Kapitel zehn
Eine Stunde vor dem Eintreffen in Halong haben die Passagiere die Möglichkeit an einem Do-it-yourself-Frühlingsrollen-Workshop auf dem Restaurantdeck teilzunehmen. Eine Gelegenheit, die sich Davin und Thian nicht entgehen lassen, zumal die selbst gerollten Teiglinge ihre letzte Mahlzeit auf der Dschunke darstellen werden. Das Gepäck haben sie vor ihrer Kabine bereitgestellt, damit sich die Stewards um den Transport kümmern können.
Auf einem langen Tisch hat die Crew alles vorbereitet, was für eine erfolgreiche Erstrollung nötig ist: Klein geschnittene Karotten, Kräuter, Kohlrabi und Salatblätter. Zusätzlich kann zwischen Schrimps oder gebratenem Schweinefleisch gewählt werden. Eine zierliche Küchenangestellte gibt einen kurzen Einblick in die geschichtliche Entstehung der Frühlingsrolle, bevor sie die verschiedenen Darreichungsformen erläutert. Sie ist voller Begeisterung bei ihrer Arbeit, was sich auf sämtliche Zuhörer überträgt. Die Passagiere freuen sich auf eine gesunde und schmackhafte Zwischenmahlzeit.
Obwohl das Rollen einfach aussieht, merken Davin und Thian rasch, dass der Herstellungsprozess des bekömmlichen Snacks komplizierter ist, als gedacht. Während Thian seine Zutaten bereits auf das angefeuchtete Reispapier gelegt hat, kämpft Davin noch mit dem widerspenstigen Grünzeug. Beim anschließenden Rollen quillt dann bei beiden das meiste an den Öffnungen wieder heraus.
„So ein Käse“, poltert Davin genervt.
„Wem sagst du das“, stimmt ihm Thian frustriert zu. „Bei meiner Mutter sieht das wesentlich einfacher aus.“
„Deine Mutter ist Frühlingsrollen-Meisterin und du kannst es nicht? Schäm dich, Thian.“
Lachend schüttelt dieser den Kopf. „Haha, ich bin nicht wirklich talentiert in der Küche.“
„Das sieht man an deiner Rolle“, frotzelt Davin und streckt Thian die Zunge heraus.
Erst nachdem die Küchenhelferin ihnen gezeigt hat, wie das Einschlagen der Enden funktioniert, schaffen sie es schließlich. Nach fünf Minuten belegen, arrangieren, stopfen, rollen und fluchen liegen vor den Männern zwei bemitleidenswerte Frühlingsrollen, die trotz ihres kümmerlichen Äußeren, fantastisch schmecken.
Der perfekte Abschluss ihrer Dschunke-Reise.
Als das Hotelschiff vor der Küste ankert, bricht für ein paar Minuten Hektik aus, da sämtliche Passagiere auf die Beiboote verteilt und an Land gebracht werden müssen. Derweil schlägt sich die Crew mit den Gepäckstücken ihrer Gäste herum und die Putz-Crew versucht, der Unordnung in den Kabinen Herr zu werden. Eine halbe Stunde später sitzen Davin und Thian endlich wieder in ihrem Auto, bereit für den zweiten Teil ihrer gemeinsamen Nordvietnamreise.
„Ab an den Flughafen. Um achtzehn Uhr hebt unser Flieger nach Hoi An ab“, lässt Davin verlauten, bevor er den Motor startet und auf die Straße fährt.
