Kapitel zwölf
Die nächsten zwei Tage verbringen die Männer mit Schwimmen im Pool, Relaxen, Tempelbesichtigungen und ausgedehnten Spaziergängen durch Hoi An sowie durch die üppige Natur, die rund um das Städtchen gedeiht. Die Temperaturen erklimmen täglich neue Höchstwerte, während die Sonne vom Himmel strahlt. Die schwülen Abende genießen sie in der bunten Lichtwelt der Altstadt und auf dem Nachtmarkt, der einige Überraschungen für Urlaubsgäste bereithält.
Am Tag ihrer Abreise empfängt Thian und Davin der gleiche Fahrer in der Lobby, der sie bereits zum Hotel gebracht hat. Seine Mimik hat sich in den vergangenen Tagen nicht sonderlich aufgehellt und so begrüßt er sie ohne ein Lächeln oder irgendeine positive Regung. Die Fahrt zurück an den Flughafen von Da Nang nutzen sowohl Davin als auch Thian, um sich auf das vorzubereiten, was sie in Hanoi erwartet. Zum einen brennt Davin darauf, Thians Familie kennenzulernen und zu sehen, wo und wie er lebt. Auf der anderen Seite erfüllt es ihn mit Angst, weil er nicht sicher ist, wie dieses Zusammentreffen ablaufen, beziehungsweise wie die Reaktion seiner Familie ausfallen wird. Diese Ungewissheit schwebt wie ein Damoklesschwert über Davin.
Werden sie mich mögen? Werden sie es sich endlich eingestehen, dass ihr Sohn schwul ist und ihn akzeptieren?
„Ich mache mir ein wenig Sorgen, wie meine Eltern reagieren“, beendet Thian die Stille, die sich im Innern des Minivans ausgedehnt hat.
„Das kann ich mir vorstellen und ich bin ehrlich mit dir: Ich auch. Was macht dir denn am meisten Angst?“
Thian lächelt verlegen, schüttelt den Kopf und schaut aus dem Fenster in die Ferne, als ob irgendwo am Horizont die Antwort läge. „Ich habe vor, dich direkt als meinen Freund vorzustellen, sprich sie müssen sich endlich mit dem Fakt auseinandersetzen, dass ihr Sohn schwul ist und können es nicht mehr länger ignorieren. Ich habe die Befürchtung, dass das nicht so gut ankommt.“
„Das glaube ich allerdings auch. Du könntest das Ganze etwas subtiler angehen. Sag es ihnen nicht so direkt. Sie können sich ihre Sache dann denken, aber du stößt sie nicht mit der Nase drauf.“
„Stimmt, das könnte ich. Aber irgendwie habe ich darauf keine Lust. Ich bin es leid, mich zu verstecken und das Thema zu verschweigen. Meine Schwester erzählt andauernd von ihrem Typ, das stört niemanden, aber ich muss schweigen, darf nichts von meinem Privatleben erzählen. Und ganz ehrlich, bisher wollte ich das auch gar nicht. Ich hatte niemanden, aber jetzt“, er nimmt Davins Hand, „will ich, dass es die ganze Welt weiß.“
Den kritischen Blick des Fahrers im Rückspiegel aufschnappend, entgegnet Davin: „Zumindest er hat nun Gewissheit.“ Davin deutet kaum wahrnehmbar mit dem Kinn in die Richtung des Mannes.
„Das ist mir sowas von egal.“
„Hab ich mir schon gedacht. Am Ende musst du wissen, wie du es deinen Eltern sagst. Das ist für niemanden einfach und immer eine Herausforderung.“ Davin seufzt und schüttelt den Kopf, während seine Gedanken zurück zu dem Moment gleiten, als er es seinen Eltern offenbart hat. Einfach war es nicht, aber die Erleichterung danach war unbeschreiblich. „Mir ist beides recht. Sei dir einfach bewusst, dass sie vielleicht nicht so reagieren, wie du es dir vorstellt.“
„Na ja, meine Oma weiß es bereits und auch meiner Schwester habe ich erzählt, dass ich mit dir verreise. Gut, damals wussten sie noch nicht, dass du mein …“, er stockt kurz und überlegt, bevor er fortfährt, „… Freund bist? Sind wir schon so weit, dass wir uns so nennen?“
„Auf jeden Fall, also für mich stimmt es.“
„Für mich auch.“ Ihre Lippen treffen sich zu einem kurzen Kuss. „Aber ich nehme an, dass sie es schon vor meiner Abreise geahnt haben. Sonst hätte mich meine Großmutter nicht gehen lassen.“
„Sei einfach nicht enttäuscht, okay? Ich weiß, das sagt sich so leicht, aber versuch es zumindest.“
Thian schüttelt den Kopf und sieht Davin tief in die Augen. „Ich versuche es.“
Davin legt Thian die Hand an die Wange. „Egal was passiert, ich stehe hinter dir.“
„Das bedeutet mir viel, danke.“
Als sie zurück über die Drachen-Brücke in die Stadt Da Nang fahren, wird Davin schmerzhaft klar, dass ihre traute Zweisamkeit bald ein jähes Ende finden wird.
Oh mein Gott! Wieso habe ich nur zugesagt, bei ihm und seiner Familie zu wohnen? Die sehen doch schon auf eine Meile Entfernung, dass ich total in ihn verschossen bin. Das muss er noch nicht einmal ansprechen! Und das Schlimmste ist, dass ich keine Ahnung habe, ob ich mich zurückhalten könnte. Ich will ihn immer berühren, ihn schmecken … schon jetzt wieder. Er ist meine Obsession, meine liebste Droge.
