Kapitel dreizehn ღ
Die Spannung ist spürbar, so elektrisiert sitzt Thian auf seinem Bett und starrt Davin aus großen, enttäuschten Augen an. „Es klappt also nicht? Ich darf nicht mit dir in die USA reisen?“
Davin schüttelt vehement den Kopf. „Nein, das habe ich nicht gesagt.“ Kurz sammelt er sich und schließt die Augen, bevor er weiterfährt. „Er kann erst eingreifen, sobald du deinen Visumsantrag auf der US-amerikanischen Botschaft abgegeben hast. Was nicht funktioniert, ist ein Studentenvisum, da du bei keiner Universität angemeldet bist und sie das überprüfen. Aber du sollst ein Touristenvisum für ein halbes Jahr beantragen.“
„Kann ich das denn so einfach?“
„Natürlich, alles was du brauchst, ist dein Reisepass, ein aktuelles Foto sowie das ausgefüllte Antragsformular. Bei einem Gespräch auf der Botschaft wirst du dann zu deinen Beweggründen befragt, bevor der Antrag weitergegeben wird. Erst dann kann mein Bekannter Einfluss nehmen.“
Thian rauft sich die Haare. „Und wenn sie mich ablehnen?“
Davin setzt sich zu ihm aufs Bett und nimmt ihn in die Arme. „Weshalb sollten sie das tun? Du bist doch so ein süßes Kerlchen, dir gibt man überall Asyl.“
„Hey“, beschwert sich Thian grinsend.
„Das war ein Spaß, also das mit dem Asyl. Bitte mach dir keine Sorgen. Mein Kontakt hat mir sogar die Internetadresse angegeben, auf der wir sämtliche Informationen finden. Wir werden das Formular zusammen ausfüllen und einen Termin vereinbaren. Das einzige Problem könnte der zeitliche Aspekt sein.“
„Wie meinst du das?“
„Anscheinend dauert die Bearbeitung eines Visumantrags mindestens einen Monat. Die Zeit bis zu deinem Termin auf dem Konsulat nicht mitgerechnet.“
„Was? Oh, nein, das ist eine kleine Ewigkeit. Andererseits haben wir keinen Stress. Ich kann auch erst in einem Monat zu dir kommen, oder?“
Auf Davins Stirn zeichnet sich eine tiefe Furche ab. „Natürlich, das ist nicht das Problem, aber ich kann nicht so lange bleiben. Irgendwann muss ich zurück.“
„Oh, aber klar. Entschuldige, das habe ich gar nicht bedacht. Aber eigentlich möchte ich nicht, dass du gehst.“
Da ist er wieder, dieser bezaubernde Flunsch, der Davins Knie weich wie Pudding werden lässt. Mit einem liebevollen Lächeln drückt er Thian einen Kuss auf den Mund, bevor er antwortet: „Das möchte ich auch nicht, aber ich muss. Erstens habe ich eine Wohnung und zweitens muss ich mich um einen neuen Job kümmern. So kann ich zu Hause alles für deine Ankunft vorbereiten.“
Ihr Kuss intensiviert sich, bevor Thian zurückweicht und Davin eindringlich ansieht. „Das hört sich gut an, aber weißt du was? Ich werde dich vermissen.“
„Was glaubst du, wie es mir gehen wird? Aber noch ist es nicht soweit. Eine gemeinsame Woche haben wir doch noch, in der wir das Formular ausfüllen, den Termin auf der Botschaft arrangieren und Zeit zusammen verbringen können. Du wirst sehen: Die Zeit bis zu deiner Ankunft vergeht schneller als gedacht.“ Die Männer halten sich an den Händen, bevor Davin Thian an sich drückt, um ihn dicht an sich zu spüren.
„Meinst du?“
„Und ob.“
Da Thians Schwester Bian jederzeit ins Zimmer platzen könnte, verzichten die Männer auf Zärtlichkeiten, die über gemeinsames im Arm halten, küssen und streicheln hinausgehen. Kurzerhand verfrachten sie Thians Matratze ebenfalls auf den Boden, damit sie in Löffelchen-Stellung und aneinander gekuschelt, einschlafen können.