„Hoi An muss traumhaft sein. Ich habe davon gelesen und es auf Bildern gesehen, aber jetzt wirklich dort hinzukommen, das ist einmalig.“
„Das wird fantastisch, aber ehrlich gesagt freue ich mich fast noch mehr darauf, deine Familie kennenzulernen. Bestimmt sind sie genauso liebenswert wie du. Und ganz besonders neugierig bin ich auf deine Großmutter.“
Thian lächelt verlegen. „Nur meine Schwester spricht einigermaßen fließend Englisch, mein Vater ein paar Brocken.“
„Dafür habe ich dich“, antwortet Davin mit einem Zwinkern und streichelt Thian über die Wange. Nur widerwillig konzentriert er sich wieder auf den Verkehr. Etwas, das Thian gesagt hat, nagt an Davin, lässt ihn einfach nicht los und darum spricht er es jetzt an. „Du hast gesagt, dass du dir gerne mal die USA anschauen würdest.“
„Auf jeden Fall, aber das wird wohl ein Traum bleiben.“
„Wie wäre es, wenn du mich begleitest? Ich habe einen Freund beim Außenministerium, der mir einen Gefallen schuldet. So kriegen wir für dich sicher ein Studentenvisum oder so was Ähnliches bewilligt. Ich könnte dir meine Stadt zeigen und wir hätten mehr Zeit, die wir zusammen verbringen können.“
Thian schweigt für einen Moment, der sich für Davin wie eine Ewigkeit anfühlt. Gerade als er nachhaken will, bricht Thian das Schweigen. „Du würdest mich mitnehmen und bei dir wohnen lassen?“ Begeisterung lässt ihn aufrechter sitzen und Davin mit erwartungsvollen Augen ansehen.
„Natürlich. Du könntest in einem Friseursalon oder als Kellner arbeiten. Da würdest du mehr Geld verdienen als in Vietnam und so deine Familie finanziell besser unterstützen.“ Sein Blick schweift kurz weg von der Straße und hin zu Thians Gesicht.
Sind das Tränen, die in seinen Augen glitzern?
Mit bebenden Lippen wischt sich Thian über die Augen, schnieft und holt tief Luft. „Denkst du, dass ich ein Visum bekomme? Wirklich? Ich meine, dass wäre ein Traum, mehr als ich mir jemals erträumt hätte. Oh, Davin, das wäre schlicht fantastisch.“
Freudentränen, realisiert Davin.
„Warum denn nicht? Er kann da sicher etwas für mich drehen und so könntest du länger bleiben, als nur für die Dauer eines Touristenvisums. Soll ich ihm schreiben?“
„Ja, bitte tu das. Davin, ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du erfüllst mir damit einen Herzenswunsch. Ich …“ Thian bricht ab, zu aufgeregt und glücklich ist er, um überhaupt in Worte zu fassen, was er in diesem Moment fühlt. „Wie kann ich dir nur danken? Ich … meine Güte, endlich aus Vietnam weg, in ein fremdes Land, die Welt sehen. Niemals hätte ich gewagt, laut davon zu sprechen und jetzt wird das wahr? Oh, Davin.“ Nun gibt es für Thian kein Halten mehr, er fällt dem fahrenden Davin stürmisch um den Hals, weshalb sie kurzzeitig von der Straße abkommen und beinahe in einem Reisfeld landen.
„Hey, hey, vorsichtig“, mahnt Davin lachend, während er versucht, den Wagen wieder unter Kontrolle und zurück auf die Fahrbahn zu bringen. „Natürlich werde ich es versuchen, aber versprechen kann ich nichts. Wenn wir am Flughafen sind, mache ich ein Foto von deinem Pass und schicke es ihm. Okay? Dann sehen wir weiter.“
„Danke. Das ist super. Wow.“
„Freut mich, dass du so positiv darauf reagierst. Ich zerbreche mir schon seit gestern den Kopf darüber, dass …“, erwidert Davin mit immer leiser werdender Stimme.
„Worüber?“
Davin seufzt und schluckt den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hat. „Darüber, was geschieht, wenn ich dir Lebewohl sagen muss. Ich will einfach nicht, dass unsere gemeinsame Zeit schon endet.“
Thian strahlt übers gesamte Gesicht. „Nein, das wäre sehr schade. Der gestrige Abend war nämlich sehr schön. Also auch die letzten Tage, aber … ach, du weißt, was ich meine“, stammelt Thian verlegen.
Davin lacht gelöst. „Das fand ich auch“, gibt er zu und spürt, wie beim bloßen Gedanken an ihre Berührungen das Blut in seinen Lenden in Wallung gerät.
„Willst du … ähm, also … auch weiter gehen?“ Thians Stimme kommt flüsternd, während er verschämt aus dem Fenster blickt. Die roten Ohren des Vietnamesen lassen Davin innerlich kichern.