Auch Thians zweiter Flug verläuft ohne weitere Zwischenfälle und so landen sie pünktlich um 17 Uhr auf dem internationalen Flughafen Hanoi. Die Temperaturen im Norden sind um einiges angenehmer als in den südlicheren Breitengraden und Davin fühlt richtig, wie er befreiter durchatmen kann. Mit ihrem Gepäck machen sie sich auf den Weg zum nahegelegenen Parkhaus, in dem sie vor ein paar Tagen Thians Roller abgestellt haben.
Als Davins Blick auf die Dreckschleuder fällt, mit der Thian seit Jahren den städtischen Verkehr unsicher macht, muss er unwillkürlich lächeln. Dieser Roller vereint schlicht alles in einem einzigen Objekt, was er in Hanoi erleben durfte. Seine Gedanken wandern zurück zu dem Tag, als er Thian am Hoan Kiem See kennenlernen durfte, über ihre Streifzüge durch die Stadtviertel, bis zum gemeinsamen Urlaub, der ihm lange in Erinnerung bleiben wird. Eine fantastische Zeit, in der Davin sein altes Dasein, die traurigen Gedanken und den Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen, komplett vergessen hat. Ein anderer Wunsch ist an die Stelle dieser einengenden Melancholie getreten: Er wünscht sich nichts sehnlicher, als ein glückliches und zufriedenes Leben mit Thian an seiner Seite führen zu können.
„Bereit?“, will dieser wissen, während er mit seiner Handfläche hinter sich auf den staubigen Sitz seiner Maschine klopft.
„Auf jeden Fall!“
„Los geht’s.“ Wieder nimmt Davins Gepäckstück den gesamten Fußraum des Rollers ein und Thians Beine baumeln auf den Seiten herunter, als sie sich auf den Weg zurück in die Stadt machen.
Davin streichelt Thians zarte Haut unter dessen T-Shirt. Die Berührung ruft bei in ihm ein Glücksgefühl und ein konstantes dümmliches Grinsen hervor.
Verliebter Teenager? Fast.
Nach einer halben Stunde fährt Thian im Schritttempo über den Bordstein auf den Gehweg vor einem schmalen, hohen Haus, hält an und stellt den Motor aus. „Da sind wir“, lässt er verlauten, als er den Helm vom Kopf nimmt und auf das Gebäude deutet.
Davin steigt ab, reicht Thian seinen Helm, nimmt seinen Koffer vom Roller und schaut sich das Zuhause seines Freundes genauer an. Das vierstöckige Gebäude hat eine Breite von nur ein paar Metern, ist in einem über die Jahre verblichenen Türkis gestrichen und wirkt schlicht baufällig. Eine staubige Markise im Erdgeschoss schützt die wenigen Gäste, die vor dem Café an Tischen auf der Straße sitzen, vor direkter Sonneneinstrahlung und informiert Vorbeigehende darüber, dass hier die Nguyens wohnen. Im ersten und dritten Stock hängen wuchtige, an der Wand montierte Klimageräte, während auf der zweiten Etage frisch gewaschene Wäsche zum Trocknen auf dem schiefen Miniaturbalkon aufgehängt worden ist.
Die Farbe an den Holzläden vor den Fenstern ist verwittert und blättert zum Teil ab, während das Flachdach, soweit Davin das von der Straße aus sehen kann, mit diversen Antennen und einer Satellitenschüssel bestückt ist. „Wow. Und hier wohnst du? Es sieht gemütlich aus.“
Wie einfallsreich, toll Davin, wirklich sehr wortgewandt.
Thians Gesicht leuchtet vor Stolz, während er nickt und lächelt. „Komm, ich stell dich allen vor“, antwortet er, schnappt sich den Koffer, packt Davin am Handgelenk und zieht ihn in das Innere des schmalen Hauses. Viele der Gäste, die sich aktuell im Lokal befinden, grüßen den jüngsten Sprössling des Nguyen-Clans freundlich, bevor ihr Blick auf Davin fällt, den sie interessiert mustern. „Das ist mein Cousin, Bu“, stellt Thian den Mann vor, der etwas abseits steht und Teewasser kocht. „Er ist für mich eingesprungen und hat die Urlaubsvertretung gespielt.“
„Freut mich sehr.“ Davin lächelt, während er Bu die Hand schüttelt. „Vielen Dank, dass du für Thian eingesprungen bist. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, eine tolle Reise zu erleben.“
Der Mann hat keinerlei Ähnlichkeit mit Thian, ist kleiner, rundlich und trägt Zähne zur Schau, die wild in sämtliche Himmelsrichtungen abstehen. Bu begrüßt den Neuankömmling in gebrochenem Englisch und alles andere als begeistert, was unter anderem an seiner Körpersprache abzulesen ist.
„Er scheint mich nicht zu mögen“, flüstert Davin, als er sich mit seinem Koffer hinter Thian die enge Treppe in hinteren Bereich des Hauses hinaufkämpft.
Thian wiegelt ab. „Ich glaube, dass das nichts mit dir zu tun hat. Erstens muss er sich jetzt wieder selbst um sein Einkommen kümmern, sprich er kann nicht mehr auf meine Arbeitgeber zurückgreifen und zweitens mag er Amerikaner nicht.“
„Alles klar, verstehe.“
Als Thian im ersten Stock auf eine Frau trifft, die im Begriff ist, frisch gewaschene Wäsche auf dem Balkon aufzuhängen, rennt er auf sie zu und umarmt sie. Ihr Wiedersehen ist herzlich, doch sobald ihr Blick auf Davin fällt, der in einigem Abstand wartet, wird sie ernster.
