ღ
Kapitel achtzehn
Verborgen im Schatten der unbeleuchteten Pfade schleicht sich Davin näher heran. „Thian, ich bin es, Davin.“ Dessen Kopf fährt herum. „Hier drüben bei den Bäumen“, lotst ihn Davin zu seinem Versteck. Als Thian nach so vielen Tagen endlich wieder vor ihm steht, vergisst Davin für einen kurzen Moment alles. Dankbar zieht er seinen Geliebten an sich und legt die Arme um ihn.
„Oh, Davin, ich habe dich so vermisst.“
Ein nie da gewesenes Glücksgefühl durchflutet Davin, hält jedoch nur kurz an. Als er die hervorstehenden Knochen seines Freundes ertastet, sieht er sich Thian genauer an. „Ich habe dich auch vermisst, so sehr. Aber, was haben sie dir bloß angetan?“ Mit geweiteten Augen lässt er seinen Blick über Thians Gestalt gleiten. In den Wochen, die er brauchte, um zu realisieren, dass etwas nicht stimmte und Thian schließlich fand, hat sich dessen Körper drastisch verändert. Sein Gesicht wirkt ausgemergelt, die Wangenknochen treten derart stark hervor, dass es ungesund aussieht. An Armen und Beinen hat er massiv an Muskelmasse verloren, was ihn kränklich und zerbrechlich wirken lässt.
„Es ist so schlimm hier, sie lassen mich ohne Pause arbeiten und geben mir kaum etwas zu Essen. Zum Glück bist du da. Wie hast du mich bloß gefunden?“ Selbst Thians Stimme hat Ausdruckskraft eingebüßt. Ihre Lippen vereinen sich zu einem kurzen Kuss, bevor sie sich an den Händen haltend wieder in die Augen sehen.
„Sie wollten mich nicht zu dir lassen, darum bin ich hierher geschlichen. Aber keine Angst, ich hole dich hier raus.“
Thian sieht an sich herunter, noch immer ist er splitterfasernackt und tropfnass von der Dusche. „Wie willst du das bewerkstelligen?“
„Das weiß ich noch nicht genau, aber ich verspreche dir, dass wir gemeinsam fliehen. Hörst du?“
„Aber ich will nicht länger hierbleiben. Bitte, nimm mich mit. Jetzt. Sofort.“ Thian lehnt sich an Davins Brust, drängt sich an ihn und lässt seinen Gefühlen freien Lauf.
Davin legt seine Arme um die zitternde und schluchzende Gestalt. Auch wenn es ihm beinahe das Herz zerreißt, antwortet er: „Nein, das geht heute noch nicht, mein Schatz. Ich muss zuerst einen Plan ausarbeiten, damit wir auch wirklich hier wegkommen. Ich komme nachher zurück, um dir Essen zu bringen. Hast du Kleidung?“
Thian sieht ihn mit geweiteten Augen an, bevor er nickt.
Der ängstliche Ausdruck auf seinem wunderschönen Gesicht tut Davin in der Seele weh. „Halte noch zwei Tage durch, dann komme ich und hole dich. Okay? Versprochen.“ Davin seufzt und streichelt Thian über die Wange. „Wenn wir jetzt fliehen, entdecken sie uns.“
Thian nickt. „In den ersten Tagen wollte ich mal über die Felder flüchten, doch sie haben mich gefunden und zurückgeschleppt.“ Erneut aufschluchzend drückt er sich näher an Davin. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm es hier ist.“
„Ich kann es nur erahnen, aber bitte, bleib stark und verzweifle nicht.“
Von den Behelfsbauten her, ruft jemand Thians Namen.
„Scheiße, ich muss zurück.“
„Sag mir, wo du schläfst, damit ich dich finde.“
„Sie schließen mich in der Nacht in dieser Hütte dort hinten ein, neben den Baracken.“
„Es gibt ein gekipptes Fenster, ich werde dir die Sachen reinreichen“, erwidert Davin, nachdem er sich die schäbige Unterkunft etwas genauer angesehen hat.
