1.1
Die Entstehung einer neuartigen Technologie

Das Internet und die damit in Zusammenhang stehenden Phänomene sind äußerst vielschichtig und heterogen. Auch die Geschichte des Internets kann auf ganz verschiedene Weise erzählt werden. Sie kann beispielsweise als die Geschichte des Siegeszugs der digitalen Medien, als die Geschichte von visionären Technikpionieren, als die Geschichte der Raumüberwindung oder als die Geschichte des emanzipativen Journalismus erzählt werden. Im Folgenden soll ein anderer Versuch unternommen werden. In einer ersten Annäherung an die beiden oben genannten Themen dieser Arbeit wird die Entstehung und Verbreitung des Internets auf das Verhältnis von Internet und Gesellschaft und auf die kommunizierten Inhalte bezogen. Wie Bunz (2008a: 27ff.) konstatiert, beginnt die Geschichte des Internets im Jahr 1969 damit, dass zwischen den ersten beiden Rechnern des neuen ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network) eine paketvermittelte Nachricht verschickt wurde. Das anfänglich vom Pentagon finanzierte transkontinentale ARPANET setzte auf eine Architektur gleichberechtigter Rechner, wie sie bis heute im Rahmen der Netzneutralität praktiziert wird (vgl. Hafner/Lyon 2000). An dem Projekt waren zunächst nur wenige Forscherinnen und Forscher, vor allem vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) beteiligt. Gewissermaßen zweckentfremdete Telefonleitungen verbanden ein Forschungsinstitut und drei Universitäten miteinander. Dementsprechend ging es zunächst primär um den Austausch wissenschaftlicher Inhalte, aber auch um die dezentrale Nutzung von (damals enorm kostbaren) Rechnerressourcen. Der erste Versuch, sich auf einem entfernten Rechner einzuloggen, sah dabei wie folgt aus (vgl. Gromov 2012: online):

»We set up a telephone connection between us and the guys at SRI … , Kleinrock said in an interview:

We typed the L and we asked on the phone:

›Do you see the L?‹

›Yes, we see the L‹, came the response.

We typed the O, and we asked: ›Do you see the O?‹

›Yes, we see the O.‹

Then we typed the G, and the system crashed …

Yet a revolution had begun«

Der bedeutendste Fortschritt des frühen Vorläufers des Internets bestand also in einer standardisierten Möglichkeit der raumüberspannenden Kommunikation, auch wenn sie anfangs mit einigen Problemen behaftet war. Theoretisch konnten Daten und Informationen aber über Gesellschaften und Kontinente hinweg in einem hierarchiefreien Netz ausgetauscht werden. An ein (globales) Internet im heutigen Sinne war natürlich keineswegs zu denken, auch weil in der Folge in verschiedenen europäischen Ländern eigene Datennetze entwickelt wurden und das ARPANET zunächst ein us-amerikanisches Projekt blieb. Nur wenige Unternehmen konnten sich darüber hinaus in den ersten Jahren die notwendige Technik leisten. Diese wenigen Unternehmen waren aber dahingehend hochgradig bedeutsam, als mit ihnen das frühe Internet nicht länger ein exklusives Experimentierfeld für die Wissenschaft blieb, sondern auch für die Wirtschaft zugänglich wurde. Damit wurde das Internet einerseits für einen zweiten gesellschaftlichen Bereich interessant und andererseits gewann die Internetkommunikation in direkter Folge daraus ein neues Thema, indem eben nicht nur über Belange der Wissenschaft, sondern auch über Themen der Wirtschaft kommuniziert wurde.