„Mama, das ist mein Freund, Davin“, stellt Thian diesen auf Vietnamesisch vor, bevor er sich an Davin wendet. „Das ist Hang, meine Mutter.“
Die Miene von Frau Nguyen erstarrt bei Thians Worten zu einer grotesken Maske, die kurz darauf gänzlich in sich zusammenfällt.
„Freut mich sehr, Frau Nguyen.“ Davin reicht ihr seine Hand und unterstreicht sein Wohlwollen mit einem dieser Lächeln, die er bei seinen Verkaufsgesprächen oft eingesetzt hat. Inständig hofft er, dass Thians Mutter nicht merkt, wie nervös er ist. Eigentlich würde er am liebsten ein Loch suchen, in dem er verschwinden kann. Aber noch gibt er nicht auf, versucht, das Beste aus der Situation zu machen. „Sie haben ein sehr schönes Heim und ich freue mich, hier ein paar Tage verbringen zu dürfen.“ Doch anstatt auf Davins Worte zu reagieren oder seine Begrüßung zu erwidern, starrt sie ihn mit versteinerten Gesichtszügen einfach nur an. Wort- und regungslos. Davin schluckt trocken, zieht seine ausgestreckte Hand zurück und sieht ratlos zu Thian. „Du hast sie schon gefragt, ob ich hier übernachten kann, oder?“
„Natürlich habe ich das. Oma hat mir am Telefon das Okay gegeben“, erwidert Thian, bevor er aufgeregt mit seiner Mutter zu diskutieren beginnt. Nach einer Weile schüttelt er entnervt den Kopf und scheint sich für einen Moment sammeln zu müssen. „Gib ihr einfach ein bisschen Zeit.“ Er nimmt Davin an der Hand und geht mit ihm zu einem verschlossenen Raum, an dessen Tür er sachte klopft. Nachdem sich eine leise Frauenstimme gemeldet hat, betreten sie den Raum.
Auf einem Holzstuhl vor dem einzigen Fenster des Raums sitzt eine ältere Frau und schaut in die Richtung der Eintretenden. Ihr zur Gänze ergrautes Haar trägt sie zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Sobald sie Thian entdeckt, erhellt sich ihr faltiges Gesicht und ein strahlendes Lächeln breitet sich darauf aus. Mithilfe eines Gehstocks erhebt sie sich schwerfällig aus dem Stuhl, um ihn zu umarmen und zu küssen.
Damit sich Großmutter und Enkel in Ruhe begrüßen können, bleibt Davin in der Tür stehen und lässt seinen Blick beiläufig durch das Zimmer schweifen, in dem es gerade genug Platz für einen Kleiderschrank und ein Bett gibt.
Nachdem sich die beiden eine Weile unterhalten haben, winkt Thian Davin heran und stellt die Fremden einander vor: „Das ist Linh, meine Großmutter und das ist Davin, mein Freund.“ Im Gegensatz zu Thians Mutter, fällt die Miene der Oma beim Anblick des Amerikaners nicht in sich zusammen, sondern bleibt strahlend – ein Schuss Neugierde mischt sich in ihre Mimik. Langsam und auf ihren Gehstock gestützt betrachtet Linh Nguyen Davin genau, bevor sie ihn an sich zieht und umarmt. Die leise geflüsterten Worte versteht er aufgrund der sprachlichen Barriere nicht, doch Thian springt sofort ein. „Sie sagt, dass sie sich freut, dich kennenzulernen und dass …“ er stutzt und fährt dann leicht verlegen flüsternd fort, „… wir ein hübsches Paar sind.“
Davin lächelt und dieses Mal kommt es von Herzen, bevor er sich bei Linh für die Möglichkeit bedankt, ein paar Tage hier wohnen zu dürfen. Die Frau deutet auf ihr Bett, auf dessen Kante sich beide Männer setzen, während sie sich zurück in ihren Stuhl fallen lässt. Nachdem sie eine Weile sowohl Thian als auch Davin gemustert hat, beginnt sie erneut zu sprechen.
„Ihr ist es wichtig, dass du dich in ihrem Haus wohl fühlst und dass es dir an nichts fehlt. Wenn dich ihr Sohn und dessen Frau nicht anständig behandeln, sollst du es ihr sagen, damit sie sich darum kümmern kann.“ Thian nimmt Davins Hand in seine, was der Großmutter nicht entgeht. Doch anstatt Abneigung zeigt sich auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln. „Sie findet, dass ich sehr glücklich aussehe und dass du mir gutzutun scheinst. Ich werde ihr jetzt davon erzählen, dass ich vielleicht mit dir in die USA gehen kann, denn ich will hören, was sie meint.“
„Denkst du nicht, dass das noch ein bisschen früh ist?“, erkundigt sich Davin mit einem sanften Lächeln bei Thian. Ihre Blicke treffen sich für einen kurzen Moment.
„Nein, ich glaube, dass jetzt genau der richtige Moment dafür ist.“ Thian haucht Davin einen zarten Kuss auf die Wange, bevor er auf Vietnamesisch zu sprechen beginnt.
Davin kann Linhs Gedanken richtiggehend aus ihrem Mienenspiel ablesen und er weiß, an welcher Stelle seiner Erzählung Thian gerade ist. Und das, obwohl er kein einziges Wort versteht. Gebannt beobachtet er wie ausdrucksstark ihr faltiges, sonnengegerbtes Gesicht auf jedes Wort ihres Enkels reagiert.