Thian nickt. „Danke, Davin. Und bitte: Beeil dich.“ Die erneuten Rufe des anderen Mannes lassen Thian zusammenzucken.
„Mache ich, versprochen. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“
Unwillig trennen sie sich voneinander und als sich Davin geduckt über die Felder zurück zur Straße kämpft, überschlagen sich in seinem Kopf die Gedanken.
Wie hole ich ihn hier heraus? Wie können wir unbeobachtet fliehen? Warum tut man einem Menschen so etwas an?
Fragen über Fragen, auf die es keine Antwort gibt, zumindest jetzt noch nicht. Doch eines ist sicher: Er wird Thian von hier wegbringen, koste es, was es wolle. „Und wenn ich mein Leben dafür opfern muss.“
Nachdem er sich bei einem Lebensmittelladen mit allem eingedeckt hat, was Thian brauchen könnte, kehrt er zum Hof zurück. Schon auf der Zufahrtsstraße schaltet er die Scheinwerfer seines Wagens aus, damit er unentdeckt auf dem Trampelpfad an der Grundstücksgrenze entlangfahren kann. Unbehelligt erreicht Davin den Ort, an dem er schon am frühen Abend sein Auto abgestellt hat. Zu Fuß geht er Richtung Baracken.
Mittlerweile ist auf dem Gelände Ruhe eingekehrt. Wahrscheinlich sind die Männer von der harten körperlichen Arbeit derart geschlaucht, dass sie für jede Minute Schlaf dankbar sind. Vorsichtig pirscht er sich an die kleine Hütte mit dem angelehnten Fenster. „Thian“, flüstert er und lugt durch den Spalt in das dunkle Innere. „Thian.“ Gerade als er sich Sorgen zu machen beginnt, schießt eine Hand hervor und berührt die seine.
„Hey Davin. Du bist tatsächlich zurückgekommen.“
„Natürlich, was glaubst du denn? Hier, für dich.“ Er reicht seinem Geliebten die Lebensmittel durch das Fenster. Sofort macht sich der darüber her und verschlingt das Obst, Gemüse und getrocknete Fleisch wie ein hungriges Tier seine Beute.
„Wer ist jetzt hier der Mampfi?“
Diese Frage entlockt Thian das erste Lachen seit einer unheimlich langen Zeit. „Du bist doof. Ich habe Hunger.“
„Ich mache doch nur Spaß. Genieße es und teil es dir bis morgen ein. Ich komme wieder etwa um die gleiche Zeit, um mit dir die Details meines Plans zu besprechen.“
„Okay, ist gut.“
„Ich werde mich auf den Rückweg machen, nicht, dass sie mich noch entdecken“, flüstert Davin, bevor er in Richtung Eingang deutet. „Damit ich dich aus der Hütte holen kann, muss ich mir noch schnell anschauen, wie sie die Tür verrammelt haben.“
„Brauchst du nicht, es ist eine Metallkette mit einem Vorhängeschloss.“
„Sicher?“
„Ja, nachdem ich das erste Mal ausgebrochen bin, haben sie die Tür mit einer Kette blockiert. Das Schloss ist ein normales Modell mit Stahlstift.“
„Gut, dann weiß ich Bescheid. Bis morgen. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Obwohl es Davin schwerfällt, seinen Geliebten verängstigt und allein zurückzulassen, muss er stark bleiben, um an einem Plan für eine mögliche Flucht zu feilen. So leise wie möglich huscht er durch das Umland zurück zu seinem Wagen, setzt sich hinein und fährt zurück zum Gästehaus.
ღ
Den Großteil des nächsten Morgens verbringt Davin in seinem Zimmer am Smartphone. Wie ein Wilder sucht er nach Möglichkeiten und Wegen, wie er Thian in Sicherheit bringen könnte. Die unzähligen Flussarme, die sich wie feingliedrige Äderchen durch die Landschaft graben, verhindern eine Flucht auf dem Landweg. Zu groß ist das Risiko, dass er in eine Sackgasse fährt, aus der es kein Entrinnen gäbe. Doch wohin könnte er auf dem Wasserweg gelangen? Stromabwärts ans Meer oder aber stromaufwärts? Davins Finger zieht die Karte auf seinem smarten Handy in die entsprechende Richtung bis er an einer dicken Linie anlangt.
