“ Über die Treppe gelangen die Männer auf das unterste Deck und dort zum Heck, auf dem sie vor einem Tag das Abenteuer Halong Bucht
begonnen haben. Die Passagiere haben sich um ein Crewmitglied versammelt, das ihnen gerade in gebrochenem Englisch erklärt, wie Nachtfischen abläuft. Große Scheinwerfer leuchten direkt auf das Wasser und sollen Tintenfische und anderes Meeresgetier anlocken. An der Reling stehen die Interessierten mit improvisierten Angelruten, die quasi nur aus einem Ast und einem Haken an einem Nylonfaden bestehen, und versuchen ihr Glück.
Thian holt sich beim Instruktor in ihrer Muttersprache noch ein paar zusätzliche Tipps, die dieser aufgrund der sprachlichen Differenzen an die anderen Passagiere nicht weitergeben konnte. Dann stellen sie sich, bewaffnet mit einer Angel, an die Reling. „Du spießt den Wurm auf, wirfst den Haken ins Wasser und ziehst ihn nach einigen Sekunden ruckartig hoch. Wenn du Glück hast, hängt ein Tintenfisch dran. Aber die kleineren Exemplare musst du wieder ins Wasser werfen. Sie sind geschützt.“
„Alles klar“, entgegnet Davin, bevor sie sich daran machen, die sich windenden Würmer am Haken zu befestigen, den sie kurz darauf im Wasser versenken. Wie vom Crewmitglied empfohlen, lassen sie die Angel ein paar Sekunden im Wasser, bevor sie den Silk jäh wieder hochholen. Die ersten zehn Mal haben die beiden genau so wenig Erfolg, wie alle anderen Anwesenden. Erst nachdem sie vom Besatzungsmitglied den Tipp bekommen, dass sie den Haken zuerst nur kurz hoch, dann wieder sinken lassen sollen, bevor sie die Leine einholen, klappt es plötzlich. Als Davin den ersten Tintenfisch an der Angel aus dem Wasser zieht und das glibberige Lebewesen näher betrachtet, kommen ihm Zweifel. Ein Blick zu Thian bestätigt ihn bei seinem Vorhaben. Mit einer flinken Bewegung umfasst Davin das glitschige Tier und windet es vom Haken, bevor er es wieder ins Meer entschwinden lässt.
„Danke, dass du ihn wieder hast gehen lassen.“
„Hoffentlich nutzt das kleine Kerlchen seine Chance. Weißt du was? Fischen ist doch nichts für mich. Komm wir gehen wieder hoch und entspannen uns noch ein wenig.“
„Für mich auch nicht, aber macht es dir etwas aus, wenn ich ins Bett gehe? Ich bin müde und würde gerne für morgen fit sein.“
Davin schüttelt den Kopf und nimmt Thian an der Hand. „Natürlich nicht, dann komme ich auch mit. Das Paddeln hat mir echt den Rest gegeben und die Haut auf meinem Rücken spannt total.“
„Oh, dein Sonnenbrand? Soll ich dich noch einmal eincremen? Nützt das überhaupt noch etwas?“
„Das wäre super. Ich glaube, dass ich irgendwo noch After Sun Lotion habe, die hilft mir recht gut. Vor allem, wenn es sich nur um eine leichte Verbrennung handelt.“
Nachdem die Männer geduscht haben und sich Thian um Davins Schultern und den Rücken gekümmert hat, schlafen sie ein. Thian an Davins Brust gekuschelt, den Arm über dessen Bauch, während ihn dieser festhält.