So etwas hat er noch nie gesehen.
Jeder Muskel und jede Falte in ihrem Gesicht lebt und zeigt damit überdeutlich, wie viel Anteil sie an Thians Leben nimmt. Während sich dieser immer mehr hineinsteigert und seinen Gefühlen mit den Händen Ausdruck verleiht, wird die alte Frau nachdenklich. Nachdem Thian geendet hat, wandert ihr Blick erneut aus dem Fenster in die Ferne, eine Geste, die Davin auch von Thian kennt.
Sie scheint sich eine Meinung zu bilden.
Der Moment der Wahrheit, der nicht nur für Thian, sondern auch ihre gemeinsame Zukunft von zentraler Bedeutung ist, rückt unaufhaltsam näher. Davin weiß genau, wie wichtig Thian der Segen seiner Großmutter ist. Mehr noch als das, was seine Eltern zu seinem Vorhaben sagen und daher würde es ihren Plänen einen empfindlichen Dämpfer versetzen, sollte sie sich dagegen aussprechen. Linh lässt sich für die Entscheidungsfindung mehr Zeit, als es den Wartenden recht ist. Einige stille Sekunden, die Davin wie Stunden vorkommen, ziehen vorbei. Dann dreht sie sich wieder zu den Männern um. Ihre Miene verrät nicht das Geringste, über ihre Entscheidung, was den Kloß in Davins Hals stärker anschwellen lässt.
„Ich übersetze dir eins zu eins, was sie sagt. Okay?“, sagt Thian zu Davin, der nervös nickt. Als die alte Frau zu sprechen beginnt, setzt Thian ein.
„Ich bin eine alte Frau, die schon viel gesehen und erlebt hat. Ich habe mein Leben auf dem Land in bitterer Armut begonnen und beende es wohl bald hier, in Vietnams Hauptstadt. Ich habe Kriege, Hungersnöte und Krawalle gesehen und am eigenen Leib erfahren, wie es ist, nichts zu haben. Meine Familie hat die direkten Auswirkungen des Abwurfs der amerikanischen Entlaubungsmittel mitbekommen und alles, was darauf folgte. Alle diese Erfahrungen, die Entbehrungen und auch die Glücksmomente haben mich zu der gemacht, die ich heute bin. Eine alte Frau, die nur das Beste für ihre Familie will.“
Erneut eine kurze Pause, in der sich Linh sammelt und die nächsten Worte genau abzuwägen scheint.
„Mein einziger Enkel ist anders, als es in Vietnam als normal angesehen wird. Er ist etwas ganz Besonderes und ich liebe ihn über alles, egal ob er sich eine Frau oder einen Mann nimmt. Aber ich glaube, dass er in Vietnam kein gutes Leben haben wird. Zu groß ist die Ablehnung der Menschen, die es nicht besser wissen, noch nicht so viel gesehen haben wie ich und nicht realisieren, dass wir alle gleich sind.“
Jetzt ist es Thian, der die Erzählung seiner Großmutter für ein paar Augenblicke unterbricht, um sich zu sammeln. Die Worte scheinen ihn zu rühren und auch Davin lassen Linhs Ausführungen nicht kalt, also drückt er Thians Hand und schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Obwohl es mir das Herz zerreißt, ihn gehen zu lassen, denke ich doch, dass er in Amerika all diese Möglichkeiten hat, die mir, meinen Kindern und der gesamten Familie in diesem Land schlicht verwehrt bleiben. Aber in den Staaten kann er sein, wie er ist, sich ausleben und glücklich werden. Bei dir, Davin, stehen ihm alle Türen offen und genau das wünsche ich mir für Thian.“
Nicht nur Thians, sondern auch Davins Augen glänzen feucht.
„Bevor ich der Familie meine definitive Entscheidung mitteile, möchte ich noch eine Weile darüber nachdenken. Ich habe nicht vor, Thians Zukunft unüberlegt in fremde Hände legen.“ Linh lächelt, erhebt sich erneut aus ihrem Stuhl, um Thian einen Kuss aufs Haar zu drücken. Dann tut sie das Gleiche bei Davin, was diesen erstaunt und zugleich ehrt.
„Sag ihr bitte, dass es nicht für immer sein muss, dass du jederzeit zurückkommen und deine Familie besuchen kannst. Es wäre ein Start in ein neues Leben. Aber, ob wir das Visum bekommen oder nicht, das erfahren wir sowieso erst in den nächsten Tagen.“
Nachdem Thian Davins Worte für seine Großmutter übersetzt hat, schenkt sie Davin ein Nicken, bevor sie die Männer aus dem Zimmer schickt, um sich vor dem Abendessen noch ein wenig hinzulegen.
„Deine Oma ist sehr nett und ich glaube, dass sie die richtige Entscheidung für dich treffen wird.“ Davin schweigt einen Moment, bevor er sich einen Ruck gibt und die Frage stellt, die ihm auf der Zunge brennt: „Mal angenommen, sie sagt nein, würdest du trotzdem mitkommen?“
Thian sieht ihn so an, als hätte er mit dieser Frage gerechnet. Nachdem er eine Weile gezögert hat, beginnt er darauf zu antworten. „Wahrscheinlich schon, aber mit einem schlechten Gefühl. Ihre Meinung ist mir wichtig, wichtiger noch als die meiner Eltern, weil ich denke, dass sie mich versteht.“
Davin streichelt Thian über die Wange. „Das ist doch auch verständlich. Sie ist das Oberhaupt eurer Familie und wie du schon gesagt hast, sie versteht dich, sieht über Konventionen und Meinungen hinweg, um sich ein eigenes Bild zu machen.“
„So ist meine Großmutter. Komm, ich zeige dir den Rest vom von meinem Daheim.“
Da das Haus eingepfercht zwischen den Nachbargebäuden nur auf den Längsseiten über Fenster verfügt und diese mit Holzläden verfinstert worden sind, ist es in jedem Raum befremdlich düster und da kaum irgendwo eine Glühbirne brennt, muss man aufpassen wohin man tritt.