Die Grenze zwischen Vietnam und Kambodscha.
„Das ist es!“, entfährt es ihm, als sich langsam ein Plan herauszukristallisieren beginnt. Eine Stunde später hat er diverse Informationen zu den Wasserstraßen zwischen den beiden Ländern zusammengetragen und ist bereit für den ersten und einzigen Erkundungstrip. Mit dem Mietauto fährt er los und gelangt nach kurzer Zeit an eine Fähre, die ihn über den reißenden Mekong bringt. Das kleine Boot bietet gerade genügend Platz für drei Wagen und ein paar Motorräder. Während der kurzen Fahrt über den Fluss wandern seine Gedanken immer wieder zu Thian und dessen Schicksal. Ihm ist unbegreiflich, wie Familien ihren Kindern so etwas antun können.
Zwei Stunden später erreicht er den vietnamesischen Grenzposten. Ein paar wenige Schritte führen ihn über die Grenze nach Kambodscha. Nachdem er dem Grenzbeamten die Situation geschildert und eine großzügige Summe in Aussicht gestellt hat, stimmt dieser dem Vorhaben zu. Als ihm Davin die versprochenen Scheine unauffällig zugesteckt hat, presst der Zöllner die Einreisestempel in die Pässe und reicht sie Davin freundlich lächelnd zurück. Dieser bedankt sich für die Kooperation und macht sich auf den Weg zurück ins Mekong Delta.
Gegen 22 Uhr trifft er bei der schäbigen Hütte ein, in der sie seinen Geliebten gefangen halten. „Thian, ich bin hier“, flüstert er durch das angelehnte Fenster. Als Thian auftaucht, schleicht sich ein Lächeln auf Davins Gesicht. „Du siehst besser aus. Hast du dich satt gegessen?“
„Ja, danke für die Sachen. Das habe ich wirklich gebraucht.“
„Gerne, warte mal …“ Davin reicht das heutige Essenspaket in das Innere der dunklen Hütte. „Hier kommt deine Ration für morgen.“
„Du bist genial, aber sag, wie holst du mich denn nun hier heraus?“ In Thians Stimme schwingt unverkennbare Hoffnung mit.
Davin ist bewusst, dass es sein Partner nicht mehr länger aushalten kann. „Ich fahre morgen nach Phnom Penh. Dort gebe ich das Auto zurück und miete mir ein schnelles Motorboot, mit dem ich hierher fahre, um dich zu holen.“
„Ein Motorboot? Kannst du das überhaupt fahren?“
„So schwer wird das nicht sein und ich bin sicher, dass sie mir mit Freuden eines geben werden, wenn sie die Summe sehen, die ich dafür bezahle.“
„Du hast recht, das dürfte das kleinste Problem sein. Und dann, wie weiter?“
„Dann hole ich dich und wir fahren gemeinsam nach Kambodscha und sehen von da aus weiter. Das hat erstens den Vorteil, dass wir außer Landes sind, zweitens, dass sie dich nicht bis dorthin verfolgen können und drittens, dass wir uns dort neu orientieren können.“
„Ich … ich habe doch gar keinen Pass, wir können das Land nicht …“
Davin unterbricht Thian und zeigt ihm das Dokument. „Bian war so lieb. Alles ist bereits geregelt. Die Behörden wissen Bescheid.“
„Und was ist, wenn mein Onkel und seine Söhne die Verfolgung aufnehmen? Mit diesen Kerlen ist nicht zu spaßen, die sind gefährlich und brutal. So wie ich gesehen habe, ankern ihre Boote im Fluss.“
„Dann müssen wir einfach schneller sein.“
Thian nickt und streckt seine Hände umständlich durch die Gitterstäbe, um Davins Gesicht zu berühren. „Danke, dass du das für mich machst.“
„Ach, Schatz, ich würde alles für dich tun. Es war einfach furchtbar, als du dich nicht mehr gemeldet hast. Ich war verzweifelt und am Ende.“
„Ich wollte dich doch kontaktieren, aber sie haben mir das Smartphone weggenommen und dann kam mein Onkel, um mich mitzunehmen.“
„Unvorstellbar.“
Plötzlich sind von einer der benachbarten Baracken Stimmen zu hören, was die Männer augenblicklich in Alarmbereitschaft versetzt. „Scheiße!“ Thians Verzweiflung nimmt zu.