Geweckt werden sie am nächsten Morgen von einer ungehaltenen Männerstimme. „Aufwachen, nicht schlafen ganze Tag. Aufstehen, arbeiten.“
Entsetzt reißt Davin die Augen auf, schließt sie aber sofort wieder. Ihr menschlicher Wecker hat die Holzläden vor den Fenstern aufgerissen, was den Raum in grelles Licht taucht. „Was, äh, guten Morgen“, murmelt er, nachdem sich seine Pupillen an die Helligkeit gewöhnt haben. Luong steht vor ihm und mustert ihn kritisch und mit vor der Brust verschränkten Armen. Im nächsten Atemzug wird Davin bewusst, dass Thian noch immer an ihn gekuschelt daliegt und sie beide nur mit Boxershorts bekleidet sind. „Aufwachen, Thian.“ Mit unsanftem Rütteln schafft er es im zweiten Anlauf, den Schlafenden aus seinen Träumen zu reißen.
Beinahe augenblicklich setzt sich Thian auf und beginnt mit seinem Vater in ihrer Landessprache zu diskutieren. Hin und her gehen die Worte, bevor sich Luong mit einem Nicken zum Gehen abwendet. Kurz bevor er den Raum verlässt, dreht er sich noch einmal zu den Männern um, fixiert Davin und sagt dann unwirsch: „So lange du hier, du auch mithelfen.“ Mit diesen Worten verschwindet der Vietnamese mit den leicht ergrauten Schläfen aus ihrem Schlafzimmer.
Hellwach von dem unerwarteten Weckdienst und den unfreundlichen Worten Luongs, setzt sich Davin auf und küsst Thian zur Begrüßung auf den Mund. „Guten Morgen, Schlafmütze.“
Mit Schlaf in den Augen gähnt Thian lautstark, bevor er Davin seinerseits einen Kuss auf den Mund haucht. „Wir haben vergessen den Wecker zu stellen. Mein Vater ist sauer.“
„Wie spät ist es?“ Davin greift nach seinem Smartphone und wirft einen flüchtigen Blick aufs Display. „6 Uhr 30? Dein Vater weckt uns um halb sieben und ist sauer, dass wir verschlafen haben? Wann steht ihr denn sonst auf?“
„Spätestens um 6 Uhr sind wir alle im Café, um den Tag vorzubereiten. Entschuldige, das hätte ich dir vielleicht sagen sollen.“
Davin stöhnt, lässt sich wieder auf die Matratze fallen und bedeckt seine Augen mit den Händen. „Nein, ich bin froh, dass ich das nicht gewusst habe. Aaaah, viel zu früh.“
Thian lacht gelöst, setzt sich rittlings auf Davin und beginnt, ihn zu kitzeln. „Du scheinst nicht gerade ein Morgenmensch zu sein, was? Keine Müdigkeit vorschützen. Los, hoch mit dir. Du darfst das Bad auch zuerst benutzen.“
Davins Lachen hallt durch das Haus, bevor er Thian abwirft und sich seinerseits halb auf ihn legt. „Du bist heute richtig frech. Vielleicht sollten wir zusammen duschen gehen, was sagst du dazu?“ Seine Hände wandern über Thians glatte Brust, tiefer über seinen Bauch und dann vorwitzig in seine Boxershorts.
Thian kichert, verdreht die Augen, schlägt die Hand weg und windet sich unter Davins Körper hervor. Voller Tatendrang steht er auf, fischt sich ein T-Shirt aus seiner Kommode und deutet in Richtung Tür. „Wenn du nicht gleich aufstehst, gehe ich zuerst duschen und dann könnte es gut sein, dass wir kein warmes Wasser mehr haben.“
Schneller als ein Blitz springt Davin auf und eilt zu seinem Koffer.
„Wusste ich’s doch“, sagt Thian stolz darauf, dass sein Plan aufgegangen ist und er den Amerikaner zum Aufstehen bewegen konnte.