„Das ist die Etage meiner Eltern und hier ist auch das Bad.“
Davin wirft einen flüchtigen Blick in den gefliesten Raum, in dem eine Wanne, ein Waschbecken und eine Toilette stehen. „Oh, wow“, ist alles, was Davin sagen kann.
Thian beginnt zu lachen. „Ist ein bisschen etwas anderes, als du es gewohnt bist, oder? Aber glaub mir, man kann sich hier gut für den Tag bereit machen. Komm, ich zeige dir mein Zimmer.“ Zusammen gehen sie über die Stufen in den obersten Stock, der neben dem Schlafzimmer der jüngsten Sprösslinge des Nguyen-Clans auch das Wohnzimmer beherbergt. „Das ist mein Reich“, lässt der Vietnamese verlauten und deutet auf ein Einzelbett, das neben einem anderen in dem winzigen Raum steht. Daneben eine kleine Kommode mit drei Schubladen, an einer der kahlen Wände hängt ein Spiegel, auf einem Schreibtisch stehen ein altertümlicher Bildschirm und der dazugehörige Computer.
„Hier schläfst du?“
„Genau und hier drin“, er deutet auf die Kommode, „bewahre ich meine Klamotten auf und jetzt weißt du auch, weshalb ich nicht so viele Sachen besitze. Ich habe keinen Platz.“
Davin bemerkt wie glücklich Thian ist, wieder in seinem Zimmer zu sein und Davin bei sich zu haben, um ihm noch mehr von seinem Leben zu zeigen. „Ich freue mich auf die kommenden Tage mit dir und deiner Familie. Dein Vater ist noch bei der Arbeit?“
„Genau, er kommt meist erst gegen 19 Uhr nach Hause. Du kannst deinen Koffer neben mein Bett stellen. Ich schaue mal, wo wir die zusätzliche Matratze haben, denn so wie es aussieht, hat sich Bu einfach in meinem Bett eingenistet.“ Thian deutet auf die zerwühlten Laken und schüttelt lachend den Kopf.
Davin kichert. „Da fällt mir ein, dass ich mein Gepäck irgendwo im ersten Stock stehen gelassen habe. Das werde ich nachher gleich holen. Zuerst machen wir uns auf die Suche nach der Matratze.“ In einer im Parterre gelegenen Rumpelkammer werden sie fündig und zusammen tragen sie die durchgelegene Schlafunterlage in den dritten Stock.
„Ich suche dir mal die zusätzliche Decke und das Kissen. Die müssen hier irgendwo sein“, lässt Thian verlauten, bevor er das Zimmer verlässt.
Davin macht sich daran, das Spannbettlaken über die Matratze zu ziehen, das sie im Wäscheschrank gefunden haben. „Wann lerne ich deine Schwester kennen?“, erkundigt er sich, als Thian zurück kommt und ihm dabei hilft, das mitgebrachte Kissen und die Decke frisch zu beziehen.
„Sie dürfte zum Abendessen wieder da sein. Meistens wird sie nach der Arbeit von ihrem Freund abgeholt. Was sie dann treiben, möchte ich gar nicht wissen.“ Thian sieht sich Davins Bett zufrieden an. „Fertig. Hilfst du mir ein wenig im Café?“
Mit einem Nicken folgt Davin Thian ins Erdgeschoss. Er freut sich auf die Möglichkeit, an Thians Alltag teilhaben zu dürfen, ihn zu unterstützen, an seiner Seite sein zu können und auch darauf, seine Familie besser kennenzulernen. In dem langgezogenen Raum, dessen Boden aus altertümlichen Fliesen besteht, von denen keine mehr heil zu sein scheint, sitzen die gleichen Leute wie bei ihrem Eintreffen. Ein niedriger, mehrere Meter langer Tisch ist das Herzstück des Cafés. Aus einer Teeküche, die in einer Nische unter der Treppe untergebracht worden ist, werden die Gäste mit Heißgetränken versorgt.
Während sich Thian mit seinem Cousin unterhält, wahrscheinlich um zu erfahren, ob es irgendwelche Probleme bei der Urlaubsvertretung gegeben hat, betrachtet Davin die Wände genauer. Unzählige in Plastikeinschüben steckende Fotos wurden mit Reißzwecken angebracht. In schwarz-weiß zeigen sie ein frühes Hanoi, mit zahllosen alten Gebäuden, Fahrrädern und Autos, wie es sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr in dieser Form zu kaufen gibt. Auch die Kleidung der Lokalbevölkerung spricht Bände, denn sie ist traditionsbewusster als heute. Sowohl Männer als auch Frauen tragen Seidengewänder. Jeans oder T-Shirts sucht man vergebens. Es scheint, als ob man hier, im Café Nguyen, in eine andere, längst vergangene Zeit eintauchen und die Vergangenheit aufleben lassen kann. Alles atmet einen Charme, dem sich Davin nicht entziehen kann.
„Wie ich sehe, hast du das Herzstück und die Haupteinnahmequelle unseres Hauses entdeckt.“
„Wie Einnahmequelle?“ Davin ist erstaunt und sieht Thian ratlos an.