„Keine Angst, ich komme dich holen. Morgen, um Mitternacht. Sei bereit.“
„Okay, bis dann.“
Geduckt schleicht Davin zurück zu seinem Auto. In der Ferne hört er Stimmen und sieht Taschenlampen-Lichtkegel suchend herumschwirren.
Wenn sie ihn jetzt erwischen, wäre Thian verloren.
Das will Davin unter allen Umständen verhindern. Leise, und vorsichtig geht er weiter. Als er endlich bei seinem Wagen ankommt und sich hinters Steuer setzt, entdeckt er, dass sich die Lichtkegel auf der Straße in seine Richtung bewegen.
„Scheiße. Was soll ich bloß tun?“ Kurz schießt ihm durch den Kopf, dass er die Heraneilenden einfach überfahren könnte. Doch dann verwirft er dieses Hirngespinst wieder und sucht krampfhaft nach Alternativen. Kurzentschlossen startet er den Motor und lenkt das Auto auf die Brücke zu, die für landwirtschaftliche Geräte, Motorroller und Fahrräder gedacht ist.
Ohne noch einmal darüber nachzudenken, gibt Davin Gas.
Als die Vorderreifen das Holzkonstrukt erreichen, schließt er kurz die Augen, weil er erwartet, in der nächsten Sekunde in dem sumpfigen Bach zu verschwinden. Doch die Brücke hält dem Gewicht des Mittelklassewagens stand. Erleichtert atmet er auf. Der unbefestigte Trampelpfad, der sich vor ihm zeigt, ist der einzige weiterführende Weg. Nach kurzer Orientierung fährt er los. Immer wieder wandert sein panischer Blick in den Rückspiegel, doch seine Verfolger haben die Jagd abgebrochen.
Das war knapp.
Als er im Gästehaus ankommt, brennt im Aufenthaltsraum noch Licht, während der Rest des Gebäudes im Dunkeln liegt. Davin ist sich nicht sicher, wie viele Übernachtungsgäste Lan im Moment beherbergt, dem Eindruck nach, ist er der Einzige.
Als Davin aussteigt und über den Vorplatz auf das Haus zugeht, wird ihm bewusst, dass er komplett durchgeschwitzt ist. Während der kurzen Verfolgungsjagd und der anschließenden Rückfahrt ist ihm das nicht aufgefallen. Aber jetzt, da sich sein Herzschlag beruhigt hat und er wieder normal atmet, spürt er, dass ihm das T-Shirt am Körper klebt. Leise betritt er das Gästehaus, um niemanden zu wecken. Als er am Wohnzimmer vorbei geht, wird er angesprochen.
„Guten Abend, Davin.“ Lan hat es sich mit einem Buch in einem Ohrensessel gemütlich gemacht, steht aber auf, als sie den Amerikaner entdeckt.
„Hey, Lan. Gut, dass du noch wach bist, ich habe Thian gefunden!“
„Wirklich? Hey, das freut mich riesig.“ Lan umarmt ihn kurz. „War er also doch bei der Familie Le?“
„Genau, sie halten ihn gefangen, er ist völlig abgemagert und braucht meine Hilfe. Darum möchte ich auschecken. Morgen in aller Früh fahre ich los und da wäre es gut, wenn wir das Finanzielle heute noch regeln könnten.“
Die zierliche Vietnamesin setzt sich wieder und deutet auf einen Stuhl in ihrer Nähe. „Wie hast du vor, ihn da herauszuholen?“, will sie an Davin gerichtet wissen.