„Wenn du bereit bist, gerne. Aber ich denke, dass wir uns einig sind, dass Sex nicht zwischen uns stehen sollte. Deine Gesellschaft ist mir mehr wert, als das rein Körperliche.“
„Das sehe ich genau so, aber ich glaube, dass ich es genießen würde.“
„Nicht nur du“, entgegnet Davin schmunzelnd.
„Aber wie meinst du das, wenn ich bereit bin?“ Eine Falte breitet sich quer über Thians Stirn aus, während er seinen Mund zu einer störrischen Maske verzieht.
„Na ja, äh, so wie ich dich kennengelernt habe und wie du am ersten Tag in Hanoi reagiert hast, dachte ich, dass du nicht der Typ bist, der sofort Sex haben will. Und auch, wie du vor meinen Berührungen zurückgewichen bist, da hat sich mir dieses Gefühl aufgedrängt.“ Die japsenden Geräusche, die Thian daraufhin entweichen, erstaunen Davin derart, dass er erneut beinahe von der Straße abkommt.
Mein Gott, ich muss mich einfach besser konzentrieren. Ich kann hier nicht rumeiern wie ein Betrunkener, sonst ziehen mich die Bullen noch aus dem Verkehr.
„Was genau soll das jetzt?“, erkundigt sich Davin irritiert.
„Ich glaube, dass du da etwas falsch verstanden hast. Natürlich ist es mir unangenehm, wenn du an mir herumspielst, wenn wir unter Vietnamesen sind. Weil sie es nicht akzeptieren, aber sonst? Hey, ich liebe Sex. Ich möchte es einfach nicht als Gegenleistung erbringen müssen, aber wenn es für beide stimmt, ist es etwas unheimlich Schönes.“
Davin stöhnt und schüttelt ungläubig den Kopf. „Du willst mir damit also sagen, dass wir über eine Woche verloren haben, was das Sexuelle angeht, weil ich etwas falsch interpretiert habe?“
Thians Lachen wird noch einmal lauter. „Verloren ist das falsche Wort. Unser Kennenlernen hat mir äußerst gut gefallen. Ich glaube, dass wir auf die herkömmliche Weise vielleicht gar nie so weit gekommen wären. Daher bin ich froh, dass es so abgelaufen ist.“
„Ich doch auch“, gibt Davin zurück und streckt Thian seine Hand hin. Mit ineinander verschlungenen Fingern fahren sie über die Landstraße in Richtung der vietnamesischen Hauptstadt. Ein verschmitztes Grinsen auf ihren Gesichtern.
Der Weg zieht sich länger hin als gedacht, was unter anderem auf das massive Verkehrsaufkommen vor Hanoi zurückzuführen ist. Die Zeit bis zum Abflug wird knapp. Nachdem Davin und Thian ihren Wagen endlich bei einem desinteressiert wirkenden Angestellten der Vermietungsfirma zurückgegeben haben, eilen sie weiter zu den Check-in-Schaltern, vor denen sich nicht wenige Menschen die Beine in den Bauch stehen.
„Das schaffen wir nie“, stöhnt Davin und sieht wiederholt auf seine Armbanduhr.
„Doch, bestimmt. Bleib entspannt.“ Thians beschwichtigende Worte beruhigen Davin ein wenig. Er lässt den Blick durch das Terminal wandern. Viele gestresste und wartende Passagiere, kaum Bodenpersonal.
„Sie sind ein bisschen spät dran“, informiert sie die Dame vom Check-in mit einem strahlenden Lächeln. „Gate 5D, wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihre Maschine vielleicht noch.“
„Danke.“ Davin schnappt sich die Bordkarten und zieht Thian, der den Ernst der Lage noch nicht ganz erfasst hat, Richtung Sicherheitskontrolle.
„Was geschieht jetzt?“, will Thian, der in seinem Leben noch nie geflogen ist, nervös wissen. Sein Blick fällt auf die Metalldetektoren und die Förderbänder für die Wertgegenstände.