„Die Bilder hat mein Opa damals geschossen. Sie zeigen das alte Vietnam und die Hanoianer kommen zu uns, um sich die Fotos anzusehen und Schnappschüsse mit ihren Smartphones zu machen.“
„Ist das dein Ernst?“
„Natürlich, die meisten erhalten sich so die Erinnerungen an das frühere Leben und, na ja, hängen ihren Gedanken nach. Für Touristen ist es auch interessant, nur leider kommen in den letzten Monaten kaum mehr welche zu uns.“
Davin beginnt zu verstehen und nickt. „Alles klar. Hm … wie wäre es, wenn wir einen Aushang bei deinem Friseurladen anbringen? Damit die Besucher, die du dort mit einem Haarschnitt beglückst im Anschluss auch noch hierher kommen? Außerdem könnte ich es in Reiseforen posten. Dann bin ich sicher, dass ihr wieder mehr Andrang haben werdet.“
„Das hört sich super an, aber wie wäre es zum Anfang, wenn du der Frau dort hinten einen frischen Tee bringst? Du findest alles in der Küche. Bu hilft dir dabei“, entgegnet Thian lächelnd, bevor er sich zu den Gästen setzt und sich mit ihnen unterhält.
Beziehungspflege, realisiert Davin mit einem Lächeln.
Von Thians Cousin lässt er sich zeigen, wie man den Tee richtig zubereitet. Die Vietnamesen legen ähnlich viel Wert darauf, wie ihre nördlichen Nachbarn aus China. Bu gibt zwei Teelöffel Teeblätter in ein Sieb, legt es auf die Öffnung des Steinzeug-Kännchens, gießt kochendes Wasser darüber und schließt den Deckel. „Ist wichtig, fünf Minuten warten, dann sofort bringen.“
„Alles klar.“ Als Davin das aufgebrühte Heißgetränk sowie die kleine Teeschale auf dem Tisch vor der Frau abstellt, erntet er von ihr ein breites, zahnloses Lächeln. Wieder staunt er über die Freundlichkeit und die offene Art der Lokalbevölkerung.
Den ganzen Nachmittag über herrscht ein Kommen und Gehen, wie auf einem fernöstlichen Basar. Menschen aus allen Schichten der hiesigen Bevölkerung statten der Familie einen Besuch ab, trinken Tee, diskutieren, betreiben Smalltalk und sehen sich die alten Fotografien an.
Davin übernimmt das Teekochen, Servieren und Abräumen, während sich Thian um das Kassieren kümmert. Kurz vor 19 Uhr betritt ein alter Mann das Café, der Davin vage bekannt vorkommt, einsortieren kann er ihn im ersten Moment nicht. Erst als er die herzliche Begrüßung zwischen dem Mann und Thian beobachtet, wird es ihm klar. „Das ist doch dein Stammkunde“, stellt er fest, als Thian wenig später zu ihm stößt.
„Der ist dir in Erinnerung geblieben, was? Einige Bilder, die du hier siehst, sind von ihm, denn er ist mit meinem Opa zur Schule gegangen.“
„Ah, interessant.“
„Er wird mit uns zu Abend essen. Würdest du bitte die Teller auf dem Tisch verteilen?“
„Wir essen hier?“
„Natürlich, wo denn sonst? Meine Oma hat zusammen mit meiner Mutter gekocht und sobald Vater eintrifft, wird gegessen.“ Jetzt, da Thian es erwähnt, nimmt auch Davin den unverkennbaren Duft von frisch zubereitetem Essen wahr.
Sein Magen knurrt vernehmlich.
Thian hält sich vor Lachen den Bauch und schüttelt den Kopf. „Du musst nicht mehr lange hungern, mein Vater …“ Thian verstummt, als sein Blick auf den Eingang fällt. Dort steht mit grimmiger Miene ein abgekämpfter Mittfünfziger in grauen Stoffhosen und staubigem Hemd. „Papa“, begrüßt ihn Thian zuerst auf Vietnamesisch und dann auf Englisch. Die Begrüßung bleibt distanziert und wenig herzlich, eine kurze Umarmung, mehr nicht.
Dann fällt der Blick des Vaters auf Davin.
Noch deutlicher als Thians Mutter ist dem Mann im Gesicht abzulesen, wie wenig er von dem Fremden hält. „Guten Abend, du bist Davin?“ Zum Gruß streckt er ihm seine Hand entgegen.
„Genau, der bin ich. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Nguyen.“
„Das ist Luong, mein Vater.“ Thian, der die Begrüßungsszene mit gerunzelter Stirn beobachtet, nutzt die Gelegenheit, um seinen alten Herrn vorzustellen.
„Ich wünsche ich könne gleiches sagen.“ Fast augenblicklich zieht Luong seine Hand wieder zurück und unterzieht Davin gleichzeitig einer unverhohlenen Musterung. „Du nur hier, weil meine Mutter findet gut, dass du hier.“ Mit diesen Worten geht er an Davin vorbei und verschwindet über die Treppe ins Obergeschoss.
„Hm … das lief besser als gedacht.“ Davin versucht, sich nichts anmerken zu lassen, dabei brodelt es in seinem Innern. Es ist genauso gekommen, wie er es befürchtet hat.
Anfeindung und Ablehnung.