„Ich habe einen Plan. Aber dafür muss ich morgen nach Phnom Penh fahren, um alles in die Wege zu leiten.“
Lan nickt wissend. „Sei einfach vorsichtig. Meine Großmutter hat mich vor der Familie gewarnt. Vor allem die Männer neigen zur Gewalttätigkeit und sind unberechenbar.“
„Das habe ich heute auch gemerkt. Keine Sorge, wenn alles gut geht, dann sind wir übermorgen um diese Zeit bereits in Sicherheit.“
Sie legt Davin die Hände auf den Unterarm und sieht ihm tief in die Augen. „Das hoffe ich für euch. Seid vorsichtig.“
„Werden wir“, bestätigt Davin, bevor sie aufstehen, um das Finanzielle zu erledigen. Nachdem er den Kreditkartenbeleg unterzeichnet hat, umarmt er Lan. „Danke deiner Großmutter bitte in meinem Namen.“
„Mache ich.“
Dann zieht sich Davin in sein Zimmer zurück, um zu duschen. Fünfzehn Minuten später liegt er in seinem Bett und starrt an die Decke. Immer wieder spielt er im Kopf seinen Plan durch, verfeinert ihn und nimmt Anpassungen vor. Wenn er ehrlich mit sich ist, dann bräuchte er mehr Zeit, um alles bis ins letzte Detail auszugestalten. Doch Thians prekäre Situation lässt diesen Luxus nicht zu.
Morgen ist es soweit!
ღ
Um 5 Uhr am nächsten Morgen springt Davin energiegeladen aus den Federn, packt seine Sachen zusammen und verlässt eine halbe Stunde später das kleine Gästehaus. Lan hat ihm ein Frühstückspaket bereitgelegt, was Davin ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Ein Blick in das Innere der Tüte verrät, dass sie an alles gedacht hat: eine kleine Portion Reis in einem Bananenblatt, Obst, Getränkeflaschen und sogar ein gekochtes Ei. Nachdem er den Zimmerschlüssel auf dem Schreibtisch deponiert hat, fährt er vom Anwesen.
Los geht’s.
Sechs Stunden dauert die kräftezehrende Fahrt in die Hauptstadt Kambodschas. Sie führt ihn vorbei an unzähligen Feldern, Plantagen, Wäldern, weiten Tälern und schließlich in die Vororte Phnom Penhs. Als Davin gegen Mittag auf den belebten Straßen der Metropole seinem Ziel entgegenfährt, wird ihm schnell klar, dass sich Vietnam und Kambodscha sehr ähnlich sind. Auch hier verstopfen hunderte von hupenden Motorrollern die Straßen und führen nicht selten zu einem kompletten Stillstand des Verkehrsflusses.
„Sie können den Wagen nicht einfach unangemeldet über die Grenze fahren und abgeben!“ Die Laune der Frau, die Davin am Autovermietungsschalter gegenübersteht, ist auf dem Nullpunkt angekommen.