„Jetzt kommt der Security Check. Wichtig ist, dass du sämtliche Gegenstände, die du auf dir trägst, also auch dein Smartphone, etwaigen Schmuck, alles in deinen Hosentaschen und den Gürtel in eines der Gefäße legst.“ Davin macht es vor, gibt Tipps und Tricks, wie man Auseinandersetzungen mit dem Sicherheitspersonal vermeiden kann. „Wenn du deinen Behälter in die Maschine geschoben hast, gehst du einfach durch den Detektor. Okay?“
Thian nickt und folgt Davin in einigem Abstand durch die Schleuse und bringt damit seinen allerersten Flughafen-Sicherheitscheck erfolgreich hinter sich. Ohne zusätzliche Probleme oder Zeitverzögerungen schaffen es die Männer in letzter Minute ans Gate. Das Boarding befindet sich bereits in den letzten Zügen. Ein paar Minuten später sitzen sie auf ihren Plätzen und schnallen sich an, Thian am Fenster und Davin am Gang.
„Ich bin total nervös.“ Thians Stimme zittert leicht, während er sich fahrig umsieht, sein Blick wandert vom Fenster, über die Sitzreihen zu Davin.
„Entspann dich. Du hast doch keine Flugangst, oder?“, erkundigt sich Davin.
Thian schenkt Davin ein Lächeln und schüttelt dann vehement den Kopf. „Ich war auch schon auf einem der Hanoier Hochhäuser und habe mir die Stadt aus der Vogelperspektive angesehen. Also keine Höhenangst. Natürlich wird sich erst zeigen, ob ich Panik vor dem Fliegen habe. Bis jetzt geht es mir ganz gut.“
„Da bin ich froh. Sei einfach darauf vorbereitet, dass es dich beim Start des Flugzeugs ziemlich in den Sitz drücken wird. Geh entspannt mit und genieße die unbändige Kraft, mit der dieser Vogel abheben wird.“
„Das hört sich spannend an. Ach, wird schon schief gehen.“
Der Pilot begrüßt mit einem kaum verständlichen Englisch die Passagiere an Bord, während die Maschine gemächlich zur Startbahn rollt. Kurz darauf beginnt die Sicherheitsvorführung, die Thian mit interessierter Miene verfolgt und dabei alles, was die Stewardessen wie eine Platte abspulen, förmlich in sich aufzusaugen scheint. Sogar die Sicherheitskarte aus der Sitztasche unterzieht er einer genauen Musterung. Als Thian nach der Schwimmweste unter dem Sitz tastet, kann sich Davin nicht mehr länger zurückhalten und beginnt zu glucksen.
„Hey, lach mich nicht aus“, beschwert sich Thian und zieht einen beleidigten Flunsch, den man ihm jedoch nicht abkauft, vor allem nicht, wenn man in seine schelmisch funkelnden Augen blickt.
Davin hebt beschwichtigend die Hände und versucht verzweifelt, seinen Lachkrampf in den Griff zu bekommen. „Bitte entschuldige, ich lache dich nicht aus, ich schmunzle nur über die Situation.“
„Jaja, schon gut.“ Thian lacht mittlerweile auch und verdreht die Augen. In diesem Moment erklingen in der Kabine die Signale, die anzeigen, dass das Flugzeug für den Start freigegeben wurde.
Der Pilot gibt Schub.
Thian entweicht ein zuckersüßes Quietschen und im gleichen Atemzug umfasst er Davins Oberarm, klammert sich fest. Wenige Augenblicke später erhebt sich die Maschine in den frühabendlichen Himmel über Vietnams Hauptstadt. Sekunden später durchstößt sie die Wolkendecke, um die Sicht auf einen stahlblauen Himmel und den ungetrübten Blick auf die orange glühende Sonne freizugeben. Der Flug nach Da Nang, die nächstgrößere Stadt mit Flughafen in Hoi Ans Nähe, dauert eineinhalb Stunden. Nach fünfzig Minuten meldet sich der Pilot erneut über das Lautsprechersystem und informiert die Passagiere, dass mit dem Sinkflug begonnen wird.