„Gib ihnen Zeit, sie werden sich schon an dich gewöhnen“, beschwichtigt ihn Thian, ohne ihn zu berühren, denn er ist sich der Blicke der Anwesenden wohl bewusst, welche die Szene von ihren Plätzen aus beobachtet haben. „Ich gehe und spreche noch einmal mit meinen Eltern, vielleicht kannst du in der Zwischenzeit weiter den Tisch decken? Das wäre sehr lieb.“ Mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich zeigt, dass ihn die Reaktion getroffen hat, folgt Thian seinem Vater ins Obergeschoss.
Um sich abzulenken und nicht komplett von den trüben Gedanken fortgerissen zu werden, beginnt er Teller, Schalen, Essstäbchen und Gläser auf dem Tisch zu verteilen. Die zahnlose Frau, der er ein paar Minuten vorher einen Tee serviert hat, hilft ihm dabei, und so ist der Tisch nach ein paar Handgriffen für das Abendessen vorbereitet. Es vergehen keine fünf Minuten, bevor Thians Mutter Hang mit einem Suppentopf in den Händen die Stufen herunterkommt. Dicht hinter ihr folgt Linh, die sich langsam an der Wand entlang heruntertastet und dabei den gesamten Raum überblickt.
Davin eilt auf sie zu.
Dankbar hakt sie sich bei Davin ein und lässt sich die Treppe hinunterhelfen. Als alle sitzen, stürmt auch Luong, gefolgt von seinem Sohn die Stufen runter. Thian hält in seinen Händen einen mit Frühlingsrollen gefüllten Teller, den er in die Mitte des Tisches stellt. Jedes Familienmitglied hat einen angestammten Platz, auf dem sie sich niederlassen. Davin steht etwas unschlüssig daneben, bevor er sich zu Thian setzt, der auf den freien Platz neben sich deutet. Die Gäste beginnen sich am Teller mit den Teigrollen zu bedienen, klemmen jeweils eine zwischen ihre Essstäbchen. Gerade als ein wenig Ruhe einkehrt, stürmt eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren ins Café, begrüßt alle kurz mit einem Winken und lässt sich dann auf einen der niedrigen Stühle fallen.
„Das ist meine Schwester Bian.“
Davin und sie geben sich über den Tisch die Hand.
„Freut mich und du musst Davin sein, oder?“ Ihr Englisch ist ebenso makellos wie ihr Lächeln.
„Genau, das muss ich dann wohl sein.“
Schweigend vertilgen die Anwesenden ihre Frühlingsrollen, während Hang die Suppenschalen zu füllen beginnt und sie verteilt. Anscheinend kommt es nicht darauf an, ob jemand zur Familie gehört oder nicht, jeder ist zum Abendessen eingeladen.
„Wir essen jeden Tag um dieselbe Zeit. Die Gäste, die dann noch hier sind, bekommen natürlich auch etwas ab. Erstens wollen wir sie nicht einfach so vor die Tür setzen und zweitens wäre es unhöflich, wenn wir essen und sie dabei zusehen müssen. Üblicherweise bezahlen sie dann auch dafür.“
„Na ja, meistens zumindest“, beginnt Bian, bevor sie der alten Frau mit dem zahnlosen Mund den Arm um die Schulter legt und fortfährt. „Sie hier bezahlt eigentlich nie, aber sie gehört auch fast zur Familie.“ Obwohl die Frau höchstwahrscheinlich kein Wort Englisch versteht, entnimmt sie Bians Worten und ihrer Mimik, dass sie wohlwollend von ihr spricht. Ihr Lächeln erhellt den Raum, was allgemeine Heiterkeit auslöst.
„Das Essen ist wirklich sehr gut. Vielen Dank, Frau Nguyen.“ Davin richtet sich direkt an Thians Mutter, als er die ersten Bissen der Frühlingsrolle genossen hat. Die asiatischen Aromen fluten seine Geschmacksknospen und obwohl er nun schon eine Weile in Vietnam unterwegs ist, fasziniert ihn die Vielfalt noch immer. „Auf der Dschunke durften wir solche Frühlingsrollen selbst herstellen, das war wirklich spannend.“
„Mein Bruder in der Küche? Das hat es noch nie gegeben. Sonst drückt er sich immer vor der Hausarbeit.“ Bians Worte, die sie sogleich auf Vietnamesisch übersetzt, lassen alle kichern.
Davin nickt lächelnd und setzt nach: „Vielleicht hat es daran gelegen, dass es sonst nichts anderes zum Mittagessen gegeben hat.“ Schon während Bians Übersetzung prusten die Anwesenden lautstark los.
„Haha, ihr seid mir vielleicht Verwandte!“ Thian beißt ein viel zu großes Stück von seiner Rolle ab, das er kaum kauen kann und erntet damit erneut dröhnendes Gelächter. Für ein paar Minuten kehrt Ruhe ein, während sich alle ihren Tellern widmen, doch dann richtet sich Linh direkt an Davin. „Großmutter möchte wissen, wie unsere Reise war“, übersetzt Thian.
Mit einem Lächeln beginnt Davin zu berichten. Er erzählt von der Fahrt nach Halong und ihrem Besuch auf dem Reisfeld. Doch als er an die Stelle kommt, an der sie ihre Kabine auf der Dschunke bezogen haben, unterbricht ihn Luong mit einer unwirschen Handbewegung.