„Warum denn nicht? Das ist dieselbe Firma und dafür sind Autovermietungen schließlich da. Damit man von A nach B fährt“, entgegnet Davin genervt. Natürlich hat er mit Schwierigkeiten gerechnet, aber was hätte er tun sollen? „Jetzt stellen Sie sich nicht so an, sondern fragen Ihren Vorgesetzten, wie viel es kostet.“
„Ich bin die Vorgesetzte, also frage ich niemanden. Normalerweise meldet man einen Grenzübertritt an. Wie sollen wir den Wagen jetzt zurück nach Ho-Chi-Minh-Stadt bringen? Können Sie mir das mal sagen?“
Davin schließt die Augen und zählt langsam von zehn rückwärts. Genervt schiebt er 200 Dollar über den Tresen, sieht der Frau tief in die Augen und erwidert dann: „Ich bin in großer Eile und wäre sehr dankbar, wenn Sie den Wagen nun einfach entgegennehmen und mir den Mehrbetrag von der Kreditkarte abbuchen. Denken Sie, dass das möglich wäre?“
Die Frau mustert zuerst ihn, dann die vier mehr oder weniger druckfrischen 50-Dollar-Scheine auf dem Tresen. Nachdem sie sich zweimal über die Lippen geleckt hat, nimmt sie das Geld an sich, lässt es in der Brusttasche ihres Oberteils verschwinden, und sieht Davin wieder an. „Danke, dass Sie den Wagen bei uns gemietet haben, wir wünschen Ihnen eine schöne Weiterreise und hoffen, Sie bald wieder bei uns …“
Davin verdreht die Augen und verlässt das Büro der Autovermietung noch bevor, die Frau ihren Satz beendet hat. Geld regiert die Welt. Zu Fuß macht er sich auf den Weg in das Viertel, vor dem Touristen in allen gängigen Reiseführern gewarnt werden. Eine überdurchschnittliche hohe Verbrechensrate, dunkle Gassen und viele halb verfallene Gebäude sprechen nicht gerade für dieses Gebiet in der Nähe des Mekongs. Doch für Davin stellen die dubiosen Händler, die sich hier wie Fliegen auf Kuhscheiße tummeln, eine perfekte Gelegenheit dar, um seinen Plan ein entscheidendes Stück voranzutreiben. Unbehelligt erledigt er seine Geschäfte, bevor er sich mit einem Taxi zum Hafenareal fahren lässt. Auf dem Weg dorthin kommt Davin an vielen prächtigen, goldverzierten Tempelanlagen vorbei, die ihn jedoch kaum interessieren.
Keine Zeit für Sightseeing.
Bevor er das Schnellboot, das er zuvor über ein Buchungsportal reserviert hat, übernimmt, stattet er einem Eisenwarenhandel, einem Supermarkt und einem Bekleidungsgeschäft einen Besuch ab. Etwas später als gedacht, findet sich Davin samt Koffer und neu gekaufter, gut gefüllter Sporttasche am Hafen ein, um sein neues Transportmittel in Empfang zu nehmen.
„Sie können dieses Boot nicht ohne Bootsführerschein mieten, mein Herr“, versucht ihm der Angestellte des Verleihs den Ernst der Lage klarzumachen.
Davin schüttelt innerlich den Kopf und zückt seine Brieftasche. „Ich bin sicher, dass es jemanden gibt, der mir die Funktionen des Boots aufzeigen kann, oder?“ Davin schiebt dem Mann 100 Dollar über den Tresen.
Dieser mustert die Scheine eine Weile, bevor er nickt. „Unser Risiko ist so natürlich um einiges höher als üblich. Wie erklären wir zum Beispiel der Versicherung, warum wir Ihnen das Boot vermietet haben, wenn Sie doch gar keinen Bootsführerschein besitzen?“
Davin versteht sofort und schiebt weitere 200 Dollar nach. Für den Mann dürfte das ein Jahreseinkommen sein. Zufrieden nickend, steckt er sich die Dollarnoten in die Tasche, lässt Davin die Verträge unterzeichnen und führt ihn über eine steile Treppe an das Ufer des Mekongs. Nachdem er ihm die Funktionsweise erläutert, die Durchfahrt unter Brücken erklärt und die Spezifikationen aufgezeigt hat, ist Davin bereit für die Testfahrt.
Mit zittrigen Händen startet er die zwei, mit je 250 PS ausgestatteten, Motoren des Sportboots und versucht sich langsam in den reißenden Strom gleiten zu lassen. Am Steuer sitzend und mit Blick auf die Armaturen, drückt er den Gashebel nach vorne und spürt, wie die unbändige Kraft der Motoren das Schiff durch die Wassermassen treibt. Besonders wichtig ist seinem Instruktor, dass Davin ordnungsgemäß und ohne das Boot zu beschädigen, anlegen kann. Unter normalen Umständen natürlich sinnvoll, aber Davin hat erstens nicht vor, an einem Jachthafen anzulegen, und zweitens hat er überhaupt keine Zeit für weitere Erklärungen.