Bewaffnet mit Toilettenbeutel und einem Duschtuch stolpert Davin ungelenk und mit knirschenden Gelenken die Stufen runter. Als er unten ankommt, rempelt er beinahe Hang an, die gerade dabei ist, zusammengelegte Wäsche in einem Wandschrank zu verstauen. „Oh, Entschuldigung“, murmelt er, bevor ihm in den Sinn kommt, dass Thians Mutter kein Englisch spricht, also unterstreicht er seine Worte mit Gesten. Sie erwidert etwas, das er nicht versteht, doch das zaghafte Lächeln auf ihrem Gesicht zeigt ihm, dass sie es ihm nicht übel nimmt.
Flink geht er weiter und betritt das Badezimmer, sein Blick fällt auf die eigentümliche Wanne. Mit westlichem Standard hat dieses Ding wenig zu tun, man könnte sie eher als Stehwanne bezeichnen, denn das innen und außen geflieste Betonbecken ist nur über eine Leiter zu erklimmen. Umständlich klettert er hinein und als er endlich darin steht, reicht ihm der Wannenrand bis zur Brust. Etwas befremdet dreht er den Hahn auf und zuckt zusammen, als das kalte Wasser über ihn prasselt.
Wie können die sich in diesem Horror-Bad nur wohlfühlen? Es ist schrecklich. Die Fliesen sind gesprungen, die Dusche ein Albtraum und wo ist der Duschvorhang? Ach, ich sollte froh sein, dass ich hier sein kann und nicht so verwöhnt sein. Aber ich freue mich jetzt schon auf ein Bad in einer normalen Wanne.
Gerade als Davin seine Gedanken beendet hat, wird die Tür geöffnet und Bian betritt in großer Eile das Bad. Als sie den nackten Mann in der Wanne entdeckt, sieht sie kurz verlegen zu Boden, bevor sie ihren Weg fortsetzt. „Entschuldige bitte, ich muss dringend auf die Toilette.“
„So lange du nur klein musst, kein Problem“, entgegnet Davin lachend und versucht damit seine Irritation zu überspielen.
Zum Glück ist die Wanne so hoch, ich habe keine Lust darauf, dass sie mich nackt sieht.
„Nein, keine Angst. Ich bin auch gleich wieder weg.“ Und tatsächlich, nach ein paar Sekunden zieht Bian ihre Jeans wieder hoch, spült, wäscht sich die Hände und verlässt das Bad. Auf dem Weg zur Tür fällt ihr Blick unverhohlen auf Davins Brustmuskeln und das, was sie von seinem Bauch sehen kann, bevor sie mit einem Zwinkern die Tür schließt.
Kopfschüttelnd klettert Davin aus der Wanne, trocknet sich ab, schlüpft in die frischen Boxershorts und macht sich auf den Weg zurück in Thians Schlafzimmer. „Was machen wir heute?“, will er an seinen Freund gerichtet wissen, als er den Raum betritt.
Leer.
Hättest ruhig auf mich warten können.
Gemütlich zieht er sich an und schlendert, gespannt auf das, was der Tag für ihn bereithält, die Stufen herunter. Im Erdgeschoss findet er dann sowohl Thian, als auch Linh, Bian und Hang vor. Die Familie sitzt an dem langen Esstisch und diskutiert. Unsicher, wie er Thian vor seiner Familie begegnen soll, drückt er ihm einen kurzen Kuss aufs Haar, bevor er sich daneben setzt. „Ist Luong schon weg?“, erkundigt er sich, nachdem er sich ein paar Früchte vom Teller in der Mitte des Tisches genommen hat und interessiert in die Runde blickt.
„Er verlässt das Haus jeden Tag um Punkt 6.30 Uhr. Heute war er etwas später dran, weil er euch wecken musste“, erklärt Bian mit einem Zwinkern.