Wenn die Verbreitung zu Beginn auch nur sehr langsam voranschritt (1971 hatte das Netz kaum 20 Knoten), zog es Forscherinnen und Forscher schnell in seinen Bann. So wurden in den folgenden Jahren Tausende von RFCs (Request for Comments) geschrieben und diskutiert. Oft waren es Studierende, die mit diesen Dokumenten Vorschläge zur technischen Ausgestaltung des Internets machten. Dass sie dabei um Kommentare baten anstatt Standards auszurufen, hing vor allem mit der in den 1960er Jahren noch stark hierarchischen akademischen Kultur zusammen. Das fehlende Selbstvertrauen der Web-Pioniere führte aber gerade dazu, dass niemand Standards festlegte, sondern die Entwicklung des Internets diskursiv ausgehandelt werden musste. Dies war ein einmaliges Vorgehen, dessen Erfolg sich unter anderem darin zeigt, dass sich in den Grundzügen der Webarchitektur auch heute noch die frühen RFCs herauslesen lassen. Mitte der 1970er Jahre stieg die Zahl der User dann rasant, zunehmend mehr Institutionen gingen online und eine kommerziell nutzbare Version des Web (BBN Telenet) wurde angeboten.

Mit der sukzessiv steigenden Zahl an Hosts (1985 waren es bereits 5000) kam es zu einer Institutionalisierung, im Zuge derer die Grundideen verstetigt wurden: Das Motto einer der wichtigsten Institutionen, der Internet Engineering Task Force, lautete dementsprechend: »We reject: kings, presidents and voting. We believe in: rough consensus and running code.« (vgl. Grassmuck 2004: 230) Darüber hinaus erfuhr das Internet in den 1980er Jahren eine Internationalisierung. Zwar waren Nutzerinnen und Nutzer aus den USA mit deutlichem Abstand die größte Gruppe, aber auch User aus Deutschland, Kanada, Japan und anderen Ländern waren an das neue Netz angeschlossen (vgl. Mühlen 1999: 4). Dies war vor allem möglich, weil Protokolle entwickelt wurden, die es erlaubten, die verschiedenen Netze der einzelnen Länder miteinander zu verbinden. Bezogen auf das Verhältnis von Internet und Gesellschaft bedeutet diese Entwicklung eine Fusion bisher nur rudimentär (per Post oder Telefon) verbundener Welten. Die Möglichkeiten grenzüberschreitender Kommunikation üben bis heute eine große Faszination aus, wie man etwa an den gegenwärtig viel genutzten sozialen Netzwerken sieht. Eine zweite wichtige Veränderung dieser Epoche bezieht sich auf die zur Kommunikation notwendigen Computer. Der erste Commodore, ein IBM-PC und der Apple II fanden weltweite Verbreitung. Diese Geräte wurden für die private Nutzung entwickelt, sie waren erschwinglich und via Modem internetfähig. Damit erweiterte sich der Anwenderkreis des Internets binnen weniger Jahre enorm. Durch die »neuen« User änderte sich auch die Internetkommunikation: Speziell in den Foren des Usenets, das im Übrigen 1979 gegründet wurde, damit sich die User des Unix-Betriebssystems (zu dem es erstmals kein Handbuch gab) gegenseitig helfen konnten, wurde sich zu so ziemlich allem ausgetauscht, das man sich vorstellen kann. Zu jedem Thema kann (bis heute) eine Newsgroup eröffnet werden, was schließlich auch viele »private« Themen ins Internet brachte. In den 50.000 Gruppen ging es nicht selten um pornographische Inhalte oder um hitzige persönliche Diskussionen.