„Wie findest du deinen ersten Flug?“, erkundigt sich Davin bei Thian, der aus dem Fenster in den endlos scheinenden Himmel blickt.
„Fantastisch. Ich hätte nie gedacht, dass das so einzigartig sein würde. Ich meine, guck mal, man sieht einfach alles und so weit. Da hinten“, er deutet in die Ferne, „ist das Meer und gleich dort vorne liegt Da Nang. So schön. Wow, ich bin hin und weg.“
Davin lächelt sanft und küsst Thian auf die Wange. „Freut mich, dass dir das so gut gefällt. Der Flug in die USA dauert dann etwas länger, ungefähr 19 Stunden. Aber so wie ich das jetzt sehe, wird dir das nichts ausmachen.“
„Was? Das ist eine kleine Ewigkeit. Gibt es da etwas zu essen?“ Thian nimmt Davins Hand, presst einen Kuss darauf und drückt sie dann liebevoll.
Davin lächelt, bevor er die Frage mit einem Nicken beantwortet. „Wir werden nicht verhungern. Es wird Abendessen, Frühstück und so viele Getränke geben, wie du willst.“
„Genial, darauf freue ich mich. Sofern es klappt.“
Das Flugzeug hat in der Zwischenzeit massiv an Höhe verloren, die Klappen an den Tragflächen wurden ausgefahren und sorgen für einen steten Sinkflug – die Häuser kommen rasch näher.
„Genau, sofern es klappt“, bestätigt Davin. Wie gern würde er Thian mit sich nehmen, aber ob sein Kontakt im Außenministerium etwas bewegen kann, steht in den Sternen. Am Flughafen hat er ein Foto von Thians Pass geschossen und dieses in einer E-Mail an seinen Freund geschickt. Jetzt heißt es, warten und hoffen.
Im nächsten Moment setzt die Maschine unsanft auf der Landebahn auf und leitet ein abruptes Bremsmanöver ein. Vor lauter Schock zerquetscht Thian beinahe Davins Hand.
„Aua, das tut doch weh!“
„Entschuldige.“ Thian entspannt seinen Griff und versucht ruhig und gleichmäßig zu atmen. Nach dem Taxiing an das Gate, verlassen die Reisenden das Flugzeug und begeben sich zur Gepäckausgabe, an der nach kurzer Zeit sowohl Davins Koffer, als auch Thians Rucksack über ein Band zu ihnen zurückfinden. Gemütlich spazieren sie durch die unübersichtlichen Flure des Flughafens und finden nach ein paar Minuten die Ankunftshalle, in der unzählige Menschen auf ihre Liebsten warten. Lachende und freudige Gesichter wohin man blickt. Nach kurzer Suche entdecken sie einen grimmig dreinschauenden Mann, der ein Schild mit Davins Namen schwenkt.
„Ist das wirklich der Kerl, der uns abholen soll?“, erkundigt sich Thian irritiert.
„Sieht so aus. Oder erwartest du noch mehr Kerle, die ein Schild mit meinem Namen hochhalten? Hm … der sieht nicht gerade freundlich aus.“
Auch als die Männer lächelnd auf den Hotelangestellten zugehen und sich ihm vorstellen, hellt sich dessen Mimik nicht auf, im Gegenteil. Die Furchen auf dem Gesicht des Alten scheinen sich zu vertiefen, als er die beiden Männer mustert. Wortlos dreht er sich um und marschiert aus dem Flughafengebäude auf ein mehrstöckiges Parkhaus zu.
„Was für ein Miesepeter“, murmelt Davin in Thians Richtung, als sie dem vorauseilenden Fahrer zu folgen versuchen. Das Gepäck müssen sie selbst tragen, denn der knorrige Alte hat keine Anstalten gemacht, es ihnen abzunehmen. Da Nang liegt in Äquatornähe, das Klima unterscheidet sich massiv von dem in Vietnams Norden. Auch nach 19 Uhr herrschen drückende Temperaturen, die vor allem Davin zusetzen. Von San Franciscos schneelosem Winter in den südvietnamesischen Sommer?
Eine harte Probe für Körper und Geist.