„Wir wollen nicht hören wie Reise war. Wir hart arbeiten und Sohn nicht da.“
Während sich Davin eine schlagfertige Antwort überlegt, poltert Thian bereits los. Wild mit den Händen gestikulierend, liefern sich Vater und Sohn einen rasanten Schlagabtausch. Linh hört sich das Wortgefecht eine Weile an, bevor sie aufsteht und den Streithähnen den Wind aus den Segeln nimmt. Ihre in normaler Lautstärke geäußerten Worte klingen in Davins Ohren wie eine Zurechtweisung. Doch weder Thian, noch Bian bestätigen diese Vermutung. Nachdem die peinliche Stille am Tisch überwunden ist, nehmen die Anwesenden wieder die zuvor begonnenen Gespräche auf. Davin atmet tief durch und ist heilfroh, dass er vorerst aus der Schusslinie zu sein scheint.
Ich mache mir keine Hoffnungen, früher oder später wird sich Luong wieder auf mich einschießen. Aber dann werde ich bereit sein. Keine Ahnung, weshalb ich von diesem Menschen derart eingeschüchtert bin. Wahrscheinlich weil er Thians Vater, und damit eine wichtige Person in seinem Leben, ist.
„Was genau machst du denn bei dieser Bank?“, will Davin an Bian gerichtet wissen, nachdem er sich mit ihr über ihre Berufe ausgetauscht hat.
„Hauptsächlich übertrage ich Kundenaufträge von den physischen Aufträgen ins System.“
„Das hört sich spannend an, da musst du gewissenhaft arbeiten. Eine große Verantwortung. Aber sag mal, hast du auch mehrere Jobs, wie mein Thian hier?“ Vorsichtig tippt er diesen an, erhält darauf jedoch nur ein müdes Lächeln. Seit der Auseinandersetzung mit seinem Vater hat Thian kein einziges Wort mehr gesagt. Es ist offensichtlich, dass er darüber nachdenkt und es ihn belastet.
Bian nickt zustimmend, bevor sie es ihm erklärt. „Ja, aber nur zwei. Die Bank zahlt sehr gut und daneben helfe ich meiner Familie dabei, dieses Café zu betreiben.“
„Ein richtiges Familienunternehmen, also.“
„Auf jeden Fall.“ Sie schweigt für ein paar Sekunden, in denen ihr Blick wiederholt auf Thian fällt. „Ich finde es schön, dass er endlich jemanden gefunden hat, den er gerne mag und uns vorstellt.“
„Na ja, die Reaktionen sind nicht gerade positiv.“
„Das stimmt, aber ich denke, dass sie einfach noch ein bisschen Zeit brauchen. Die Unterstützung von Linh und mir habt ihr bereits und wie ich meine Mutter kenne, braucht sie auch nicht mehr lange, um deinem Charme zu erliegen.“
„Welcher Charme?“, lacht Davin und läuft rot an. „Ich habe Thian geraten, es langsam anzugehen, aber er wollte unbedingt sofort reinen Tisch machen. Das ist natürlich bewundernswert, aber auch die Reaktion eurer Eltern ist irgendwo durch nachvollziehbar. Ich meine, endlich müssen sie sich damit auseinandersetzen, dass ihr Sohn schwul ist.“
„Ja, mein Bruderherz ist manchmal sehr impulsiv. Das hat er von Luong. Zwei kleine Dickschädel.“
„Ihr wisst schon, dass ich euch hören kann?“ Anscheinend hat Thian seine trüben Gedanken zur Seite geschoben und sich entschieden, wieder an den Gesprächen teilzunehmen.
Bian legt den Kopf in den Nacken und lacht. „Ja, Brüderchen, das wissen wir und dennoch lässt es sich herrlich über dich tratschen.“
„Haha.“ Da ist er wieder, der Flunsch, der auf Thians Gesicht einfach goldig aussieht. „Lasst euch nicht aufhalten.“
„Tun wir nicht“, antwortet Bian grinsend, bevor sie fortfährt. „Glaube mir, Davin, sie haben es schon gewusst, als Thian meinte, dass ihr zusammen verreisen werdet. Jetzt haben sie Gewissheit und das finde ich super ehrlich und mutig von euch. Wir schreiben das Jahr 2019, da sollte es doch kein Problem mehr sein, oder?“
„Eigentlich nicht. Aber solche Veränderungen, gerade in den Köpfen der Menschen, kommen nicht von heute auf morgen.“
„Da hast du auch wieder recht.“
Nachdem die Familie zu Abend gegessen hat, werden die Stühle und Tische von draußen hereingeholt und das Café für die Nacht geschlossen.
Davin und Thian sind von ihrer Reise derart erschöpft, dass sie sich gegen 22 Uhr ins Bett zurückziehen. Die dünne Matratze auf dem harten Boden ist nicht gerade das, was Davin gewöhnt ist und dennoch hat er Thians Angebot abgelehnt, mit ihm zu tauschen.
Ich bin Gast, also werde ich mich so verhalten.
Eine Vibration meldet den Eingang einer neuen Nachricht, die Davin auf seinem Smartphone sofort ansieht. „Endlich, das hat lange genug gedauert“, murrt Davin. „Mein Bekannter vom Auswärtigen Amt hat sich nun doch gemeldet. Er entschuldigt sich für die lange Wartezeit, war aber bis heute im Urlaub.“
Thian ist plötzlich wieder hellwach und setzt sich im Bett auf. „Wirklich? Was sagt er? Komm, ich kann es kaum erwarten.“
Davin liest die Mitteilung zu Ende, in dessen Verlauf sich seine Mimik mehrfach von betrübt zu freudig wandelt, ohne sich auf eine Seite festlegen zu wollen. Nachdem er die abschließenden Grußworte gelesen hat, seufzt er laut und setzt sich ebenfalls im Schneidersitz auf seine Matratze. „Also, er sagt, dass es leider nicht so einfach ist, wie wir uns das gedacht haben.“