Der neue Informationsreichtum verlangte bereits wenig später nach einer Strukturierung, um sicherzustellen, dass Kommunikation auch weiterhin effizient und schnell realisiert werden kann. Auf dieses Bedürfnis antwortete Tim Berners-Lee (wenn auch unintendiert) mit dem von ihm entwickelten Hyperlinksystem, aus dem schließlich das WWW hervorgehen sollte. Auch wenn es zu vielen Themen bereits Informationen im Netz gab, war die Anzahl der User noch verhältnismäßig klein und unter anderem deshalb die gesellschaftliche Bedeutung des Internets verschwindend gering. Immerhin war das Telefax (zunächst als »Fernkopierer« bezeichnet) gerade dabei, die Büros zu erobern. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre beginnt allerdings eine Erfolgsgeschichte, die über die Vorstellungen der frühen Visionäre weit hinausgeht: Das WWW war geschaffen, das ARPANET ging offline und das einst wissenschaftliche Projekt wurde recht schnell privatisiert. Kommerzielle Provider (wie AOL) stellten den Zugang bereit und die ersten Werbebanner tauchten auf. Nachdem sich das Internet durch die Nutzung der Technikpioniere und Nerds als funktions- und inzwischen auch leistungsfähig erwiesen hatte, fragten sich viele, wie die neue Technologie (unter marktwirtschaftlichen Bedingungen) in den Alltag integriert werden könnte. Als 1993 der erste Browser mit grafischer Oberfläche (Mosaic) auf den Markt kam, war eine wichtige Barriere für ein breiteres Publikum gefallen. Ein zentraler Vorteil des WWW bestand in der Möglichkeit, komplexere Informationen über die technischen Spezifika einzelner Rechner hinweg austauschen zu können (vgl. Kirpal/Vogel 2006: 142). Bis zur Jahrtausendwende ist die Anzahl der Hosts auf 100 Millionen angestiegen und das Internet hatte, schneller als jedes Medium zuvor, nahezu die ganze Welt erobert. Die Hosts waren auch notwendig, da die neuen User zusätzliche Dienste in Anspruch nahmen und deutlich mehr Daten versendeten und empfingen als in den Jahren zuvor. Der Übergang von textbasierter Eingabe zu graphischen Oberflächen des Internets führte zudem dazu, dass sich die Zusammensetzung der User nochmals änderte. Waren es zunächst Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dann Akteure der Wirtschaft, dann Technikpioniere (die sich die ersten PCs leisten konnten), konnte inzwischen jeder das Internet nutzen. Ab 1994 entstanden überall Internetcafés, viele Schulen bekamen »Computerkabinette« und Bibliotheken richteten (aus heutiger Perspektive: ironischerweise) sehr früh Internetarbeitsplätze ein. Damit gewann das Internet auch außerhalb der Hackerszene an Bedeutung. Es wurde in allen Feldern der Gesellschaft ein Thema und alle gesellschaftlichen Bereiche (Politik, Religion, Kunst, Erziehung und viele mehr) wurden ein Thema der Internetkommunikation.

Die Zahl der User stieg nicht allein aufgrund des günstigeren und einfacheren Zugangs. Vielmehr wuchs die Zahl, Qualität und Diversität der Webangebote sowohl in inhaltlicher als auch in medialer Hinsicht. Aufbauend auf dem WWW wurden zunehmend mehr Anwendungen entwickelt, die über den Browser ansteuerbar sind. Dazu zählen E-Mail-Dienste, Auktionsplattformen, Bildergalerien, Chats, Foren, Bestell-Shops, Wissenssammlungen und bald auch Suchmaschinen. In den 1990er Jahren explodiert die Informationsvielfalt des Internets geradezu. Täglich tauchten neue Angebote auf. Privatpersonen, Unternehmen, ein Großteil staatlicher Institutionen und Organisationen der »alten« Medienbranche drängten ins Netz. Einige verschliefen den Start, andere hingegen waren wagemutig und sicherten sich früh eine gute Ausgangsposition. Gleichwohl war keineswegs klar, worin genau der Wert eines solchen Engagements liegen könnte. Die Bedeutung des Internets zeigte und entwickelte sich erst nach und nach.

Die häufig als erste Zäsur des Internetwachstums bezeichnete Dotcom-Blase im Jahr 2000 ist ein gutes Beispiel für die Verknüpfung von »Real Life« und Internetaktivitäten. Im Zuge der allgemeinen Interneteuphorie entstanden immer neue Geschäftsmodelle, die ein gewisses Startkapital für ihre Etablierung in der Netzökonomie benötigten. Neben nachhaltig erfolgreichen Modellen wie eBay oder Amazon stellten sich viele Unternehmungen als nicht zukunftsfähig heraus. Unglücklicherweise wurden einige dieser jungen Firmen an der Börse stark überzeichnet und hatten hohe Beträge an Fremdkapital erhalten. Es folgte ein Reinigungsprozess, der viele einstige Hoffnungsträger in die Insolvenz trieb. Für das Internet war dieses Scheitern allerdings keine große Sache, für die Anlegerinnen und Anleger schon. Nach der Enttäuschung machte sich eine Ernüchterung breit, die IT-Unternehmen in der Folge einen schweren Stand verschaffen sollte. Es wurde die Erkenntnis gewonnen, dass nicht jede ökonomische Aktivität, die das Internet nutzt, eine Erfolgsgeschichte garantiert. Dem Boom jenseits des Risikokapitals tat die geplatzte Blase allerdings keinen Abbruch.