„Wow, das nenne ich mal einen langen Arbeitstag. Was steht denn heute auf dem Programm?“
„Als Erstes helfen wir meiner Mutter das Café für die Gäste vorzubereiten und holen frisches Wasser. Dann geht es zu meinem Friseur-Stand und gegen Abend habe ich noch eine Schicht Rikscha eingetragen bekommen. Wenn du willst, kannst du auch eine fahren.“
Davin sieht ihn verdattert an. „Denkst du, dass das gut geht? Ich auf so einem Ding?“
Linh und Hang beginnen zu kichern, sobald sie von Thian die Übersetzung vernehmen und schütteln den Kopf. „Sie finden auch nicht, dass es eine gute Idee wäre“, mischt sich Bian in das Gespräch ein. „Vielleicht kann er uns im Café helfen, während du deine Runden auf der Rikscha drehst?“
„Das ist vielleicht besser.“ Thian scheint von seiner eigenen Idee auch nicht mehr überzeugt zu sein. „Obwohl es sicher lustig wäre, ihn darauf zu sehen.“
„Stimmt.“
Davin schüttelt den Kopf und erwidert: „Ja, ja, macht ihr euch nur lustig über mich. Macht mir gar nichts aus. Ich kann gerne im Café helfen, aber eigentlich hätte ich bereits eine andere Idee.“
„Welche denn?“, will Thian interessiert wissen.
„Geplant habe ich, dass ich heute das Schild für deinen Friseur-Stand erstelle. Das haben wir doch gestern besprochen, damit wieder mehr Touristen auf das Café aufmerksam werden. Das dauert auch eine Weile und dann hätte ich angefangen, das Formular für den Visumsantrag …“ Entsetzt bricht er ab und sieht mit großen Augen in die Runde.
Doch Thian beschwichtigt ihn mit einem sanften Lächeln. „Ich habe es meinen Eltern und Bian schon gesagt, damit sie sich damit auseinandersetzen können. Alles gut.“
Davin fällt ein Stein vom Herzen. Tief durchatmend, wischt er sich über die Stirn, bevor er losprustet. „Puh, gerade noch einmal gut gegangen. Jetzt ist mir doch glatt das Herz in die Hosen gerutscht.“
„Das kann ich mir vorstellen“, entgegnet Bian kichernd. „Zum Glück ist dir Thian zuvorgekommen.“
„Nicht auszumalen. Also gut, während ich Touristen durch die Stadt kutschiere, kümmerst du dich um die Werbung und das Formular. Das passt doch ganz gut.“ Thian nickt und lächelt Davin an.
Nachdem Davin sein Obst gegessen hat, hilft er Thian beim Ausspülen der über Nacht im Hinterhof eingeweichten Teekannen, dem Abwasch der Trinkgefäße, dem sonstigen Geschirr und Besteck. Handarbeit. Danach machen sie sich mit einer Sackkarre auf den Weg, um bei einem befreundeten Geschäft Wasser zu holen. „Ihr nehmt auch für Tee abgefülltes Wasser? Ich dachte, dass die Bakterien durch das Sieden abgetötet werden.“
„Die Regierung hält uns zum Kauf dieses Wassers an. Anscheinend bleiben Restbakterien enthalten und gerade in einem Café können wir uns nicht leisten, dass unsere Gäste krank werden.“
„Das stimmt natürlich, aber irgendwie habe ich so das Gefühl, dass sie euch das nur sagen, damit ihr das Wasser bezahlt.“
„Denkst du?“
„Könnte gut sein.“ Ein paar Sekunden vergehen, bevor sich Davin erkundigt: „Habt ihr eigentlich einen Drucker im Haus?“ Als er von Thian einen seltsamen Blick einfängt, konkretisiert er: „Damit ich das Formular ausdrucken kann. Wir müssen das in Papierform einreichen.“
Thian schüttelt den Kopf. „Nein, aber ein paar Straßen weiter gibt es einen Copy Shop, in dem sollte das problemlos möglich sein.“
Davin nickt und bevor er noch irgendetwas sagen kann, bleiben sie vor einem Geschäft stehen, in dem Wassergebinde in allen Größen und Formen bis unter die Decke gestapelt wurden. „Wow, so wie das aussieht, versorgt der die ganze Stadt.“
„Meinst du?“
„Wahrscheinlich nur euer Viertel, aber so viel wie er hier bunkert, könnte er locker ein paar Jahre überleben.“
Thian lacht gelöst, bevor er den Verkäufer per Handschlag begrüßt, kurz verhandelt und sich dann ein Plastikgefäß auf den Karren laden lässt. Ein paar Geldscheine wechseln die Hände, bevor sie sich auf den Rückweg machen.