Nach kurzem Fußmarsch erreichen sie einen Minivan, auf dessen Seiten das Hotellogo prangt. In dem angenehm klimatisierten Kleinbus beginnt wenige Minuten später die einstündige Fahrt in die Stadt der Laternen. Auch weiter südlich verstopfen unzählige Motorroller, Fahrräder und Autos die Straßen, was ein Vorankommen massiv behindert.
„Schau dir diese Brücke an, Davin. Das ist genial. Eine Drachenbrücke!“ Thian deutet begeistert aus dem Fenster auf das bunt beleuchtete Bauwerk, über das sie in ein paar Sekunden fahren würden. Das imposante Bauwerk wurde einem feuerspeienden Drachen nachempfunden, der sich als Brückenpfeiler über die gesamte Länge erstreckt.
„Wow, so etwas habe ich auch noch nicht gesehen“, entgegnet Davin, bevor er mit seinem Smartphone ein paar Fotos schießt. Die Fahrt führt sie aus dem dicht besiedelten Gebiet heraus und über Landstraßen ihrem Ziel entgegen.
Hoi An ist das pure Gegenteil von Hanoi, wie Davin und Thian feststellen, als sie die Außenbezirke erreichen. Das fängt bei den Häusern an und wird umso klarer, je tiefer sie in das Städtchen vordringen.
Alles ist kleiner, beschaulicher, entspannter.
Als der grimmige Fahrer den Minivan in die Hotelauffahrt lenkt, starrt Thian mit geweiteten Augen aus den getönten Scheiben des Fahrzeugs. „Hier schlafen wir? Ist das dein ernst?“
„Ja, natürlich. Warum? Passt etwas nicht?“
Thian schüttelt erstaunt den Kopf, bevor er aussteigt und sich auf dem gepflasterten Platz aufstellt und die Hotelfront von oben bis unten betrachtet. „Es ist ein Traum. Wow, so schön habe ich noch nie gewohnt.“
„Du hast den Pool noch nicht gesehen“, scherzt Davin, der dem Fahrer ein Trinkgeld zusteckt, auch wenn er es nicht verdient hat. Mit Thian im Schlepptau geht er auf den Eingang zu. An der Rezeption findet man seine Reservierung im Handumdrehen und nachdem Davin seinen Pass vorgelegt und das Formular mit seinen Angaben unterzeichnet hat, führt sie ein Page zu ihrem Zimmer. Der Weg führt sie aus dem Hauptgebäude in den Innenhof hinaus und von dort über Pflastersteine am Pool vorbei zu ihrem Bungalow. Tropische, von starken Spots beleuchtete Pflanzen, umstehen nicht nur den Pool, sondern vermitteln auf der gesamten Anlage den Eindruck, dass sie in einem zweiten Garten Eden gelandet sind. Ihre Unterkunft, ein einstöckiges Häuschen im hinteren Bereich des Hotelgeländes, liegt nahe beim Pool und bietet eine spektakuläre Aussicht. Nachdem er ihnen die Annehmlichkeiten ihrer Bleibe gezeigt und sich für das Trinkgeld bedankt hat, lässt er die Männer allein.
„Gefällt es dir?“, will Davin wissen, als er sich das geräumige Bad mit der Regenwalddusche und der in den Boden eingelassenen Wanne noch einmal genauer ansieht.
„Ob es mir gefällt? Es ist traumhaft schön.“
Davin lächelt sanft, umarmt Thian und küsst ihn. „Das freut mich. Wie sieht es aus, möchtest du dir die Stadt der Laternen heute bei Nacht ansehen oder wollen wir morgen am Tag dahin?“
„Hm … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Eigentlich würde ich die Stadt total gern sehen, andererseits könnte ich mich auch im Pool beschäftigen. Hm … wie siehst du das?“
„Komm, wir nehmen uns eine Rikscha und fahren in die Stadt. Dann können wir dort noch etwas essen und uns die unzähligen Lampions ansehen. Die Stimmung soll bei Nacht einfach atemberaubend schön und romantisch sein.“
„Einverstanden.“
Eine halbe Stunde später brechen sie auf und finden auf der Hauptstraße vor dem Hotel schnell eine Mitfahrgelegenheit. Der junge Mann bringt sie keuchend, aber in rekordverdächtiger Zeit in die Stadt, in der er sie an einem zentralen Platz herauslässt. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen und an ihre Stelle sind Abermillionen von Glühbirnen getreten, welche die Seidenlaternen zum Leuchten bringen. Begeistert und sprachlos flanieren Davin und Thian durch die engen Gassen der Stadt und lassen sich von dem Zauber der unzähligen Lichter faszinieren.