Das vorerst letzte Kapitel dieser kurzen Geschichte des Internets umfasst Neuerungen, die unter dem Begriff »Web 2.0« subsumiert werden können. Das Web 2.0 bezieht seine Rechtfertigung als eine »neue« Version des Internets aus der Verbreitung von verhältnismäßig vielen neuen Anwendungen innerhalb kurzer Zeit. Dazu gehören Weblogs, verschiedenste Plattformen (etwa für Videos, Bilder, Rezepte oder Produkte), soziale Netzwerke, Wikis, Linksammlungen oder Podcasts. Gemeinsam ist diesen Medien, dass sie als »sozial« angesehen werden. Die Annahme der Gemeinschaftlichkeit resultiert aus verstärkten Interaktionsmöglichkeiten: Menschen können sich vernetzen, die Aktivitäten der anderen verfolgen, bestimmte Inhalte teilen oder gemeinsam spielen. Wie man an YouTube oder Facebook gegenwärtig sieht, wird das auch massenhaft praktiziert. Darüber hinaus ist es zunehmend einfacher geworden, Inhalte in das Netz »einzuspeisen«. War für das Betreiben einer Homepage bislang Spezialwissen notwendig, kann ein Blog ohne Vorwissen und binnen von Minuten erstellt werden. Damit wird jeder User potenziell zur Autorin, zum Journalisten oder zur Kritikerin, wodurch die frühen Web-Ideale eine konsequente Fortführung erfahren. In Kombination mit einer weiterhin schnell anwachsenden Zahl an Usern ergeben sich bemerkenswerte Netzwerkeffekte. So werden beispielsweise auf großen Videoplattformen pro Minute über 50 Stunden Filmmaterial hochgeladen und pro Tag werden vier Milliarden Videos geschaut (vgl. Kim 2012: online). Wie die Web 2.0-Anwendungen demonstrieren, findet nicht nur ein stetiges Wachstum in quantitativer Hinsicht statt, sondern es werden immer wieder neue Möglichkeiten, Strukturen und vor allem auch Rekombinationen von Bestehendem (sogenannte Mash-Ups) geschaffen. Dabei findet sich inzwischen im Internet eine Entsprechung fast aller bisherigen Medien: Es kann telefoniert werden, es sind Texte, Videos, Bilder und Audios verfügbar. Durch diese Möglichkeiten stellt sich dann für jede Information die Frage, ob sie auf dem klassischen Weg oder via Internet verbreitet werden sollte. Für viele Bereiche scheint die zweite Variante attraktiver, wie beispielsweise der Rückgang des Briefaufkommens seit Bestehen der E-Mail zeigt.

Diese Art, die Geschichte des Internets zu erzählen, offeriert bereits verschiedene soziologische Anschlussfragen: Warum beispielsweise ist die Internetkommunikation so attraktiv und erfolgreich, wie unterscheidet sie sich von anderen Medien? Sind Kommunikationen aller gesellschaftlichen Bereiche gleichermaßen im Internet »vertreten« oder liegt der Entwicklung eine Selektivität zugrunde? Schließlich muss gefragt werden, welcher Zusammenhang zwischen der Beeinflussung der Gesellschaft durch das Internet und dem Gegenprozess besteht. Vor allem am letzten Punkt, den man als »Prägung« des Internets durch die Gesellschaft umschreiben könnte, setzt die vorliegende Arbeit an, indem es darum geht, für die Vielfältigkeit und Wandelbarkeit der Internetkommunikation eine theoretische Entsprechung zu finden. Das primäre Ziel ist also nicht die historische Rekonstruktion, sondern die Erarbeitung eines theoretischen Analyserahmens, der sowohl das Internet als Ganzes als auch die Einzelphänomene in den Blick nehmen kann.