„Wie viele Liter sind das?“
„Ich glaube, dass es 60 Liter sein dürften. Wir stellen den Kanister in den Hof und holen dann von dort Wasser für den Tee und zum Trinken. Bian und ich teilen uns diese Aufgabe, während ich die vollen Gebinde hole, bringt sie die leeren zurück.“
Gemeinsam, jeder der Männer an einem Griff, schieben sie den Sackkarren vor sich her. Die 60 Kilo sind selbst zu zweit schwer zu kontrollieren. „Und das machst du sonst allein? Du bist wahnsinnig, das ist höllenschwer.“
„Meistens. Das geht eigentlich ganz gut. Seit wir diesen modernen Karren haben, ist es sowieso kein Problem mehr.“
„Ich staune immer wieder, wie stark du doch bist“, entgegnet Davin grinsend, was ihm einen Stoß in die Rippen einbringt.
Zu Hause angekommen, laden sie den neuen Wassertank im Innenhof ab und befüllen einen kleineren Kanister, den sie in der Küche auf einem Regal unter der Treppe verstauen – so haben sie quasi fließend Wasser. Gegen 11 Uhr verlassen sie das Haus, um zu Thians Straßen-Friseur-Station zu gelangen.
„Willst du mir wieder die Haare schneiden?“ Davin setzt sich auf den Hocker und sieht Thian herausfordernd an.
„Hm … glaubst du, dass es auf diese Weise erneut klappt, die Touristen aus den nahen Restaurants anzulocken?“, erkundigt sich Thian, während er sich mit gerunzelter Stirn umsieht.
„Davon bin ich überzeugt, also los, verpass mir eine schöne Frisur.“ Erneut beginnt Thian an Davin herumzufrisieren, bevor dieser die Umstehenden darüber informiert, dass sie hier einen Haarschnitt für fünf Dollar bekommen. Der Andrang ist nicht mehr so überwältigend, wie beim ersten Mal, dennoch macht Thian ein gutes Geschäft.
Das erste Mal seit Beginn seiner Reise, holt Davin seinen Laptop hervor und setzt sich damit in ein hippes Restaurant, das kostenfreies WLAN anbietet. Nachdem er den Besitzer gefragt hat, ob er sein Gerät aufladen dürfe, schließt er sein Notebook mithilfe eines Adapters an die Steckdose an und beginnt zu arbeiten. Als er das Antragsformular vom Server des US-Außenministeriums heruntergeladen hat, beginnt er es auszufüllen. Bei gewissen Punkten ist er sich nicht sicher, also lässt er diese Felder leer.
Thian wird später Licht ins Dunkel bringen.
Zehn Minuten später hat er die erforderlichen Informationen eingetragen und kann sich der Suche nach einer passenden Druckerei widmen. Mangelware sind Copy Shops nicht, aber einen zu finden, der sowohl die Größe produzieren kann, die sich Davin bei den Plakaten vorstellt, als auch in der Nähe ist, macht die Sache komplizierter. Doch ein paar Minuten später wird er fündig. Da er vergessen hat, Bilder vom Café zu machen, kann er noch nicht mit der endgültigen Gestaltung beginnen. Aber in einer Suchmaschine finden sich Millionen von Beispielen ähnlicher Plakate, von denen er sich inspirieren lässt.