„Stell dich doch bitte dort vorne neben diese Brücke, dann mache ich ein Foto von dir.“
Mit einem sanften Lächeln stellt sich Thian vor eine Ansammlung vieler weißer Leuchten, die ihm auf dem Foto einen Art Heiligenschein verleihen. Davin schießt mehrere Bilder, die er Thian per WhatsApp sofort schickt. Die drei- bis vierstöckigen Gebäude haben mehr Charme, als die heruntergekommenen Wohnhäuser Hanois. Doch Davin ist sich nicht sicher, ob dies am Zustand der Bauten oder an den Millionen von Laternen liegt, die sich der hereinbrechenden Nacht entgegenstellen.
Als Thian Davins Hand nimmt, ist dieser für einen winzigen Moment irritiert, bevor er den sanften Händedruck erwidert. Gemeinsam flanieren sie vorbei an unzähligen Restaurants, die um Gäste buhlen und Geschäften, die bis spät abends geöffnet haben. An jedem Häuschen leuchten mehrere Lampions, meistens farbig auf das Äußere des jeweiligen Gebäudes abgestimmt. Trotz der Farbenvielfalt wirkt das Lichtkonzept nicht chaotisch, sondern verleiht dem Ort einen besonderen Zauber, der einmalig ist. In einem Restaurant, dessen Außenbereich an den dunklen Fluss grenzt, findet das Duo einen Tisch direkt am Ufer.
„Schau dir die Spiegelungen auf dem Wasser an. Du siehst jedes Detail der Häuser. Faszinierend.“ Davin deutet auf die dunkle Oberfläche des Gewässers, auf der sich Hoi An spiegelt.
„Wow, du hast recht, diese Spiegelung ist wirklich atemberaubend.“
Die Männer bestellen Krabbe. Das köstlich rote Krustentier wird auf einem Salatbett und mit genügend Reis für eine Kleinfamilie gereicht.
„Wie stehen meine Chancen auf das Studentenvisum in den USA, was denkst du?“, will Thian wissen, bevor er sich eine gut gefüllte Gabel mit blütenweißem Krabbenfleisch in den Mund schiebt, die Augen schließt und sich von der Geschmacksexplosion mitreißen lässt.
„Ich bin ehrlich zu dir, würde ich da nicht jemanden kennen, denke ich nicht, dass du Chancen hättest, aber so? Er wird uns das sicher ermöglichen. Und wenn sie dir das mit dem Studium nicht abkaufen, beantragen wir einfach ein Touristenvisum.“
Thian nickt mit einem Lächeln auf dem Gesicht und schluckt. „Das ist die beste Krabbe, die ich jemals gegessen habe. Gut, eigentlich ist es auch die erste und einzige, die ich je probiert habe.“
Davin beginnt schallend zu lachen und schüttelt den Kopf. „Das ist auch nicht etwas, dass man sich täglich gönnt. Aber ich finde sie unheimlich gut.“
„Ach, die reichen Menschen essen nicht jeden Tag Kaviar und Krabbenfleisch?“, frotzelt Thian und versucht sich dabei an einem britischen Akzent.
„Haha, du bist mir vielleicht eine Knalltüte. Natürlich nicht.“ Lächelnd essen sie weiter. „Du hast mir doch erzählt, dass euer Haus nicht gerade groß ist, wo soll ich denn schlafen?“ Dieses Thema geistert Davin schon länger durch den Kopf, aber bisher hat er nie den richtigen Moment gefunden, es anzusprechen.