Ein Blick auf die Uhr lässt ihn keuchen.
„Hören Sie, ich glaube, dass wir alles geklärt haben. Ich muss wirklich los.“
Der Mann mustert ihn kritisch, nickt jedoch. Nachdem er sich von Davin zurück an den Pier hat absetzen lassen, sieht er seinem Kunden dabei zu, wie er über den Mekong Richtung Vietnam in der Ferne verschwindet.
Die erste Stunde ist für Davin die Hölle, denn noch kann er das Boot und seine Kraft nicht einschätzen. Doch je länger er sich mit den Motoren und den Bewegungen des Boots auseinandersetzt, desto einfacher fällt ihm die Navigation. Der PS-Bolide bietet genügend Platz für sechs Personen und überzeugt vor allem durch Geschwindigkeit und Wendigkeit. Davins Blick fällt auf die in einem Laden gekaufte Sporttasche, darin liegen die Utensilien, die für den Verlauf der heutigen Rettungsaktion von zentraler Bedeutung sind.
Hoffentlich habe ich an alles gedacht.
Seinen Koffer hat er unter den Sitzen in dem dafür vorgesehenen Stauraum untergebracht, damit nichts herumliegt, das bei einer schnellen Flucht zum Hindernis werden könnte. Mittlerweile schickt die untergehende Sonne rot-orange Strahlen über das reflektierende Wasser des Mekongs und verwandelt die Szenerie in ein faszinierendes Farbenmeer. Wie gerne hätte er Thian jetzt an seiner Seite, um mit ihm diesen Anblick zu genießen. Seine Gedanken wandern zurück in die Halong Bucht, in der sie gemeinsam mehrere Sonnenuntergänge angesehen und sich ineinander verliebt haben.
„Ich hole dich zurück, Thian. Keine Angst.“
Gegen zwei Uhr morgens, zwei Stunden später als geplant, erreicht er den Ausgangspunkt für seine Rettungsaktion, den, vom Mekong abgehenden Bewässerungsgraben mit der Brücke, über die er gestern mit dem Auto gerauscht ist, ohne zu wissen, ob sie dem Gewicht standhalten würde. Vorsichtig steuert er das Boot in das langsam fließende Gewässer, wendet und richtet den Bug Richtung Fluss aus. Bei einer Verfolgung hätte er keine Zeit für ein kompliziertes Wendemanöver. Aus der Sporttasche fischt er die Pistole, die er bei einem Straßenhändler gekauft hat und die, so versicherte ihm der zwielichtige Kerl, nicht nachverfolgt werden kann. Davin ist das egal, er wird sie auf dem Grund des Mekongs versenken, sobald sie hier raus sind und höchstwahrscheinlich wird er sie nicht brauchen. Dennoch ist er gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend steckt er sich die Waffe hinten in den Hosenbund, lässt das T-Shirt darüber fallen und macht sich auf den Weg.
In seiner Hand hält er einen Bolzenschneider.
Der Mond am klaren, wolkenlosen Nachthimmel weist ihm den Weg, weshalb er darauf verzichtet, ihn mit einer Taschenlampe auszuleuchten. Zu groß ist die Gefahr, entdeckt zu werden. Aus dem Dunkel der Nacht grüßt ihn eine Eule mit ihrem unverkennbaren Ruf. Ansonsten regt sich auf dem Gelände nichts. Nachdem er sich versichert hat, dass niemand vor Thians Hütte patrouilliert, überwindet er die wenigen Meter und drückt sich an sie. „Thian, bist du da?“, will er flüsternd wissen, während er die Kette und das Vorhängeschloss genauer betrachtet. Obwohl das Teil verrostet ist, wäre eine gewaltsame Öffnung ohne das Werkzeug kaum möglich.