Gedankenversunken surft er durch die Seiten, als sein Blick auf einen Kartenausschnitt fällt, der eine eingezeichnete Route von A nach B zeigt. „Das ist die Idee!“, ruft er aus, was ihm einige schräge Blicke der anderen Gäste einbringt. „Entschuldigung? Können Sie mir noch einmal helfen?“ Davin spricht erneut den Besitzer des Restaurants an, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Nach Bezahlung eines entsprechenden Entgelts erhält Davin die Möglichkeit, am hauseigenen Gerät Ausdrucke anzufertigen. Bewaffnet mit einem Stoß Papier macht er sich auf den Weg zurück zu Thians Friseurstation.
„Da bist du ja wieder. Ich dachte schon, dass du dich abgesetzt hast.“ Trotz seiner flapsigen Worte, ist Thian die Erleichterung anzusehen.
„Warum sollte ich das denn tun? Ich würde dich niemals allein lassen“, entgegnet Davin lächelnd, bevor er ihm ins Ohr flüstert: „Ich versuche jetzt mal etwas, einverstanden?“
Etwas verdutzt nickt Thian.
„Aufgepasst, Leute.“ Mit lauter Stimme richtet sich Davin an die Studenten aus aller Welt, die sich von Thian die Haare haben schneiden lassen und jetzt irgendwo in den Außenbereichen der Bars herumstehen und etwas trinken. „Habt ihr Lust, das frühe Hanoi kennenzulernen? Wollt ihr in eine Welt eintauchen, die es so nicht mehr gibt und dabei einen leckeren Tee genießen?“ Mit einem neugierigen Lächeln lässt er seinen Blick in die Menge schweifen. „Dann habe ich genau das Richtige für euch. Das Café Nguyen ermöglicht euch beides. Kommt mit der örtlichen Bevölkerung in Kontakt, seht euch unzählige alte Aufnahmen an und trinkt einen typisch vietnamesischen Tee. Die Familie freut sich auf euren Besuch.“ Er preist das Angebot an wie ein Marktschreier und verteilt allen, die ihm interessiert zunicken, eine Karte. „Lasst euch diese Attraktion nicht entgehen.“ Mit einem gewinnenden Strahlen geht er bei allen vorbei, die auch nur annähernd wie Touristen aussehen, und drückt ihnen einen Flyer in die Hand.
„Was machst du denn?“, will Thian freudig erregt wissen, als er den Menschen zusieht, wie sie mit den Stadtplänen in der Hand losmarschieren. „Du bist verrückt.“
„Ich sorge dafür, dass ihr ein bisschen Umsatz macht. Gut, oder nicht?“
„Natürlich, das ist genial. Es gibt da nur ein Problem, weder Linh noch Dang sprechen Englisch.“
„Darum werde ich den ersten Schwall gleich persönlich hinbringen. Und du verteilst weiter fleißig Flyer an deine Kunden und sorgst damit für Nachschub.“
„Das ist ein toller Plan, das mache ich doch glatt.“ Thian widmet sich wieder seinem Kunden, beendet dessen Haarschnitt, was nur noch ein paar Handgriffe erfordert. „Ich werde rasch meine Mutter informieren, damit sie nicht überrascht sind.“
„Gut, mach das. Ich bin dann mal weg. Bis später.“
„Tschüss.“
Die Männer winken sich zu, bevor Davin losrennt, um sich vor die Touristen zu schieben und ihnen den Weg zu weisen. Ein paar Minuten später biegt er in die Straße ein, in der sich Thians Elternhaus befindet und deutet auf das Café. Sofort beginnen sich die Menschen darin auszubreiten und die Sitzplätze in Beschlag zu nehmen. Davin betritt das Lokal, begrüßt Hang und Linh, bevor er sich mit einer Übersetzungs-App erkundigt, ob sie bereits mit Thian gesprochen haben.
Als Antwort erhält er ein Nicken.
Immer mehr Studenten bevölkern das Café Nguyen, sehen sich die Bilder an den Wänden an und lassen sich Tee servieren. Davin unterstützt die Frauen beim Bewirten der Gäste, beantwortet Fragen und bittet die Studenten ihre Erfahrungen in den sozialen Netzwerken zu posten, damit viele andere auch davon profitieren können. Immer wenn ein Gast bezahlt hat, reicht Davin die Dollar- und Dongscheine sofort an Linh weiter, die als Familienoberhaupt sicherlich auch die Hoheit über die Finanzen innehat, wie Davin annimmt.