„Meine Schwester und ich teilen uns ein Zimmer. Wenn meine Cousins zu Besuch kommen, legen wir einfach eine Matratze auf den Boden und schon haben sie eine Bleibe für die Nacht. Der Rest der Etage ist Wohnzimmer.“
Davin sieht Thian entgeistert an. „Wie darf ich mir das vorstellen. Ist das alles ein Raum?“
„Nein, natürlich nicht. Unser Zimmer ist separat mit einer eigenen Tür und allem. Also es ist so: Im Parterre befindet sich das Café meiner Eltern, der erste Stock gehört meiner Großmutter, damit sie nicht so viele Stufen steigen muss. Dort ist auch die Küche, in der sie täglich für die gesamte Familie kocht, während meine Eltern arbeiten. Im zweiten Stock leben meine Mutter und mein Vater, dort sind auch Toilette und Dusche. Und dann kommt eben mein Stockwerk.“
„Das hört sich tatsächlich nicht gerade groß an, aber warte“, Davin kratzt sich am Kopf, bevor er fortfährt, „ihr habt nur ein Badezimmer für fünf Personen? Das kann ich mir gar nicht vorstellen, wie macht ihr das bloß?“
Thian lacht und zwinkert Davin zu. „Wir haben einen ausgeklügelten Plan ausgearbeitet. Wer als erster aus dem Haus muss, darf als erster ins Bad, gefolgt von allen anderen. Wenn wir alle Frühschicht haben, teilen wir uns das Bad auch.“
„Oh, mein Gott. Ich habe keine Ahnung, ob ich Lust darauf habe, mit deiner Großmutter zu duschen.“
Thian prustet lautstark los und schüttelt den Kopf. „Keine Sorge, das musst du nicht. Sie hat ein eigenes kleines Badezimmer, das nur ihr gehört, da darf niemand rein.“
Davin schweigt für einen Moment, schiebt sich dann ein Stück Krabbe in den Mund und kaut genüsslich.
Das wird was werden.
Als die Männer ihre Löffel in den Che Troi Nuoc, ein Dessert aus in einer zuckrigen Suppe schwimmenden Reisbällchen, tauchen, werden sie Zeugen eines ganz besonderen Spektakels:
Innerhalb von nur wenigen Minuten verwandelt sich der Fluss in ein atemberaubendes Lichtermeer. Immer mehr von den kleinen, auf einem Floß aus Ästen montierten Seidenpapierlaternen werden auf die Reise stromabwärts geschickt. Die Teelichter im Innern werfen weißes Licht auf die dunkle Wasseroberfläche, vermischen sich mit den Spiegelungen Hoi Ans und verwandeln das Gewässer in einen Strom der Hoffnung. Denn jedes der lodernden Flämmchen steht für die Erwartungen desjenigen, der das Floß der Strömung übergeben hat und nun gebannt am Ufer steht und zusieht, wie sich sein Wunsch mit den anderen verbindet.
Staunend wohnen Davin und Thian dem Schauspiel bei.
„Wollen kaufen?“, werden sie von einer Frau angesprochen, die sich am Flussufer entlang bis zu ihrem Tisch vorgekämpft hat und ihnen eines der aus weißem Seidenpapier gefertigten Laternchen hinhält.
Davin nickt und kauft gleich zwei. Nachdem sie die Teelichter entzündet und ihre Wünsche im Geiste geformt haben, setzen sie ihre schwimmenden Lichtchen aufs Wasser und lassen sie treiben. Andächtig beobachten sie, wie sich ihre Wünsche mit hunderten anderen vermischen und stromabwärts Richtung Meer treiben. Erst als sie glauben, dass ihre Lichter in der Ferne entschwunden sind, kehren sie zu ihrem Tisch zurück.
Nachdem sie ihren Nachtisch verdrückt haben, machen sie sich zu Fuß auf den Weg zum Hotel. Hand in Hand schlendern sie durch die Gassen, bestaunen Laternen und genießen die gemeinsame Zeit. An diesem Abend, in dieser magischen Stadt und in der Vertrautheit ihres Hotelzimmers, geben sie sich einander das erste Mal voll und ganz hin. Sie tauschen dabei abwechselnd die Rollen und schlafen irgendwann in inniger Umarmung ein.