„Davin? Zum Glück, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wo warst du?“ Thians Stimme gleicht einem kaum hörbaren Wispern. „Bitte pass auf, seit sie dich gestern verfolgt haben, sind sie alarmiert und beobachten die Hütte.“
„Entschuldige bitte, die Fahrt hat doch länger gedauert, als gedacht. Okay, ich werde vorsichtig sein. Mach dich bereit.“ Mit einem Blick über seine Schultern Richtung Haupthaus, setzt er den Bolzenschneider an dem Vorhängeschloss an und drückt zu. Das Geräusch, das die Stahlklingen beim Durchtrennen des Bügels erzeugen, ist viel lauter, als Davin gedacht hätte. „Scheiße“, murmelt er, als bei den Arbeiterbaracken Lampen aufleuchten und Menschen auf den Vorplatz strömen. Gehetzt entfernt er die Kette, bevor er die Tür mit Wucht aufzieht. „Komm, sie haben uns gehört!“
Sich an den Händen haltend, rennen sie durch das hohe Gras in Richtung der Reisfelder und des Rettungsbootes los. Das in den Körpern der Flüchtenden ausgeschüttete Adrenalin verhindert, dass sie die haarfeinen Schnitte wahrnehmen, die ihnen messerscharfe Grashalme an den Beinen zufügen.
Auf ihrem Weg in die Freiheit kämpfen sich Davin und Thian durch ein Reisfeld, stürzen einen Abhang hinunter und treffen kurz vor Erreichen ihres Ziels auf einen ihrer Verfolger. Die in Phnom Penh gekaufte Pistole ermöglicht ihnen dennoch, an Bord des Boots zu gelangen. Davin reicht Thian die Waffe, damit er sich um ihre Flucht kümmern kann. Doch nun lassen sich die Motoren nicht starten. Ihre Jäger schwimmen bereits auf das orientierungslos auf dem Wasser treibende Schiff zu.
Nur noch ein paar Meter und alles ist verloren.
Ihre Verfolger kommen immer näher, Schaufeln und Spaten in der einen Hand, damit sie sich mit der anderen über Wasser halten können. Ihre wutentbrannten Gesichter spiegeln die Brisanz der Situation wider, während ihre Rufe das Übrige tun, um die Davin und Thian einzuschüchtern. Thian zielt noch immer mit erhobener Waffe auf die auf sie zu schwimmenden Familienangehörigen und blickt immer wieder verängstigt zu Davin. „Mach schon! Bring uns hier weg!“
Dieser schließt kurz die Augen und schickt ein Stoßgebet in den Himmel, bevor er den Schlüssel im Zündschloss erneut dreht. Nichts. Einer ihrer Angreifer hat das Boot mittlerweile erreicht, hält sich daran fest und will sich hochziehen. Beherzt stürzt Davin auf ihn zu, will ihn ins Wasser zurückzudrängen. Mit einer fließenden Bewegung stößt der Mann mit seiner Mistgabel zu.
Schmerzerfüllt schreit Davin auf.
Benommen taumelt er zurück und hält sich mit der Hand seinen blutigen Arm. Aus dem Augenwinkel nimmt er wahr, wie Thian an ihm vorbeieilt und dem Angreifer den Griff der Pistole über den Schädel zieht. Mit einem Schmerzenslaut lässt der Mann los und sinkt zurück ins Wasser.
„Versuch es noch einmal! Los!“, fordert Thian und deutet auf die Armaturen.
Davin nickt, dreht den Schlüssel erneut im Schloss und hämmert auf den Startknopf. Dieses Mal haben die Männer Glück, die Motoren erwachen brüllend zum Leben. Davin drückt den Gashebel nach vorn und reißt das Steuer herum. Die unbändige Kraft der Außenborder überträgt sich binnen Sekundenbruchteilen auf die Propeller, welche das Schiff nach vorn katapultieren. Das Momentum reißt Thian von den Füßen, die Waffe fällt scheppernd zu Boden.