Ihr Lächeln und gelegentliche Nicken, reicht ihm als Antwort.
Im Laufe des Nachmittags ertappt er sogar Hang ab und zu dabei, wie sie ihm zulächelt, scheinbar zufrieden damit, wie der heutige Tag bislang verlaufen ist.
Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und einer prall gefüllten Tüte mit Tee-Nachschub in den Händen, betritt Thian das Café gegen 15 Uhr. „Wow, was ist denn hier los?“, will er wissen, als er sich umsieht.
„Der Laden brummt“, erwidert Davin lächelnd.
„Das sehe ich und das alles wegen ein paar Straßenkarten?“
„Das und meiner Aufforderung an alle Besucher, die Adresse eures Cafés auf ihren sozialen Medien zusammen mit ihren Erfahrungen zu teilen.“
„Du bist verrückt.“ Thian umarmt Davin und gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Doch als er den Blick seiner Mutter auffängt, lässt er von seinem Freund ab und strafft seine Schultern.
„Fertig mit dem Haare schneiden? Warst du erfolgreich?“ Davin zerspringt förmlich vor Neugierde, wie es Thian an diesem Tag ergangen ist.
Thian wedelt mit einem dicken Bündel Dollarscheine und nickt zufrieden. „Es war überwältigend. Danke, dass du uns dabei hilfst.“
„Jederzeit und heute Abend, während du unterwegs bist, kümmere ich mich um die Plakate. Die Druckerei, zu der ich gehen möchte, schließt erst um Mitternacht.“
„Wie vieles. Die Leute sind froh, wenn sie arbeiten und Geld verdienen können.“
„Überlässt du mir den Roller?“
Thian sieht ihn schief an. „Kannst du das denn überhaupt? Also hast du einen Rollerführerschein?“
„Als ob das irgendjemanden interessieren würde“, kontert Davin mit einem Zwinkern.
„Da hast du auch wieder recht.“ Thian prustet los und schüttelt den Kopf. „Natürlich, nimm ihn ruhig. Der Schlüssel liegt oben in der obersten Schublade meiner Kommode. Aber bitte, sei vorsichtig.“
„Machst du dir etwa Sorgen?“ Davin lächelt schelmisch und zwinkert Thian zu, bevor er ihn kurz umarmt und ihm einen Kuss auf die Wange drückt.
„Ein bisschen“, gibt Thian verlegen lächelnd zu, bevor er sich das T-Shirt glatt streicht und unbeholfen im Raum steht.
Davin lächelt und unterdrückt das Verlangen, Thian an sich zu ziehen, denn er weiß, dass Mutter und Großmutter ein achtsames Auge auf das Verhalten ihres Sprösslings werfen, vor allem, was Zärtlichkeiten angeht. Die Vietnamesen scheinen in diesen Dingen nicht ganz so strikt wie zum Beispiel die Japaner oder Chinesen zu sein, aber dennoch werden auch hier eher selten Gefühle, Emotionen und Berührungen in der Öffentlichkeit ausgetauscht. Diese Art von Zweisamkeit gehört in die eigenen vier Wände, in die Zeit, in der niemand zusehen kann. Diesen Wesenszug respektiert Davin, auch wenn es sich als äußerst anspruchsvoll herausstellt. Sein Plan steht: Er will der Familie beweisen, dass er sich gut um Thian kümmern wird. Egal, ob das nun in Hanoi oder in San Francisco ist. „Da fällt mir ein, dass ich noch ein paar Infos von dir brauche, damit ich das Formular fertig ausfüllen und heute ausdrucken lassen kann.“
„Okay, wollen wir uns das gleich ansehen? Ich muss in einer halben Stunde weiter.“
„Schon? Und was ist mit dem Abendessen?“
„Ich kaufe schnell unterwegs etwas an einer Garküche.“
Davin schüttelt den Kopf und wie aufs Stichwort beginnt sein Magen zu knurren, als säße darin ein hungriger Tiger.
Thian beginnt schallend zu lachen, verdreht die Augen und klopft Davin auf die Schulter. „Da hat aber jemand Kohldampf. Komm, wir setzen uns hierher.“
Davin holt seine Umhängetasche aus dem oberen Stockwerk und fischt seinen Laptop heraus. Nachdem er das Gerät aufgeklappt und hochgefahren hat, ruft er das ausgefüllte Formular auf und zeigt es Thian. Zusammen gehen sie die offenen Punkte durch und unterhalten sich darüber. Auch in Hanoi, unter anderen Menschen und umgeben von Thians Familie, spüren sie die gegenseitige Anziehung und das immer stärker werdende Band, das sie vereint.
Eine halbe Stunde später macht sich Thian auf den Weg zu seiner Rikscha, während sich Davin ins Obergeschoss zurückzieht. Der Andrang an Touristen hat abgenommen, nun sitzen hauptsächlich die altbekannten Gäste im Café, mit denen Hang und Linh wunderbar zurechtkommen. Mit dem Laptop setzt er sich auf die Couch und beginnt in seinem Layout-Programm damit, die beiden Plakate zu gestalten, die er sich für Thians Friseur-Station vorgestellt hat. Auf dem einen macht er die Leute auf Thians Hair Styling Talent aufmerksam, fügt Bilder der Warteschlange, Porträts von Thian sowie ein paar Nahaufnahmen der Frisuren ein. Dann widmet er sich dem Text. Als er damit zufrieden ist, speichert er es in allen gängigen Formaten ab und beginnt mit der Erstellung des Café-Werbeplakats. Auch hier arbeitet er mit wenig Text, vielen emotionalen Bildern und einer ansprechenden Aufmachung. Als plötzlich Bian hinter ihm auftaucht, zuckt er erschrocken zusammen. „Meine Güte hast du mich erschreckt.“
Ihr helles Lachen erfüllt das Wohnzimmer, während sie sich neben ihn auf die Couch setzt. „Entschuldige bitte, das wollte ich nicht“, entgegnet sie, als sie sich neugierig das Poster auf Davins Bildschirm ansieht. „Das ist cool. Das ist unser Café. Was hast du denn damit vor?“
„Danke dir. Ich würde die Plakate gerne bei Thians Friseur-Station aufhängen, damit ihr ein bisschen mehr Besucher bekommt.“
„Ich habe gehört, was heute los war“, sie unterbricht sich für ein paar Sekunden, bevor sie ihm die Hand auf die Schulter legt. „Danke, dass du das für uns tust. Du bist eine Bereicherung für unsere Familie, auch wenn meine Eltern das noch nicht sehen. Du tust Thian gut und ich bin froh, dass er dich gefunden hat.“
Davin lächelt sanft. „Danke, Bian, das bedeutet mir viel. Ich hoffe natürlich, dass ich auch deine Eltern noch überzeugen kann und sie mir ihre Zustimmung geben, damit Thian und ich in die USA reisen können.“
Sie seufzt und blickt aus dem Fenster in die Ferne. „Wir werden Thian vermissen.“
„Das glaube ich dir. Kommt ihr ohne ihn überhaupt durch? Ich meine von der Arbeit her, die anfällt.“
„Du hast doch unseren Cousin Bu kennengelernt, oder?“ Davin nickt. „Der stürzt sich auf jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, um Kohle zu verdienen. Also mach dir keine Sorgen.“
„Gut, dann bin ich froh.“
Als sie Hangs Stimme vernehmen, springt Bian auf. „Mist, ich habe vergessen, dass ich dich zum Abend essen holen sollte. Es sind schon alle da.“
Davin erhebt sich stöhnend. „Na super, jetzt müssen wieder alle auf mich warten. Das wird ein Theater.“
„So schlimm sind wir auch wieder nicht“, kontert Bian mit einem Zwinkern, bevor sie hintereinander die Treppe hinuntergehen.